Klima-Folgen

Aus DER RABE RALF Dezember 2022/Januar 2023, Seite 12

Folge 11: Graue Energie – die versteckte Klimabelastung in jedem Produkt

Der Bau neuer Gebäude verbraucht immense Ressourcen. (Foto: Danny Püschel)

Was ist der Unterschied zwischen einer Erdbeere im Juni und einer Erdbeere im Dezember? Wenn wir mal vom Geschmack und vom Preis absehen, eigentlich keiner. Das sollte man zumindest annehmen. Doch stammt die Erdbeere im Juni höchstwahrscheinlich von Obstbauern aus der Region oder sogar aus dem eigenen Garten. Im Dezember hingegen muss die Erdbeere entweder von der Südhalbkugel importiert oder in Europa in Gewächshäusern angepflanzt und geerntet werden. Sie hatte also eine extrem weite Anreise – wahrscheinlich mit dem Flugzeug – oder sie wurde für ihr Wachstum künstlich beleuchtet und beheizt. Das sieht man der süßen Frucht aber nicht an. Transport, Beleuchtung und Beheizung sind jedoch mit Energieaufwand – und mit entsprechenden CO₂-Emissionen – verbunden.

Graue Energie – überall und nirgends zu sehen

Die Energiemenge, die für Herstellung, Transport, Lagerung, Verkauf und Entsorgung eines Produktes oder einer Dienstleistung notwendig ist, wird als „graue Energie“ bezeichnet, weil sie im Produkt „versteckt“ und für die Konsumenten nicht direkt sichtbar ist. Für die graue Energie werden auch sämtliche Vorprodukte, angefangen von der Rohstoffgewinnung, berücksichtigt. Der Energieeinsatz für alle angewandten Produktionsprozesse wird dabei addiert.

Graue Energie steckt also in jedem Produkt – sei es ein Bleistift, eine Tafel Schokolade oder ein Auto. Obwohl sie für uns Konsumenten nicht direkt erkennbar ist, hat sie Einfluss auf den Produktpreis. Selbst Dienstleistungen beinhalten versteckte Energieverbräuche, zum Beispiel das Haareschneiden: Föhn, Schere, Haarschneidemaschine und die ganze Einrichtung des Friseurgeschäfts müssen hergestellt werden und vieles davon verbraucht Energie. Auch die Nutzung des Internets ist nur mit PC oder Smartphone, mit Servern und anderer Hardware möglich, die ebenfalls große Energieverbraucher sind.

Der Zusammenhang mit dem Verbrauch endlicher Ressourcen und dem allgegenwärtigen Klimaproblem liegt auf der Hand. Denn unmittelbar mit der grauen Energie verbunden sind Verbräuche von Primärenergieträgern wie Kohle, Öl und Gas und entsprechende „graue Emissionen“ von CO₂ und anderen Treibhausgasen.

Brauche ich das wirklich?

Die graue Energie findet allerdings in der öffentlichen Wahrnehmung nahezu keine Beachtung. Dabei gibt es hier enorme Einsparmöglichkeiten, auch für Konsumenten. Um die graue Energie zu reduzieren, kann man in seine Kaufentscheidung verschiedene Überlegungen einfließen lassen. Zunächst sollte man sich fragen, ob eine Neuanschaffung überhaupt notwendig ist. Hält das Handy nicht noch ein Jahr? Muss es das dritte Paar Laufschuhe sein? Ist der Fernseher wirklich zu klein? Etwas Suffizienz – sprich Genügsamkeit – beim persönlichen Besitztum walten zu lassen, ist der effektivste Weg, graue Energie und CO₂-Emissionen einzusparen.

Man sollte immer auch darauf achten, woher ein Produkt kommt und unter welchen Bedingungen es hergestellt wurde. In vielen Teilen der Welt werden die von uns konsumierten Produkte überwiegend mit konventioneller Energie aus Kohle oder Erdgas und in ineffizienten Prozessen hergestellt.

Ich brauche das wirklich!

Suffizienz geht aber nicht immer. Ohne Smartphone und Co kann man in der heutigen Gesellschaft – sowohl privat als auch beruflich – oft nicht mehr mithalten. (Wie lange das wohl noch gutgeht?) Irgendwann steht also doch eine Neuanschaffung oder der Austausch eines defekten Gerätes ins Haus. Wie lässt sich dann die graue Energie berücksichtigen – das heißt minimieren? Schwierig!

Graue Energie heißt nicht umsonst „grau“. Oft ist es nur schwer bis gar nicht möglich herauszufinden, wie viel graue Energie in einem Produkt steckt. Eine gute Hilfestellung bieten Ökobilanzen. Diese erfordern allerdings Übung im Lesen und Interpretieren der Daten. Wer kann schon abschätzen, ob 30.000 Kilowattstunden zur Herstellung eines Kleinwagens viel oder wenig sind? Oder 3.000 Kilowattstunden für einen Laptop? Fünf Kilowattstunden für eine Aludose? Wer kennt eigentlich die Höhe seines eigenen Stromverbrauchs?

Eine weitere Entscheidungshilfe kann der sogenannte „Product Carbon Footprint“ (PCF) sein. Dieser produktbezogene CO₂-Fußabdruck gibt an, wie hoch die grauen Emissionen eines Produktes sind. Es gibt bereits Pilotprojekte zur Angabe des PCF und einige Staaten prüfen die Einführung eines entsprechenden Labels. (Ein CO₂-Preis für Produkte wäre ein gutes Instrument, die Hersteller zu „zwingen“, den Energieverbrauch und damit auch die CO₂-Emissionen effektiv zu senken. Aber das ist ein anderes Thema.)

Den ganzen Lebenszyklus betrachten – gerade bei Gebäuden

Ein Anfang ist, sich darüber Gedanken zu machen, wie viel Energie in Erdbeeren von chilenischen Feldern, aus holländischen Treibhäusern oder regionalem Anbau im Frühjahr steckt, und dies auch in eine Kaufentscheidung einfließen zu lassen. Aber auch bei elektronischen Produkten und nicht zuletzt bei Gebäuden spielt die graue Energie eine immer größere Rolle.

Noch vor einigen Jahren, als Energieeffizienz und Klimawandel nur Themen für Experten oder Öko-Freaks waren, spielte die Herstellungsenergie keine Rolle. Die Energieverbräuche während der Nutzung waren einfach viel höher als die graue Energie. Das hat sich aber radikal geändert. Höhere Energiekosten, Gesetze für nachhaltige Produktgestaltung („Ökodesign“) und letztlich auch das Bewusstsein für die Klimakrise haben dazu geführt, dass die Energieverbräuche von Elektrogeräten, Elektronikprodukten und auch von Gebäuden drastisch gesunken sind. Gleichzeitig ist aber die graue Energie – gerade bei Gebäuden – stark gestiegen (Rabe Ralf Februar 2021, S. 6).

Die graue Energie wird bei Gebäuden immer wichtiger (schematische Darstellung). (Grafik: Danny Püschel/​NABU)

Zurzeit entspricht die graue Energie, die in einem Neubau steckt, ungefähr der notwendigen Betriebsenergie für 30 bis 50 Jahre. Der Trend geht auch hier zur Abnahme der Betriebsenergie durch immer bessere Bau- und Dämmvarianten. Gleichzeitig steigt aber die im Gebäude enthaltene graue Energie, weil der Aufwand für die Baustoffe, die Konstruktionen und technischen Komponenten zunimmt.

Wir müssen also darauf achten, dass wir keine Milchmädchenrechnung aufmachen. Wir müssen die Energieaufwendungen im gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes betrachten – von der Zementgewinnung bis nach dem Abriss. Sonst verschieben wir den Energieverbrauch nur von der Betriebsphase in die Herstellungsphase. Für das Klima ist es am Ende egal, ob das CO₂ aus dem Schornstein unseres Hauses kommt oder schon vorher aus den Fabrikschloten der Baustoffhersteller. Die Energieverbräuche müssen über den gesamten Lebenszyklus minimiert werden.

Danny Püschel 

Der Beitrag erschien zuerst in der Reihe „Natürlich Klimaschutz“ im NABU-Blog.

Bisher erschienen:
Teil 1: Kippelemente
Teil 2: Extremwetter
Teil 3: Begriffe
Teil 4: Zoonosen
Teil 5: Atomkraft
Teil 6: Landwirtschaft
Teil 7: Rassismus
Teil 8: CO₂-Tricks
Teil 9: Männer
Teil 10: Klimaforschung

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