Strecke oder Schnecke?

Aus DER RABE RALF August/September 2021, Seite 3

Drei Jahre Mobilitätsgesetz in Berlin – eine Bilanz

Aktion auf der Weddinger Müllerstraße im Juni: Ein geschützter Radweg aus „menschlichen Pollern“. (Foto: Norbert Michalke/​Changing Cities)

Das Berliner Rad-Vorrangnetz, das laut Mobilitätsgesetz 2030 fertig sein soll, kam 2020 keinen Millimeter voran: Null Komma null Kilometer wurden letztes Jahr eingerichtet. Das ergab eine Umfrage des Vereins Changing Cities unter den zwölf „Fahrradfreundlichen Netzwerken“ Berlins. Der Senat dagegen behauptet, es sei „ein Vorrangnetz … von rund 850 Kilometern sowie ein Ergänzungsnetz von rund 1500 Kilometern … entwickelt“ worden.

Sicher und stressfrei Rad fahren

Um zu verstehen, wie solche Diskrepanzen zustande kommen, müssen wir ins Jahr 2015 zurückgehen. Da formierte sich eine kleine Gruppe in Neukölln, die gegen die bisherige Verkehrspolitik aufbegehrte. Sie wollte den Verkehr aus den Händen der ausschließlichen Expert:innen holen und ihn stattdessen auf die politische Agenda setzen. Die Gruppe war sich sicher, dass die herkömmliche Perspektive auf Verkehr nicht mehr der Perspektive der Bürger:innen entsprach. Ihr Bauchgefühl sagte: Die Leute wollen sicher und entspannt Rad fahren.

Das Prinzip des Volksentscheids ermöglichte eine zügige Politisierung, die sich auch sofort auszahlte: In dreieinhalb Wochen wurden mehr als 100.000 Unterschriften für ein Radgesetz in Berlin gesammelt. Der Rest ist Geschichte: Die neugewählte rot-rot-grüne Koalition übernahm die Ziele des Volksentscheids, ein Mobilitätsgesetz wurde mit der Zivilgesellschaft verhandelt und im Juni 2018 verabschiedet.

Es zeigte sich sehr schnell, dass nicht nur in Berlin die Verkehrswende herbeigesehnt wird. Bis heute haben sich bundesweit 48 Radentscheide formiert, die sich mit ähnlichen Zielen dafür engagieren, die lokale Verkehrspolitik zu drehen. Damit haben etwa eine Million Menschen bereits für die Verkehrswende in Deutschland unterschrieben, Tendenz steigend.

Durch einladende Infrastruktur sollen die Menschen in Berlin bis 2030 zum Radfahren verführt werden. Das Potenzial ist riesig: In Berlin ist etwa jede zweite Kfz-Fahrt kürzer als fünf Kilometer, jede fünfte ist sogar kürzer als zwei Kilometer und nur eine von vier Fahrten ist länger als 10 Kilometer. Bei täglich über zwei Millionen Kfz-Fahrten liegt hier also ein sehr großes Radfahr-Potenzial – wenn die Voraussetzungen auf der Straße stimmen.

Senat im Verzug

Die Senatsverwaltung muss dafür einiges an Papierarbeit leisten und ist deutlich im Verzug:

  • Vorgaben für die Radverkehrsplanung: geplante Fertigstellung Juli 2019 – Verabschiedung Februar 2021
  • Radverkehrsplan: geplante Fertigstellung Juli 2020 – noch in der Senatsabstimmung
  • Berliner Radverkehrsnetz: geplante Fertigstellung Juli 2020 – lag als Entwurf vor, Änderungshinweise wurden bisher nicht eingearbeitet
  • Ausführungsvorschriften über Geh- und Radwege: seit Februar 2017 in Überarbeitung
  • Verkehrssicherheitsprogramm: Ende 2020 abgelaufen

Der Radverkehrsplan ist die entscheidende Grundlage für Planer:innen im Senat und in den Bezirken. Laut Mobilitätsgesetz soll er „konkrete Ausbauvorgaben insbesondere zur Errichtung des Radverkehrsnetzes unter Angabe von Jahresausbauzielen (Quantitäten) und Schritten zur Verwirklichung der Ziele (Ausbaupfade) sowie zu den Qualitäten der geplanten Radverkehrsanlagen“ enthalten. Ob dies tatsächlich der Fall ist, ist nicht bekannt. Denn Changing Cities und die übrigen Verbände sind bereits im Februar 2019 aus den Verhandlungen zu den Vorgaben ausgestiegen, weil der Senat nicht bereit war, eindeutige und überprüfbare Ziele darin festzuhalten.

Bekannt ist, dass die Verbände dem Senat im Oktober 2018 ein fertig ausgearbeitetes Radnetz für Berlin schenkten, erstellt von lokalen Fachleuten, die sich zum Teil seit Jahrzehnten für eine bessere Radinfrastruktur in Berlin engagieren. Das zivilgesellschaftlich erarbeitete Netz verschwand allerdings schnell in der Schublade. Stattdessen entwickelte der Senat ein eigenes Netz, das er mit Verspätung im Herbst 2020 den Verbänden und Bezirken zur Überprüfung vorlegte. Über tausend Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge waren das Ergebnis. Was daraus wurde, ist ebenfalls unbekannt. Wahrscheinlich werden sie als Anhang „zur Kenntnis genommen“. Denn die Senatsverwaltung hat es eilig: Sie möchte anscheinend um jeden Preis erreichen, dass der Radverkehrsplan noch vor der Wahl verabschiedet wird. Deshalb ist zu befürchten, dass der entscheidende und aufwendige Teil fehlen wird, nämlich der Maßnahmenplan mit den genauen Vor-Ort-Maßnahmen und einem überprüfbaren Zeitplan zu ihrer Umsetzung. Ohne diese Angaben verliert aber der Radverkehrsplan seine Wirksamkeit und öffnet Tür und Tor für Blockierer, Bremserinnen und Verweigerer der Verkehrswende.

Die Senatsverwaltung liegt also hinter dem Zeitplan des Mobilitätsgesetzes zurück. Noch desaströser wird es allerdings, wenn man die Realität auf der Straße anschaut. Changing Cities hat bei den zwölf Fahrradfreundlichen Netzwerken nachgefragt, was in ihren Bezirken im Jahr 2020 umgesetzt wurde, und die Summen addiert. Von den etwa 1.400 Kilometern Radwegen an Hauptstraßen, die die Senatsumweltverwaltung bisher als Ziel für 2030 ausgegeben hat, wurden 2020 nur 39,5 Kilometer oder 1,4 Prozent fertiggestellt, wobei die provisorischen 25 Kilometer „Pop-up-Radwege“ mitgezählt sind. Von geplanten 1486 Kilometern Nebenstraßen wurden 2020 ganze 5,5 Kilometer fertiggestellt, das sind 0,4 Prozent des Gesamtziels. Noch kein einziger Meter existiert von den vorgesehenen Vorrangnetz- und Radschnellverbindungen (772 beziehungsweise 147 Kilometer).

Trotz Pop-up-Maßnahmen sind die Ergebnisse niederschmetternd: Berlin bräuchte in diesem Tempo 100 bis 200 Jahre, um die Ziele des Mobilitätsgesetzes zu erreichen.

Woran liegt es?

Es scheint, als ob die Verantwortlichen die Größe der Aufgabe nicht begriffen haben. Um die Mobilität einer Millionenstadt zu ändern, reichen ein paar Maßnahmen nicht aus. Die Verkehrswende setzt bei den Verantwortlichen im Senat und in den Bezirken einen Perspektivwechsel voraus: weg von der Planung für das Auto hin zu einer Förderung klimafreundlicher Mobilitätsformen.

Da rächt es sich, dass es auch nach drei Jahren kein Fortbildungsprogramm gibt. So entstehen häufig Mehrfachplanungen, wie in der Kolonnenstraße in Schöneberg oder auf der Oberbaumbrücke. Scheindebatten über Zuständigkeiten werden geführt, statt denjenigen in der Verwaltung den Rücken zu stärken, die ein Verständnis für die Erfordernisse der Verkehrswende mitbringen.

Friedrichshain-Kreuzberg ist der einzige Bezirk, der das erforderliche „Change Management“ erkennen lässt. Die Verwaltung wählt einen kooperativen Planungsansatz, sie bezieht – bei einem klaren Rollenverständnis – zivilgesellschaftliche Expertise ein und hat attraktive Arbeitsbedingungen jenseits hoher Gehälter geschaffen.

Es gibt also durchaus Gründe, weshalb Verbände und Senat den bisherigen „Erfolg“ so unterschiedlich einschätzen. Eine gelungene Verkehrswende, das sind nicht nur verkehrsberuhigte Straßen und mehr Sicherheit für alle. Die Verkehrswende ist auch ein Bekenntnis zum Wandel. Berlin braucht eine Verwaltung und Führung mit einem Selbstverständnis als Problemlöserin und nicht als Bedenkenträger. Oder wie Goethe gesagt haben soll: „Erfolg hat drei Buchstaben: TUN“.

Ragnhild Sørensen 

Weitere Informationen: www.changing-cities.org

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