Aus DER RABE RALF Juni/Juli 2018, Seiten 1 & 4
Mehr Wertschätzung für Lebensmittel durch Hühnerhaltung in der Stadt
Selbstversorgung aus eigenem Anbau liegt im Trend. Bei neuen Wohnquartieren werden produktive Gartenflächen gleich mitgedacht, und Schulgärten feiern eine Rückkehr. Über „Urban Gardening“ auf individuellen Parzellen oder in gemeinsamen Projekten finden große und kleine Stadtmenschen zur Natur. Auch Imkern mit eigenen Bienen ist beliebter denn je.
Was meist noch fehlt, sind die Tiere, die im Gedankenbild von „Omas Garten“ eine Selbstverständlichkeit sind. Vergessen ist, dass der Kontakt zu Henne und Hahn ebenso wie die Aufzucht von Obst und Gemüse einen Wert weit über das reine Agrarprodukt hinaus hat.
Aber Hühner in der Hauptstadt, heutzutage? Geht das überhaupt, darf man das? Wer sich mit der Haltung beschäftigt, ist überrascht, wie einfach und unkompliziert es sein kann.
Diesem Stadthuhn geht es gut. (Foto: Axel Lüssow)
Wie präsent Hühner einst im Alltag waren, zeigt sich am Wortschatz der deutschen Sprache: krankes Huhn, verrücktes Huhn, Hühnerbrust, Hühnerauge, Hühnergott. Auch mit Sprüchen ist das Federvieh reichlich vertreten: „Hahn im Korb“, „Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn“, „Das ist der reinste Hühnerhaufen“, „Danach kräht kein Hahn“, „Da lachen ja die Hühner“. Doch zum Lachen ist den meisten Hühnern nicht mehr zumute: unter der Agrarindustrie leiden Mensch, Tier und Klima.
Hühner mit Namen
In eigener Produktion lassen sich Frühstückseier mit individuellen Namen und laufender Nummer kennzeichnen. Wer erlebt, wie sich die Henne beim Eierlegen müht, gewinnt Respekt vor dieser Leistung. Manchmal legt die Henne eine Brutpause ein – und plötzlich gewinnt das Ei an Wert, weil es nicht jederzeit verfügbar ist.
Mit solchen Eindrücken im Kopf erscheint es unfassbar, wie sehr Turbo-Hühner in der Agrarindustrie ausgebeutet werden. Das Legen von bis zu 300 Eiern pro Jahr verschleißt so ein Tier in kurzer Zeit. Wie Hohn wirken da die mit Illustrationen geschönten Packungen im Laden. Nur rund zehn Prozent der Tiere werden ökologisch gehalten, und auch das EU-Biosiegel garantiert leider keine glücklichen Hühner. Für Fleisch gibt es keine verpflichtende Kennzeichnung der Haltung, auch das staatliche „Tierwohl“-Label ist nur als freiwillige Angabe geplant und verdient den Namen nicht.
Weil die Ökonomie die Haltung diktiert, ist die Suche nach Alternativen schwer. Damit nicht jährlich 40 Millionen Eintags-Hähne geschreddert werden müssen, gibt es Ideen wie den „Bruderhahn“. Dabei werden – dank eines rund vier Cent höheren Verkaufspreises pro Ei – auch die männlichen Küken aufgezogen und gemästet, auch wenn die Hähne bei Weitem nicht so viel Fleisch ansetzen wie die Masthühner. Der richtige Weg ist jedoch die Umkehr von der Hybrid-Zucht mit dem Ziel „nur Eier“ oder „nur Fleisch“ zu mehr sogenannten Zweinutzungsrassen – wie die im eigenen Garten.
Zeit für eine neue Haltung
Hühner selbst halten ist einfacher als man denkt – auch in der Stadt. In Kleingärten gilt ein Bestandsschutz, Satzungen können angepasst werden. Zaun und Netz bieten den Tieren Schutz, und automatisierte Klappen im Stall mit Dämmerungsschalter können Arbeit sparen. Bei Nachbarn ist Interesse und freudige Neugier die Regel. Denn Hühner wollen erkunden, scharren, picken und ein Sandbad nehmen – im eigenen Garten oder in Gemeinschaftsgärten wie „Peace of Land“ im Bezirk Pankow finden sie diese Umgebung. Die Kampagne „Give me five!“ des Tierschutzvereins Provieh zielt auf einen Bauernhahn mit vier Bürgerhühnern in jedem Garten.
Außer den Eiern haben Hühner noch viele andere Vorteile: Sie halten Rasen kurz, vertikutieren und lockern den Boden. Und sie haben einen sehr nützlichen Speiseplan, da sie viele Lebensmittelreste fressen, die in einem Haushalt anfallen. Sie rücken jeder Schneckenplage zu Leibe und ergänzen ihre Nahrung mit Fliegen, Mücken und Spinnen. Die zerkleinerten Schalen vom Speise-Ei werden ins nächste Ei eingebaut.
Doch einen besonderen Charme haben die Tiere selbst. Jede Henne und jeder Hahn hat eine eigene Persönlichkeit und (mehr oder weniger) Liebenswürdigkeit, die sich in die soziale Struktur der kleinen Hühner-Familie einfügt. Vom „Muttersohn“ bis zum „Zickenweib“ sind alle Charaktere vertreten, und wer einmal die Individualität der Tiere entdeckt hat, sieht Massentierhaltung mit anderen Augen.
Hühner können zu Menschen eine Beziehung aufbauen, und gerade Kinder profitieren vom Kontakt zu den „kleinen Dinosauriern“. So lässt sich auch die Sprache der Hühner lernen – vom Flugalarm-Ruf bis zum Hier-bin-ich-der-Chef-Gackern ist immer klar, was das Gegenüber gerade meint.
Wie beeindruckt und fasziniert Kinder von Tieren sind, zeigen ihre Reaktionen. Ein zweijähriger Junge zum Beispiel erinnerte sich Monate später, als er endlich sprechen konnte, an den Besuch im Hühnergarten und beschrieb mit seinem Wortschatz, was er dort erlebt hatte.
Auch für Erwachsene haben glückliche Hühner eine therapeutische Wirkung, denn statt entfremdeter Arbeit leben sie im gesunden Rhythmus und im Jetzt. Sie freuen sich am Morgen, von der Stange zu springen, und sorgen sich um konkrete Gefahren wie Fuchs und Habicht statt um den Rentenbescheid.
Bildung für nachhaltige Entwicklung
Milch kommt von Kaufland, Äpfel kommen von Aldi – so oder so ähnlich stellen sich Kinder die Herkunft von Lebensmitteln vor. Dass der Apfel am Baum wächst und an unserem Essen auch lebendige Tiere beteiligt sind, wissen sie oft nicht mehr. Das zeigt sich auch am allgemeinen Essverhalten.
Die Hälfte aller Lebensmittel landet in Deutschland im Müll – laut einer Studie jährlich 18 Millionen Tonnen. Weltweit wird ein Drittel der Lebensmittelproduktion verschwendet, das entspricht einer landwirtschaftlichen Fläche anderthalbmal so groß wie Europa, auf der „für die Tonne“ gewirtschaftet wird. Projekte wie die Tafeln oder Verwerter für „abgelaufene“ Lebensmittel können daran wenig ändern, zeigen aber das Ausmaß des Wahnsinns.
Eine Hoffnung liegt in der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, kurz BNE. Dieses Konzept reicht über Umweltbildung hinaus. Es geht darum, ein Bewusstsein zu entwickeln, wie wertvoll die begrenzten Ressourcen für das menschliche Leben sind. In diesem Sinne gibt es keine „Umwelt“, sondern eine „Mitwelt“ – die Menschen sind Teil der Natur. Je früher Kinder an Fragen der Nachhaltigkeit herangeführt werden, desto selbstverständlicher wird ihr späterer Umgang mit den ökologischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen.
Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, die entsprechenden Kenntnisse und Kompetenzen im Schulalter auszubauen, die zuvor bereits in Kindergärten angebahnt wurden. Deshalb gibt es neben den Kinderbauernhöfen immer mehr Projekte und Einrichtungen, die Kinder mit Tieren zusammenführen – wie zum Beispiel Hühnern. Unerreicht ist jedoch die Erfahrung, das Leben selbst gehaltener Hühner jeden Tag erleben zu dürfen.
Inka Seidel-Grothe, Axel Lüssow
Inka Seidel-Grothe ist Pädagogin und derzeit im Master-Studiengang Bildung für nachhaltige Entwicklung. Axel Lüssow ist Sprecher der Landes-AG Tierschutzpolitik von Bündnis 90/Die Grünen Berlin.
Video zur Hühnerhaltung im Garten: www.fb.com/InkaSeidelGrothe