Mob statt Mobilitätswende

Aus DER RABE RALF Dezember 2023 / Januar 2024, Seite 12

Super-Fahrradstraße in Gießen: Im Sommer eingerichtet, jetzt wieder abgerissen

Grotesker Alltag auf der Noch-Fahrradstraße: Autos fahren verbotswidrig in die Fahrradspur oder sogar auf den Gehweg. Foto: Projektwerkstatt

„Das ist die schönste Fahrradstraße, die ich je gesehen habe“, freute sich eine – ansonsten ja eher Rad-verwöhnte – Kopenhagenerin, als sie die neu geschaffene Fahrradstraße auf dem Gießener Anlagenring bewunderte. Zudem erfuhr sie, dass die Fahrradstraße durch vielfältige Aktionen und einen Bürger*innenantrag von engagierten Menschen in der mittelhessischen Stadt durchgesetzt wurde. Das machte den Fahrradhighway noch besonderer.

Breite Unterstützung für Verkehrswende von unten

Denn Ende 2018 präsentierten Verkehrswende-Aktive einen kompletten Plan für die Umgestaltung der Stadt – hin zu einer Mobilität zu Fuß, per Fahrrad und mit einer wieder zu errichtenden Straßenbahn. Die sollte nicht nur auf neuen Gleisen in der Stadt, sondern auf den bestehenden und zwei zu reaktivierenden Bahnlinien auch in die Umgebung fahren – das Prinzip Regiotram. Die Vorschläge fand durch spektakuläre Aktionen eine große Aufmerksamkeit. Unter anderem wurden die vorgeschlagenen Veränderungen mehrfach für einen Tag erprobt – ganz legal per Versammlungsrecht oder mitunter auch durch Blockaden erzwungen.

Im März 2021 konzentrierten sich die Initiativen dann auf die Durchsetzung der wichtigsten Fahrradachse auf Gießens Hauptverkehrsstraße, eben dem Anlagenring. Dem Bürger*innenantrag folgte eine Mehrheit im Stadtparlament. Die anschließende Kommunalwahl, die kaum ein anderes Thema kannte, bestätigte den Beschluss eindrucksvoll. Als dann im Juni 2023 die Bauarbeiten begannen, schien Gießen auf dem Weg zu einer Beispielstadt für eine mutige Verkehrswende zu sein, die auch noch von unten initiiert und durchgesetzt war.

Beeindruckende Hetzkampagne

Doch die Freude war verfrüht. Noch bevor die Fahrradstraße im vergangenen September eröffnet werden konnte, begann schon wieder ihr Abriss. Zu dem Zeitpunkt waren bereits drei Viertel fertiggestellt und konnten beradelt werden. Doch dann brachte eine beeindruckende Hetzkampagne gegen das Radfahren im Speziellen und die Verkehrswende im Allgemeinen die in Gießen regierende grün-rot-rote Koalition dazu, auf das 1,7 Millionen Euro teure Leuchtturmprojekt einer lebensfreundlicheren Gestaltung der Gießener Innenstadt zu verzichten und den Autos wieder alle Räume zur Verfügung zu stellen – für noch mal eine Menge Geld.

Wie konnte das geschehen? Bis Mitte Juni schien alles glatt zu laufen. Stadtplanungsamt und Bauhof hatten sich gut auf die Baustellenphase vorbereitet und wollten das anspruchsvolle Projekt innerhalb von vier Monaten umsetzen. Jeweils für einen Monat sollte ein Viertel der für die Fahrradstraße vorgesehenen inneren Spuren gesperrt und dann umgebaut werden. Doch als die erste Kreuzung zur Baustelle wurde und dort für zwei Tage der Verkehr eingeschränkt war, schlugen die Autofans und die Anti-Verkehrswende-Lobby zu. Eine koordiniert wirkende Aktion von klagenden Richter*innen, urteilenden Gerichten, einem Polizeipräsidenten kurz vor der Pension und der Aufsichtsbehörde Regierungspräsidium führte dazu, dass die Fahrradstraße – und von der Begründung her alle Fahrradstraßen überhaupt – für rechtswidrig erklärt wurden.

Gleichzeitig starteten CDU und Co eine Hetzkampagne gegen die Fahrradstraße, phantasierten vom Absterben der Gießener Innenstadt und von einem vermeintlich bevorstehenden Verbot der Autos. Daraufhin brach ein Automob los: Radelnde wurden angespuckt, beworfen, angepöbelt, beleidigt und gezielt angefahren. Einige stiegen sogar aus dem Auto aus und verdroschen beliebige Radfahrende. Zwar gab es noch am Tag des ersten Gerichtsentscheids einen großen „Critical Mass“-Korso und es folgten weitere Proteste. Doch die Stimmung kippte.

Plakat aus dem hessischen Landtagswahlkampf in Gießen. Foto: Projektwerkstatt

Rückeroberung der Straße per Faustrecht

Als auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof, die dafür letzte Instanz, unter Führung eines erkennbar der Autofahrerei zugeneigten FDPlers den ganzen Neubau für rechtswidrig erklärte, geriet die grün-rot-rote Regierung in Panik und verkündete wenige Stunden später, die fast fertig gebaute und zu drei Vierteln schon nutzbare Fahrradstraße wieder abzureißen. Einige Tage hielten sich die verschiedenen Meinungen noch die Waage, da Aktivist*innen die erste freigegebene Zufahrt für Autos zur Fahrradstraße besetzten und eine Einwohner*innen-Petition organisierten – die bislang erfolgreichste in der Geschichte dieses speziellen Gießener Beteiligungsinstruments.

Dann aber ging es schnell: Per Faustrecht eroberten die Autos die Straße zurück. Die Motorisierten fuhren illegal, aber absichtlich in Fahrradstraßen- und Gehwegbereiche – oft laut grölend, dass sie jetzt das Sagen hätten. Den Satz „Ich hasse Fahrradfahrer“, den eine Person in die Kamera sagte, strahlte der ARD-Sender Hessenfernsehen sogar überregional aus. Aus Angst vor Amokfahrten sicherte die Stadt das Protestcamp zuerst mit großen Betonblöcken und verbot es schließlich. Klagen dagegen scheiterten – es entschieden die gleichen Richter*innen darüber, die auch schon die Fahrradstraße verboten hatten. Am Ende war das Aus für den hoffnungsvollen Beginn einer Verkehrswende in Gießen nicht zu verhindern.

Populistische Parteien und ein aufgehetzter Mob wüten – und die Befürworter*innen guter Ideen fallen eingeschüchtert auf die Knie, um durch die Erfüllung der Wünsche den Mob zu besänftigen: Dieses Muster ist aus anderen politischen Auseinandersetzungen hinlänglich bekannt.

Populismus siegt über Vernunft

Inzwischen ist ein Großteil der Fahrradstraße verschwunden – und der Rest illegal von Autos erobert. Der Schock bei allen, die sich fünf Jahre lang für das Projekt eingesetzt hatten, sitzt tief. Die Wirkung bleibt zudem nicht lokal beschränkt. Mit Bezug auf Gießen entstanden in mehreren Städten Pro-Auto-Initiativen und -Parteien, die Klimaschutz und Verkehrswende für immer beerdigen wollen.

So zeigt das Beispiel, was in jeder Demokratie Probleme bereitet: Die öffentliche Stimmung lässt sich drehen. Populisten und Hetze siegen immer wieder über Vernunft. „Man hatte mit der Beendigung der Baustellen und dem Start des Verkehrsversuchs die Hoffnung, dass Mitte September der Verkehr wieder rollt, und zwar besser als vorher“ – so beschrieb ein Geschäftsinhaber am Gießener Anlagenring das Trauerspiel, als alles schon vorbei war. In einigen Wochen wird nichts mehr an den hoffnungsvollen Versuch erinnern – nur noch die Internetseite, die Idee, Kampf und Niederlage nachzeichnet.

Jörg Bergstedt

Weitere Informationen:
www.anlagenring.siehe.website

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