Genossenschaften

Aus DER RABE RALF Juni/Juli 2023, Seite 7

Warum eine Idee aus dem 19. Jahrhundert nach wie vor aktuell ist

Gedenktafel aus Metall mit der Aufschrift: Arbeiter-Baugenossenschaft Paradies, gegründet Mai 1902.
Gedenktafel in Berlin-Bohnsdorf. (Foto: OTFW/​Wikimedia Commons)

Kapitalismus ist wie ein Krebsgeschwür, dessen Wachstum nicht aufzuhalten ist, oder wie es die amerikanische Philosophin Nancy Fraser in ihrem neuesten Buch „Der Allesfresser“ ausdrückt, ein kannibalistisches System, das seine eigenen Grundlagen untergräbt. Was tun?

Raus aus dem Verwertungszwang

In der sogenannten Revisionismusdebatte der Sozialdemokratie des ausgehenden 19. Jahrhunderts standen sich vermeintlich „Revolution“ (August Bebel) und Reform (Eduard Bernstein) gegenüber. Bebel setzte auf den großen „Kladderadatsch“, den Zusammenbruch des Kapitalismus nach einem Weltkrieg. So sollte es dann auch zumindest in Russland kommen. Bernstein setzte auf Reformen, die den Kapitalismus eindämmen und transformieren sollten.

Ist man kein Anhänger einer putschistischen Revolution durch eine Minderheit (wie der Bolschewiki) zur Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“, wird man auf das mühsame Gewinnen gesellschaftlicher und kulturell wirksamer Mehrheiten setzen, um die Profitlogik und den inneren Wachstumszwang des Kapitalismus zu brechen, der so wenig mit den natürlichen Begrenzungen des Lebens in Einklang zu bringen ist. Zum Gewinnen einer „kulturellen Hegemonie“ (Antonio Gramsci, André Gorz) ist es offensichtlich entscheidend, immer mehr Bereiche einer Gesellschaft dem kapitalistischen Verwertungszwang zu entziehen. Ein gutes Instrument dazu sind – neben kommunaler Daseinsvorsorge in Bereichen wie Verkehr, Energie, Gesundheit oder Bildung – Genossenschaften von Produzentinnen und Verbrauchern.

Privatisierung als Demokratiezerstörung

Interessanterweise hielt Eduard Bernstein von Genossenschaften wenig, weil er an der Selbstorganisationsfähigkeit der Arbeiterbewegung zweifelte, August Bebel aber sehr viel. Nicht umsonst haben die extremen Neoliberalen in den vergangenen Jahrzehnten, von Ronald Reagan bis Margaret Thatcher, auf eine vollständige Privatisierung und Kommerzialisierung aller öffentlichen Güter gesetzt. Das war zugleich ein Programm zur Zerschlagung der Demokratie. Vielen wurde wohl erst mit der Finanzkrise und der Corona-Pandemie klar, dass es öffentliche Aufgaben gibt, die besser nicht privatisiert werden sollten.

Kommunale Betriebe und Genossenschaften unterliegen weit weniger einem Wachstumszwang als profitorientierte Unternehmen. Denn sie dienen ihren Mitgliedern zur Bedürfnisbefriedigung und klinken sich tendenziell aus dem Kreislauf des „Geld heckenden Geldes“ (Karl Marx) aus, das nach immer neuen Anlagemöglichkeiten auf immer höherer Stufe sucht. Das hat in Zeiten des Klimawandels eine Bedeutung, die über das Fortbestehen der Menschheit als Gattung entscheiden könnte.

Selbsthilfe und Selbstverwaltung

Die Arbeiterbewegung war immer eng verbunden mit genossenschaftlichen Ansätzen. So gründeten sich die Naturfreunde 1895 nach den drei Grundsätzen aller Genossenschaften: Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung. Sie spiegelten sich im Naturfreundehäuser-Netzwerk wider und materialisierten sich in den Einkaufs- und Konsumgenossenschaften des demokratisch verfassten Verbandes.

Auch Bebel war ein Verfechter dieses Konzepts, das er in seinem Buch „Die Frau und der Sozialismus“ ausbuchstabierte, dem meistgelesenen Werk in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Volksküchen, Wäschereien und genossenschaftliche Energieversorgung schwebten ihm vor. Ebenfalls 1895 gründete der Anarchist Gustav Landauer die Konsumgenossenschaft „Die Befreiung“, die mehrere Läden in Berlin unterhielt. Für Landauer war sie ein „Lehrstück des praktischen Sozialismus“ (Rabe Ralf Februar 2018, S. 10).

Von den Nazis zerschlagen

Bis zur Zerschlagung durch die Nazis 1933 war ein großer Teil des Alltagslebens der Arbeiterschaft genossenschaftlich organisiert – von der Wohnung über den Konsumverein bis zum Naturfreundehaus. 1931 gab es in Berlin keine einzige Brotfabrik, die nicht Konsumgenossenschaften gehört hätte. 30 bis 40 Prozent der Haushalte waren in Konsumgenossenschaften organisiert. Eine der ältesten Genossenschaften ist die heute noch existierende Sparda-Bank der Eisenbahner, gegründet 1896. Die Namen der Konsumvereine waren Programm: „Vorwärts“, „Neue Gesellschaft“, „Einigkeit“, „Eintracht“, „Solidarität“.

Mehrstöckiger sanierter Plattenbau mit der Aufschrift: Wohnungsgenossenschaft Friedenshort.
Wohnungsgenossenschaft im heutigen Berlin-Marzahn. (Foto: Singlespeedfahrer/​Wikimedia Commons)

Die ebenfalls 1895 gegründete Baugenossenschaft „Freie Scholle“ zu Berlin e.G. ist eine der ältesten ihrer Art. Im Bauverein Schweinfurt e.G., gegründet 1917, war man selbstverständlich Mitglied der USPD oder SPD, im Metallarbeiterverband (heute IG Metall), bei den Freidenkern, den Naturfreunden oder dem Arbeiterradfahrerbund „Solidarität“. Diese Baugenossenschaften wurden 1933 von den Nazis „gleichgeschaltet“, also unter Nazi-Führung gestellt.

Anders arbeiten, anders leben

Die Sozialdemokratin Lily Braun forderte 1902 eine Zentralküche für jeweils 50 bis 60 Wohnungen als Haushaltsgenossenschaft: „Mit der Befreiung von der doppelten Arbeitslast und der außerhäuslichen Erwerbsarbeit würde einer der wichtigsten Teile der Frauenfrage ihrer Lösung entgegengeführt werden.“ Auch heute stellt sich die Frage, ob Genossenschaften „befreite Inseln im Kapitalismus“ schaffen können. Anders arbeiten, anders leben, das sind wichtige Impulse für alle Emanzipationsbewegungen. Baugenossenschaften für Gemeinschaftshäuser, Frauengenossenschaften, Energiegenossenschaften, Formen der solidarischen Landwirtschaft, Sozial- und Kulturgenossenschaften bis hin zu Zeitungsgenossenschaften (Taz, Junge Welt, Jungle World) bilden vor Ort oft Freiräume für Alternativen zum Kapitalismus und seinen Wachstumszwängen. „Buen vivir“ oder „Degrowth“ lassen sich genossenschaftlich leichter leben. Zugleich gibt es heute auch erstarrte Formen der Genossenschaften wie etwa die Volksbanken, die die Möglichkeiten der Mitwirkung ihrer Mitglieder weitgehend ausgehebelt haben, aber immer noch besser sind als Deutsche Bank und Co.

Wie es auch betrachtet werden mag, Genossenschaften können die Macht von privatem Kapital mit seiner ständigen Verwertungsoptimierung zumindest einschränken. Das wäre doch schon mal ein Anfang.

Hans-Gerd Marian

Zum Weiterlesen:
Gisela Notz: Genossenschaften, Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2021
Giorgos Kallis u.a.: Gegen Wachstum! Degrowth: Argumente & Strategien, Mandelbaum Verlag, Wien/Berlin 2022

Zuerst erschienen in der Zeitschrift „NaturfreundIn“

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