Aus DER RABE RALF August/September 2019, S. 21/22
Eine Beziehung im Wandel
„Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“
Das ist der Grundsatz des deutschen Tierschutzgesetzes, formuliert in Paragraf 1. Beim ersten Lesen dieser Sätze stellt sich die Frage, wie so ein vernünftiger Grund wohl aussehen mag. Ist die industrielle Fleischproduktion wirklich vernünftig? Und wie sieht es bei Tierversuchen oder der Jagd aus?
Dazu könnte man viele Diskussionen führen. Darum soll es hier aber nicht gehen, denn bei diesem Grundsatz handelt es sich um eine Phrase. Liest man in dem Gesetz weiter, wird schnell klar, dass so ziemlich jeder erdenkliche Grund als vernünftig angesehen wird, solange sein Motiv nicht purer Sadismus ist.
Die Mehrheit der Deutschen lehnt Massentierhaltung ab, trotzdem essen wir jedes Jahr 60 Kilogramm Fleisch pro Kopf, ohne uns für die Zustände in den Ställen verantwortlich zu fühlen.*
Tiere zu achten hat keine Tradition
Ob Tiere überhaupt Rechte haben sollten, wird bis heute in der Gesellschaft diskutiert. Erst seit dem Jahr 2002 ist der Tierschutz Teil des Grundgesetzes.
Die Mensch-Tier-Beziehung scheint von einer tiefen Kluft geprägt zu sein. Tatsächlich hat sich aber unser Wissen über nichtmenschliche Tiere in den letzten Jahren stark erweitert und man muss auch kein Wissenschaftler mehr sein, um es zu erlangen. In den öffentlich-rechtlichen Medien läuft eine populärwissenschaftliche Tierdokumentation nach der anderen, die danach für jeden im Internet zugänglich ist. So weiß man, dass beispielsweise Schweine ein Ich-Bewusstsein haben und intelligenter als Hunde sind.
In den USA erfreuen sich niedliche Minischweine als Haustiere großer Beliebtheit – während in der Küche der Schinken in der Pfanne brutzelt. Situationen wie diese sind so paradox, dass es kaum noch möglich ist, sie einfach so hinzunehmen. Obwohl Tierquälerei gesellschaftlich immer mehr abgelehnt wird, wird sie in einem Maße praktiziert wie nie zuvor. Das setzt vor allem die Fleischindustrie zunehmend unter Druck. Deshalb führten zum Beispiel die großen deutschen Supermarktketten im April eine einheitliche Fleischkennzeichnung ein, die über die Haltungsbedingungen Auskunft geben soll.
Dieses gesteigerte Bewusstsein gibt es noch nicht lange. Ethische Überlegungen zur Behandlung von Tieren sind ein Merkmal der Moderne, und eine wirkliche Tierschutzbewegung gibt es in Deutschland erst seit den 1980er Jahren.
Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung im 18. Jahrhundert, hielt das Tierleben für mehr oder weniger wertlos. Als er seinen kategorischen Imperativ formulierte – „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ – bezog er sich nur auf vernunftbegabte Wesen, also Menschen. Zwar darf man nach Kants Verständnis Tiere nicht quälen, allerdings begründet er das damit, dass jemand, der Tieren Leid antut, potenziell auch nicht davor zurückschrecken würde, dies bei einem Menschen zu tun.
In dieser Hinsicht war Kants Weltbild anthropozentrisch geprägt: Der Mensch als Maß aller Dinge. Eine solche Lebensanschauung ist im europäischen Raum bis heute verankert und auch auf die jahrhundertelange christliche Prägung unseres Kulturkreises zurückzuführen. Aus der Bibel lässt sich folgern, dass der Mensch – als Ebenbild Gottes – über eine Welt herrschen soll, in der Tiere nur Ressourcen sind.
Hinduistisch geprägte Kulturen, so unterschiedlich sie auch sind, kennen solche Abgrenzungen beispielsweise nicht. Und die Realität zeigt, dass in Indien, wo sich 80 Prozent der Bevölkerung zum Hinduismus bekennen, immerhin 40 Prozent der Bevölkerung kein Fleisch essen. Es ist zwar zu kurz gedacht, die Ursache für unser modernes Bild von Tieren auf die Einflüsse unserer Religion zu reduzieren, trotzdem scheinen diese Einflüsse auf die Ansichten einiger rationaler Aufklärer bis heute nachzuwirken.
Utilitarismus
Ein ernst zu nehmendes Umdenken begann erst im 19. Jahrhundert mit Kants Zeitgenossen Jeremy Bentham und seiner philosophischen Strömung, dem „Utilitarismus“, der dann Ende des 20. Jahrhunderts vom Philosophen Peter Singer reformiert wurde. Singers Position ist nicht nur die gegenwärtig populärste im Bereich der Tierethik, sondern wohl auch die am stärksten an der Logik ausgerichtete. Im Kern strebt sie nach dem geringstmöglichen Leid beziehungsweise dem größtmöglichen Glück. Hierbei unterscheiden Bentham und Singer aber nicht, wie sonst üblich, nach Arten, sondern in die Gleichung werden alle Wesen eingerechnet, die überhaupt fähig sind zu fühlen.
An dieser Stelle fügte Singer ein weiteres Beurteilungskriterium hinzu: die Komplexität oder Intelligenz des Wesens und das damit einhergehende Erkennen des Ichs und die Fähigkeit zur Zukunftsplanung. Das Besondere daran ist, dass jedes Wesen individuell betrachtet wird, statt nach den für seine Art typischen Eigenschaften beurteilt zu werden. So ist das Leben eines Menschenaffen zwar im Zweifel mehr „wert“ als das einer Heuschrecke, aber es bedeutet auch, dass das Affenleben höher gewichtet wird als das Leben eines neugeborenen Menschen oder das eines Schwerbehinderten.
Bei der Allgemeinheit kann sich diese Position dementsprechend nicht durchsetzen. Der Grund ist aber nicht allein der Einfluss der Bibel, denn je näher ein Mensch einem anderen Lebewesen steht, je mehr Gemeinsamkeiten er mit ihm hat, desto mehr identifiziert er sich mit ihm. Das führt dazu, dass wir fast immer die eigene Spezies über andere Arten stellen würden. Die menschliche Psyche ist nicht immer logisch geschweige denn moralisch. Oft wünschen wir uns, andere nicht in Schubladen einzuordnen, allerdings ist das ein natürlicher Schutzmechanismus, der sich, ob einem das gefällt oder nicht, nicht ablegen lässt. So ähnlich verhält es sich auch bei der Bevorzugung der eigenen Spezies. Zudem erscheint es den meisten von uns als herzlos, Menschenleben in mathematischen Gleichungen abzuwiegen.
Den Ungehörten eine Stimme verleihen
Es ist tragisch, dass die moderne Tierethik oder auch die weltweit größte Tierrechtsorganisation Peta oft so weltfremd argumentieren. In kaum einer anderen ethischen Disziplin weichen die Forderungen der Gelehrten so stark von dem ab, was letztendlich praktiziert wird. Und ebenso weichen sie von der allgemeinen Meinung so stark ab, dass Tierschützer und Tierethiker meist als radikal abgestempelt werden. Ein Beispiel ist die gerichtlich gestoppte Kampagne „Holocaust auf Ihrem Teller“, mit der Peta Parallelen zwischen dem Holocaust und der Massentierhaltung ziehen wollte. Solche Vergleiche überschreiten für die meisten aber eine Grenze. Dabei wäre eine Annäherung an die Allgemeinheit unbedingt notwendig, denn im Alltag wird man immer noch zu selten mit den Grausamkeiten konfrontiert, die sich innerhalb der geschützten Wände von Massenställen, Tierversuchslaboren oder Pelztierfarmen abspielen.
Auf der anderen Seite steht die junge Vegetarismus- und vor allem Veganismus-Bewegung, die zwar immer mehr Anhänger gewinnt, aber leider auch immer mehr zum Gesundheitstrend verflacht und Ethik- wie Umweltfragen in den Hintergrund rücken lässt. Bilder in sozialen Medien wie Instagram, auf denen perfekt schlanke, junge Frauen braungebrannt im Bikini vor türkisblauem Meer posieren, und Kochbücher wie „Vegan for fit“ sind dann der Auslöser für die Ernährungsumstellung, nicht die Beschäftigung mit den tieferen Zusammenhängen.
Natürlich könnte man hier einwenden, dass es dem Schwein egal ist, aus welchem Grund es nicht geschlachtet wird, Hauptsache die Nachfrage nach Fleisch sinkt. Doch unter diesen Umständen hat die Bewegung keine Zukunft – denn die vegan-vegetarische Ernährung ist weder prinzipiell gesünder als eine Ernährung mit Fleisch noch hilft sie beim Abnehmen. Wer das realisiert hat, versucht es mit der nächsten Diät.
Dabei ist gerade die Tierrechtsbewegung auf mehr Unterstützer angewiesen. Zum einen hat sie nämlich das Problem, dass der Wunsch nach mehr Tierrechten mit Verzicht verbunden ist und eine Reihe starker Interessengruppen wie die Arzneimittel- oder Agrarlobby vom Tierleid profitiert. Zum anderen haben die Betroffenen – anders als etwa bei der Frauen- oder Bürgerrechtsbewegung – nicht die Möglichkeit, sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen.
Falls man sich jedoch die Zeit nimmt, die Gefühlswelt von Tieren verstehen zu wollen und sie als selbstständige Individuen zu betrachten, wie wir es bei unseren Haustieren tun, werden sie von Maschinen zu Mitgeschöpfen. Dieser Perspektiven-Wechsel beginnt zunehmend auch in der Mitte der Gesellschaft, während die Überzeugung, die Definition des „vernünftigen Grunds“ sei Privatsache und Teil einer liberalen Gesellschaft, langsam abnimmt. Der nächste Schritt müsste nun eigentlich die Einführung ernst gemeinter gesetzlicher Einschränkungen sein.
Alena Schmidbauer
* Quelle und weitere Informationen: Fleischatlas 2018, www.fleischatlas.de
Petition zur Beendigung von Käfighaltung in der EU: www.vier-pfoten.de (Petitionen)