Europa mauert sich ein

Aus DER RABE RALF April/Mai 2021, Seite 6

Was an den europäischen Außengrenzen passiert, geht uns alle etwas an

Rettungsaktion im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien. (Foto: Tim Lüddemann/​Flickr, CC BY-NC-SA 2.0)

Ein Schiff der europäischen Grenzschutzagentur Frontex schiebt sich vor ein überfülltes Schlauchboot. Doch statt die Flüchtenden zu retten, fährt das Frontex-Schiff mit hoher Geschwindigkeit nah an dem Boot vorbei und erzeugt dabei starke Wellen. Bilder von dem Vorfall vor der griechischen Insel Lesbos, die unter anderem von „Report Mainz“ und dem „Spiegel“ veröffentlicht wurden, gingen im Herbst vergangenen Jahres durch die internationalen Medien. Das meist gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtenden, wie es auf verschiedenen Videos zu sehen ist, wird als „Pushback“ (Zurückdrängen) bezeichnet.

Videomaterial, das ähnliche schreckliche Szenen zeigt, erscheint immer wieder im Internet und bestätigt die Aussagen von Geflüchteten, die von anhaltender Gewalt an den EU-Grenzen und auch in den Flüchtlingslagern berichten. Der EU-Agentur Frontex wird schon seit Jahren vorgeworfen, über die illegalen Pushbacks Bescheid zu wissen, die Aufnahmen von Lesbos erwecken sogar den Anschein, die Grenzschutzagentur sei aktiv daran beteiligt gewesen.

Gemeinsamer Schutz der EU-Außengrenzen

Die „Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache“, kurz Frontex, wurde 2004 mit dem Ziel gegründet, die Grenzstaaten der EU beim Schutz der Außengrenzen zu unterstützen und die europäische Zusammenarbeit zu stärken. Der Abbau der innereuropäischen Grenzen durch das Schengener Abkommen machte den Schutz der Außengrenzen zum gemeinsamen europäischen Anliegen. Die Grenzstaaten sind beim Schutz der Grenzen auf die Unterstützung aller Mitgliedsstaaten angewiesen, die dafür zum Beispiel Personal, Schiffe oder Hubschrauber zur Verfügung stellen.

Frontex war ursprünglich nur für die Organisation, Koordination und Finanzierung der Einsätze zuständig. Allerdings ist die Agentur in den letzten Jahren über die eigentlichen Zuständigkeiten hinausgewachsen. Denn bei jeder Migrationskrise einigten sich die EU-Staaten auf die bequemste aller Lösungen: mehr Geld, mehr Personal und mehr Kompetenzen für Frontex. So übertrugen sie immer mehr Verantwortung auf die Agentur, die dadurch immer aktiver am Grenzschutz beteiligt war – und nun augenscheinlich auch an den Pushbacks.

Verstoß gegen internationales Recht

Im Jahr 2012 stufte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Methode, Flüchtende unter Einsatz von Gewalt in Drittstaaten zurückzubringen, als menschenrechtswidrig ein und erklärte die entsprechende Frontex-Einsatzvorschrift für nichtig. Dennoch bestätigte der ehemalige Frontex-Direktor Ilkka Laitinen ein Jahr später, dass die Pushback-Aktionen auch nach dem Urteil noch durchgeführt wurden. Den Aufnahmen zufolge geschieht das bis heute. Bei den Pushbacks werden aber nicht nur die Menschenrechte verletzt, es wird auch gegen das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, das international geltende Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen.

Jede Schiffsbesatzung ist laut dem Seerechtsübereinkommen verpflichtet, alle Personen, die auf See in Lebensgefahr angetroffen werden, zu retten oder ihnen so schnell wie möglich zur Hilfe zu eilen, wenn sie von dem Notfall Kenntnis erhält. Was dann mit den Geretteten passiert, ist in dem UN-Übereinkommen nicht geregelt. Denn grundsätzlich hat jeder Staat das Recht, einem Schiff die Einfahrt in den Hafen zu verweigern. Zwar ist die Regierung des Staates, auf dessen Gebiet die Schiffbrüchigen gerettet wurden, dafür verantwortlich, sie an einen „sicheren Ort“ zu bringen – eine Verpflichtung, die Geretteten aufzunehmen, ergibt sich daraus allerdings nicht. Im Zweifelsfall ist so ein „sicherer Ort“ dann auch einfach das Transitland, aus dem die Geflüchteten gerade kommen.

Flüchtlingsabkommen umgeht UN-Konvention

Am Beispiel des EU-Landes Griechenland wäre das die Türkei. Um die Fluchtbewegungen über die Türkei in die Europäische Union zu reduzieren, schloss die EU im März 2016 ein Flüchtlingsabkommen mit dem Land ab. Vereinbart wurden unter anderem strengere Kontrollen der europäischen Grenzen und vereinfachte Abschiebungen zurück in die Türkei. Im Gegenzug nimmt die EU für jeden abgeschobenen Flüchtling einen syrischen Flüchtling aus der Türkei auf und zahlt Hilfen in Millionenhöhe.

Der Deal kommt vor allem Griechenland entgegen, wo es schon seit Jahren kein funktionierendes Asylsystem mehr gibt. Durch das Flüchtlingsabkommen wird die Türkei als „sicheres Herkunftsland“ definiert, und das ermöglicht dem Grenzstaat, die Genfer Flüchtlingskonvention zu umgehen, die Geflüchteten unter anderem das Recht auf ein faires und schnelles Asylverfahren garantiert und sie vor der Abschiebung in ein Land schützt, in dem ihnen Verfolgung, Folter oder eine andere unmenschliche Behandlung drohen. In der Türkei gilt die Konvention für die meisten Schutzsuchenden allerdings nicht: Lediglich europäische Flüchtlinge könnten sich darauf berufen – ein eher seltener Fall. Die meisten der Menschen, die nach Griechenland flüchten und dann in die Türkei abgeschoben werden, werden von dort aus ohne Asylverfahren zurück in ihre Herkunftsländer gebracht.

Es fehlt an Kontrolle und Transparenz

Gegen die illegalen Pushbacks und Abschiebungen können sich Betroffene kaum wehren. Zwar könnten sie juristisch dagegen vorgehen, allerdings haben die meisten andere Sorgen und im Zweifel weder die Kenntnisse noch die Mittel, um entsprechende Verfahren anzustrengen. Vor allem in den Transitländern wie Marokko oder der Türkei sind Flüchtende faktisch rechtlos. Außerdem ist es schwer, der nationalen Grenzpolizei oder Frontex die Verstöße nachzuweisen, denn es mangelt an Kontrolle und Transparenz. Das Europäische Parlament kann Frontex zum Beispiel nur indirekt kontrollieren, indem es der Behörde mehr oder weniger Mittel bewilligt.

Dass die Fluchtbewegung in die EU in absehbarer Zukunft abnehmen wird, ist sehr unwahrscheinlich in Zeiten von weltweiter Ungleichheit, unfairen Handelsbeziehungen, Kriegen, Umwelt- und Klimakrise. Umso wichtiger ist es, auf die Zustände an den Grenzen aufmerksam zu machen und sich für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen, denn kein Pushback ist legal – und kein Mensch ist illegal!

Lenja Vogt

Weitere Informationen: www.sea-watch.org

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