Die Bäume fallen weiter

Aus DER RABE RALF August/September 2021, Seite 14

Vom Biotop zum Kanzleramt: Das einstige Wäldchen auf dem Moabiter Werder

So schön wild war der Moabiter Werder. (Foto: Lydia Schend)

Bis 2027 soll das Bundeskanzleramt in Berlin in seiner Größe verdoppelt werden, und zwar auf dem Gebiet des zerstörten Wäldchens auf dem Moabiter Werder. Ganz in Vergessenheit geraten ist dessen Geschichte, an die hier erinnert werden soll – ein Lehrstück in Demokratie, Bürgerbeteiligung und Naturschutz.

Es war einmal ein Niemandsland mitten in Berlin. Niemand kümmerte sich darum, und das war gut so. Das Gelände des im Krieg zerbombten Hamburger und Lehrter Güterbahnhofs war sich selbst überlassen, die Natur konnte sich frei entfalten und zu einem kleinen Paradies heranwachsen, völlig ungestört, ohne jeden menschlichen Eingriff. Dazu gehörte eines der letzten naturbelassenen Ufer der Spree, das nach dem Krieg mit Spendengeldern, die Eleanor Roosevelt in den USA gesammelt hatte, ein wenig bepflanzt worden war.

Danach blieb das Gelände sich selbst überlassen, kein Gärtner, kein Sägen, kein Säen oder Düngen, nichts. Die Natur holte sich die Stadtbrache nach und nach zurück und brachte sich selbst hervor, auf den Rudimenten der Zeit, verwachsen mit alten Baracken und Gärten. Wilder Wein, Hopfen und Rosen überwucherten die Schienen und all den Schrott, der sich ganz in diese freie, wilde Schönheit fügte.

Sacro Bosco

Der Moabiter Werder glich einer Insel, die sich vom Ufer der Spree im alten Urstromtal zur Bahn hin erstreckte, östlich begrenzt vom Packhof an der Moltkebrücke und westlich von der Spedition Hamacher an der Lutherbrücke, schräg gegenüber vom Schloss Bellevue. Nur an den Rändern herrschte Betrieb, verschiedenstes Gewerbe fand auf dem Bahngelände günstigen Raum, und die Jungen und Mädchen aus dem benachbarten Kiez lockten Freiheit und Abenteuer hierher. Brombeeren, Erdbeeren, Hühner und Enten, die Pferde der Kutscher, dazwischen die Gleise, die über blühende, wogende Wiesen zum Wäldchen hin führten, dem Herzstück, einem Refugium. Nur wenige Menschen verirrten sich hierher. Manche Obdachlose fanden zur Sommerzeit ungestörten Unterschlupf. Bussarde brüteten hier und Füchse und Nachtigallen waren so zahlreich wie an keinem anderen Ort Berlins.

Ein schmaler, versteckter Pfad schlängelte sich durch das Wäldchen, das, obwohl nur knapp zweieinhalb Hektar groß, im Innern als ein einzigartiger, unendlicher Kosmos erschien, der Stadt ganz entrückt und doch mittendrin. Robinien, Espen, Schwarz- und Silberpappeln, Holunder, Birken, Hopfen und viele mehr waren ein kleiner wilder Wald geworden, ein Dschungel, wo Lianen sich von Baum zu Baum schlangen, mit einer Lichtung, wo rot der Fingerhut leuchtete. Wegen seines besonderen Zaubers wurde das Wäldchen Sacro Bosco, der Heilige Hain, genannt.

Bauen im „Vorranggebiet Klimaschutz“

Seit den 1980er Jahren war der Moabiter Werder im Landschafts- und im Artenschutzprogramm als „Vorranggebiet Klimaschutz“ eingestuft. Deshalb sollten das Wäldchen und seine Ausläufer Anfang der 1990er in die geplante Bundesgartenschau naturnah einbezogen und fortan geschützt werden – gestützt von ökologischen Gutachten, die den hohen Wert des Biotops bezeugten.

Mit dem Hauptstadtbeschluss wurde jedoch alles hinfällig. Ein neues Kanzleramt wurde gebaut, eines der größten der Welt, achtmal so groß wie das Weiße Haus in Washington. Seine Ausläufer im „Kanzlerpark“ verliefen mitten durch das Wäldchen, das offiziell gar nicht im Planungsgebiet lag und dennoch dafür fast vollständig gerodet wurde. Das war in den späten 90er Jahren, am Ende der Dekade, die mit dem Erdgipfel von Rio und der Biodiversitätskonvention so viel Hoffnung gemacht hatte.

Eine Bürgerbeteiligung, die keine war

Die Bezirksverordnetenversammlung von Tiergarten hatte zuvor mehrmals einstimmig an das Bundeskanzleramt und alle politisch Verantwortlichen appelliert, das Wäldchen zu erhalten und es möglichst sensibel in die Baupläne einzubeziehen. Dasselbe forderten Moabiter Stadtteilinitiativen und die Berliner Naturschutzverbände. An Protest mangelte es nicht. Im März 2000 gab es ein letztes „Aufbäumen“ mit „Kunst und Aktion“ und einer Baumbesetzung – vergeblich.

Die „Bürgerbeteiligung“ war eine große Enttäuschung, eine Farce. Einstige Zusagen wurden vergessen, ja gebrochen. Denn das Bundeskanzleramt und der Berliner Senat hatten mehrmals offiziell mitgeteilt, das einmalige Wäldchen auf dem Moabiter Werder werde „weitgehend erhalten“. Doch es wurde größtenteils zerstört, die Zusagen wurden ad acta gelegt. In den Internetpräsentationen der Bundesregierung und der Stadt Berlin zum Kanzlerpark wird darüber kein Wort verloren.

Trotz breiter Proteste wurde das Wäldchen vor 25 Jahren weitgehend zerstört. (Foto: Lydia Schend)

Und nun ein Erweiterungsbau

Nur zwei Inselchen außerhalb der „Kanzlermauer“ konnten vor der Rodung bewahrt werden. Diese Reste sind durch steinerne Einfassungen östlich und westlich der Mauer gut zu erkennen und lassen die Schönheit des verlorenen Wäldchens erahnen. Innerhalb der „Einfriedung“ wurde aus dem angekündigten Kanzlerpark in erster Linie ein Hubschrauberlandeplatz mit vereinzelten letzten Bäumen. Völlig im Widerspruch zu allen Zusagen in der Vergangenheit werden diese nun voraussichtlich auch noch gefällt.

600 Millionen Euro sind für den Erweiterungsbau veranschlagt, doch erfahrungsgemäß werden die Kosten viel höher liegen. Kritik äußert der Bundesrechnungshof, der Bund der Steuerzahler nennt das Projekt zu Recht „protzig, gigantisch“. Für den Natur- und Klimaschutz ist es die „nachhaltige“ Fortführung einer ökologischen Fehlentscheidung.

Ja, es hätte in der Tat ein wunderbarer Kanzlerpark werden können, eine „beneidenswerte Möglichkeit, in einem Stück Urwald zu lustwandeln, seinen Gästen einen kleinen Ökopark im Herzen der Hauptstadt zu offerieren, sich vom Gesang der Nachtigall inspirieren zu lassen. Und das bei minimalem Aufwand und fast ohne Kosten!“, wie Gudrun Radev von der Grünen Liga im Dezember 1996 im Rabe-Ralf-Titelbeitrag schrieb. Doch der Irrweg geht weiter.

Lydia Schend

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