Aus DER RABE RALF Februar/März 2022, Seite 15
Anmerkungen zum „Zukunftsmenü“ des Berliner Ernährungsrates
Das Buch des Berliner Ernährungsrats ist eine überaus anregende Lektüre: Berlin sei – so die Autorinnen – heute ein Hotspot der bereits vor sich gehenden Ernährungswende. Es ist gut möglich, dass es nirgends sonst in Europa eine so große Dichte von Bioläden, Gemüse- und Ökomärkten, Bauern- und Gemeinschaftsgärten und andere Initiativen der solidarischen Landwirtschaft gibt. Berlin war eine der ersten Städte, die 2015 das Mailänder Abkommen unterzeichneten, mit dem sich Städte weltweit zur Umstellung auf nachhaltige Ernährungssysteme verpflichten – indem sie sozial gerechte Versorgungssysteme fördern, den Abfall minimieren, die Biodiversität bewahren und weiterem Klimawandel entgegenwirken. Wobei die Kommunen alle Beteiligten und Interessierten einbinden wollen, Behörden genauso wie Zivilgesellschaft und Kleinerzeuger.
Das ist nötig, denn rings um Berlin herrscht heute eine den Klimawandel befördernde Agrarödnis, die Treibstoff produziert statt Gemüse, die Böden austrocknet und die Tierwelt samt Insekten ebenso vertreibt wie die übrige Biodiversität – und sogar die raren Wolken. Leider war in Brandenburg lange eine Politik vorherrschend, die keinerlei Verständnis für eine arbeitsplatzerhaltende Versorgung der Städte mit regionalen oder ökologischen Produkten hatte. Und das, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung regionale Produkte bevorzugt – neueren Umfragen zufolge sind es sogar 83 Prozent.
Regionalität war Realität
Diese regionale Versorgung war vor 150 Jahren noch Realität. Um 1870 ernährten Brandenburger Kartoffelbauern mitsamt ihrem Milchvieh die wachsenden Städte, darunter Berlin. Aber auch in Berlin selbst wurden bis in die 1920er Jahre Milchkühe gehalten. Auf den Gütern und Höfen am Stadtrand wurde systematisch Gemüse für die Berliner Märkte und Großmärkte angebaut. „Appelkähne“, Eisenbahnen und Pferdefuhrwerke brachten das Geerntete sowie Milch, Butter und Quark täglich frisch in die Stadt.
Allerdings prägten Klassenunterschiede die Verzehrgewohnheiten. Das Angebot der „Kolonialwarenläden“ wie Zucker, Kaffee, Kakao, Tee, Zimt und Kardamom war vornehmlich den Besserverdienenden vorbehalten, ähnlich wie auch der Sonntagsbraten. Die Armen mussten sich mit Kartoffeln begnügen, berichten die Autorinnen im Buch. Sie vergessen jedoch „Kraut und Rüben“ zu erwähnen, vor allem Kohl und Steckrüben, die samt Erbsen, Linsen und Bohnen zu Kartoffeln, Grieß und Graupen einen Gutteil der Arbeiterschaft, soweit nicht erwerbslos, mit Vitaminen und Eiweißen versorgten. Es handelte sich um Pflanzennahrung aus Brandenburg: Von der Ackerbohne bis zum Weißkraut inklusive Hirse, Leinöl, Roggen oder Schmorgurke war das meiste noch „homegrown“.
Gnadenlose Konzentration
Bereits kurz vor sowie während der Weltkriege und ganz besonders in den letzten 30 Jahren vollzog sich in Berlin wie überall auf der Welt eine gnadenlose Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel, die zu gigantischen Supermärkten führte. Hierzulande sind sie heute im Wesentlichen in den Händen von vier Konzernen (Aldi, Lidl, Edeka, Rewe). Die Zulieferer und die gesamte Landwirtschaft wurden diesen Strukturen gnadenlos angepasst, sodass wir heute ein Ernährungssystem haben, das quasi garantiert, dass eine Fertigpizza vom Discounter aus Lebensmitteln von fünf Kontinenten zusammengesetzt ist. Folge der verfehlten Finanzpolitik der letzten 20 Jahre sind nicht nur die hohen Wohnungspreise, die wenig Verdienenden kaum noch Geld für Lebensmittel lassen, sondern auch der rasante Anstieg von Bodenpreisen auf mehr als das Dreifache, was heutigen Junglandwirten den Kauf von Land schier verunmöglicht.
Dieses System beliefert die Berliner zwar jederzeit mit frischen Lebensmitteln in Hülle und Fülle, führt aber auch zu einer CO₂-Bilanz jenseits von Gut und Böse, da in jedem Lebensmittel viele, viele Kilometer Lkw-Fahrt stecken und die Großstrukturen zu einem systematischen Vernichten von übrig gebliebenen Lebensmitteln führen. Damit nicht genug, führen die vielen Fertiglebensmittel, die in den Supermärkten angeboten werden, zu lauter neuen ernährungsbedingten Krankheiten wie Fettleibigkeit und Diabetes, Darmkrankheiten und anderen Stoffwechselkrankheiten.
Projekte und Initiativen zeigen, was alles geht
Eine Wende ist angesagt, und so erforschten in jüngster Zeit diverse Berliner Universitäten und Institute die Möglichkeiten einer klimakompatiblen Ernährungsweise. Die von der Bundesregierung einberufene Kommission zur Zukunft der Landwirtschaft forderte einen grundlegenden Wandel und das Ende einer Wirtschaftsweise, die „weder ökologisch noch ökonomisch und sozial zukunftsfähig“ sei.
Laut dem Agrarforschungszentrum ZALF in Müncheberg könnten mehr als 27 Prozent der in Berlin verspeisten Erbsen und Bohnen, 21 Prozent der Äpfel und Birnen und sechs Prozent der Tomaten aus Brandenburg kommen. Statt überall Mais anzubauen, müsse die Landwirtschaft kleinräumiger und vielfältiger werden. Zahlreiche Biobauern-Initiativen in Brandenburg haben auch bereits gezeigt, dass das geht, wobei im Buch vor allem die bekanntesten erwähnt werden, etwa die Ökodorf Brodowin GmbH mit ihren vielen Arbeitsplätzen.
Allerdings werden auch vielversprechende neue Ansätze vorgestellt, wie die Forstäcker am Rande des Spreewalds, die Waldäcker von Schmerwitz im Fläming oder der Agroforstsystem-Versuch im Löwenberger Land nördlich von Oranienburg. Außerdem gibt es in Brandenburg Initiativen, die versuchen Geld zu sammeln, um Land für die Biolandwirtschaft zu erwerben, wie die Regionalwert AG oder die Initiative „Ackercrowd“, die Bäume pflanzt, um die Bodenfruchtbarkeit zu fördern. Es gibt erfolgreiche „Solidarische Landwirtschaften“ und „Tiny Farms“, wo Teilzeitbauern Gemüse für Berliner Schüler anbauen. Um zu helfen, entstehen neue „Schnittstellen“ für die nachhaltige Lebensmittelvermarktung und „Food-Coops“ nach New Yorker Modell etwa im Wedding.
Vor allem aber, so sehen es die Autorinnen, hätten die heute bald 100 Gemeinschaftsgärten in Berlin zu einem neuen Umgang mit Gemüse beigetragen. Interkulturelle Gärten halfen Flüchtlingen, in der Fremde anzukommen, und machten senkrechtstartende Prinzessinnengärten zu Lieblingen der Presse. Engagierte „Ackerdemien“ diverser Art sowie die alteingesessenen Gartenarbeitsschulen bringen Schulkindern das Gärtnern nahe und damit auch das Nachdenken und das Erfahren des Geschmacks von frisch Geerntetem.
Dem Elend des Vernichtens unverdorbener Lebensmittel stellen sich Initiativen wie die Berliner Tafel entgegen, die Übriggebliebenes von Supermärkten, Restaurants und Events einsammelt, um es an Bedürftige oder soziale Einrichtungen zu verteilen. Wie in Nordamerika sind es an den Ausgabestellen auch immer mehr Einkommensarme, die – wahrscheinlich wegen zu hoher Mieten und unterbrochener Erwerbsarbeitszeiten –, auf die Ergänzung ihres allmonatlichen Warenkorbs durch die Tafeln angewiesen sind.
Weiterforschen!
Beeindruckend ist, dass das Buch sich nicht scheut, auch die weniger appetitlichen Seiten des Ernährungskreislaufs anzusprechen. So ist es ressourcenökonomisch unklug, Phosphor und Nitrat, die für einen gedeihlichen Gemüseanbau notwendig sind, mit unseren Fäkalien ins Abwasser zu entlassen, ohne sie wieder aufzufangen. Früher hat man das auf den Berliner Rieselfeldern gemacht. Weil dort aber auch Industrieabwässer mit ihren giftigen Resten und der Reifenabrieb der Straßen landen, beendete man das in den 1990er Jahren: zu viele Schwermetalle. Eine Kläranlage mit Phosphor-Recycling gibt es in Berlin bisher nur in Waßmannsdorf.
Mutmachend ist der Blick nach Paris, wo die neue Bürgermeisterin in nur wenigen Jahren eine – allerdings schon seit 2003 darauf vorbereitete – Stadtverwaltung dazu bewegen konnte, auf Dächern, entlang von Hauswänden, auf allen möglichen Brachen und wo es sonst irgend geht Gemüse anbauen zu lassen und dem Klimawandel mit Begrünung entgegenzutreten.
Im Anhang befinden sich die entsprechenden Literaturverzeichnisse. Man kann also weiterforschen.
Elisabeth Meyer-Renschhausen
Annette Jensen u.a.:
Berlin isst anders
Ein Zukunftsmenü für Berlin und Brandenburg
Neopubli, Berlin 2021
224 Seiten, 20,30 Euro
ISBN 978-3-7541-5310-9
Kostenloser Download: www.ernaehrungsrat-berlin.de/berlin-isst-anders