Nachhaltig wirtschaften – aber wie?

Aus DER RABE RALF August/September 2020, Seite 18/19

Teil 3: Trotz allem nicht aufgeben – Wirtschaftsdemokratie!

„Was wirklich wichtig ist“, versucht Attac mit Corona-Aktionen zu vermitteln. (Foto: attac.de/corona)

Kein Massentourismus, keine Kreuzfahrten, Flugzeuge blieben am Boden und die Autoproduktion kam zum Erliegen. Die Maßnahmen des Corona-Lockdowns, die auch unter Klimagesichtspunkten vernünftig waren, haben keinen Bestand. Das war zu erwarten. Obwohl bekannt ist, dass die Klimakatastrophe längst stattfindet und dass die klimapolitischen Ziele mit dieser Wirtschaft unerreichbar sind, hat die Politik nichts Besseres zu tun, als mit einem Konjunkturpaket dafür zu sorgen, dass es möglichst schnell wieder weitergeht wie bisher, auf den bekannten Pfaden, die schon heute die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen zerstören.

Kaum nehmen die Ansteckungen mit Corona ab, wird die Wirtschaft wieder hochgefahren. Das Konjunkturpaket soll die Rezession abfedern und ist auf Konsumanreize, Wirtschaftswachstum und Standortpflege ausgerichtet. Zwar gibt es wenigstens keine Abwrackprämie für Autos mit Verbrennungsmotor, aber auch die Subventionierung von Elektroautos geht in die falsche Richtung. Statt den Individualverkehr zu fördern, wäre es notwendig, den öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen. Zuverlässiger, günstiger oder noch besser gleich kostenlos – und vor allem flächendeckend. Städtische Randlagen und ganze Regionen auf dem Land müssten problemlos autofrei erreichbar sein, denn der Verkehr gilt als einer der schlimmsten Klimakiller. In anderen Bereichen sinken die Treibhausgasemissionen seit 1990, beim Verkehr sind sie gleich geblieben.

Umweltschäden töten mehr Menschen als Corona

Dass Zahlen nicht immer verlässlich und daher mit Vorsicht zu genießen sind, zeigte sich in den letzten Monaten auch bei den verwirrenden Angaben zu Corona-Infektionen. Aber Zahlen sind nicht egal. So ist dem Epidemiologischen Bulletin des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Juni 2019 zu entnehmen, dass 2018, im zweitheißesten Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnung, allein in Berlin 490 Menschen an der Hitze gestorben sind. Bundesweit wurde damals von etwa 10.000 Hitzetoten ausgegangen. Betroffen waren vor allem ältere Menschen, ebenso wie bei Corona. An dem Virus starben bisher laut RKI 217 Menschen in Berlin, in Deutschland insgesamt 9.063 (Stand 12. Juli 2020).

Noch gefährlicher sind die Auswirkungen der Luftverschmutzung. Im Oktober 2018 teilte das Umweltbundesamt mit, dass in den Jahren 2007 bis 2015 jährlich etwa 44.900 Menschen deutschlandweit vorzeitig durch Feinstaub gestorben seien. Das Ärzteblatt berichtete im Februar 2020 von einer Studie, wonach in Deutschland in jedem Jahr etwa 80.000 Menschen durch Luftverschmutzung sterben, weltweit wurden 4,5 Millionen Luftverschmutzungstote pro Jahr ermittelt. Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung oder auch nur annähernd drastische Eingriffe in die Wirtschaft wie bei Corona? Fehlanzeige.

Am 3. Juli verabschiedeten Bundestag und Bundesrat mit der Koalitionsmehrheit das sogenannte „Kohleausstiegsgesetz“ mit Milliardensubventionen für die Kohlereviere. Die Grünen kritisieren es zu Recht als „Kohleverlängerungsgesetz“.

Wie glaubwürdig ist angesichts all dessen der behauptete Bevölkerungsschutz durch die Corona-Politik? Steht wirklich die Gesundheit der Bevölkerung im Mittelpunkt, oder geht es um ganz andere Interessen?

In den Anfangszeiten der Corona-Pandemie schien es, als würden soziale Werte an Bedeutung gewinnen. Es wurde gefragt, was wirklich wichtig ist und was Menschen zum Leben brauchen. Angesichts der Gefahren des neuartigen Virus und der politisch und medial beförderten Angst vor Ansteckungen wurde die Verletzlichkeit aller Menschen spürbar. Die Bedeutung einer guten, zuverlässigen Gesundheitsversorgung geriet in den Blick. Es gab Momente der Wertschätzung für diejenigen, die in der Pflege arbeiten – das scheint schon fast wieder vergessen. In Lohnerhöhungen oder gar besseren Arbeitsbedingungen drückte sich das nicht aus, im Gegenteil. Vorerst bis zum Jahresende wurde die in der Pflege zulässige Arbeitszeit auf bis zu 12 Stunden am Tag ausgedehnt.

Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen werden zunehmend privatisiert und haben dann vorrangig die Aufgabe, Profite zu erwirtschaften. Die Kranken und zu Pflegenden sind Mittel zum Zweck, ebenso wie das Personal. Mit der Krankenhausfinanzierung durch Fallpauschalen wird der Dienst am Menschen auch in öffentlichen und freigemeinnützigen Einrichtungen betriebswirtschaftlichem Denken unterworfen. Die erschreckenden Auswirkungen auf die Gesundheit und auf die Beschäftigten zeigen Leslie Franke und Herdolor Lorenz anschaulich in ihrem 2018 fertiggestellten Film „Der marktgerechte Patient“. Sie zeigen jedoch auch, wie es anders besser geht, ohne Beratung von McKinsey und Co, wenn die Krankenhausleitung selbst die Verantwortung übernimmt.

Agroindustrie macht Hunger und Pandemien

Die Unterwerfung der Welt unter das Diktat der Profitmaximierung ist ein menschheitsbedrohendes Problem, das lässt sich kaum noch leugnen und war auch lange vor Corona klar. Schon 2008 hatte der Weltagrarrat – ein auf Vorschlag der Weltbank von den Vereinten Nationen einberufenes wissenschaftliches Gremium – einen Weltagrarbericht vorgelegt, wonach nur eine kleinbäuerliche Landwirtschaft im Sinne der Ernährungssouveränität in der Lage sei, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. 64 Länder hatten damals den Bericht unterzeichnet und damit Ernährungssouveränität zu ihrem politischen Ziel erklärt – Deutschland nicht. Ernährungssouveränität bedeutet, dass jedes Land und jede Gemeinde das Recht hat, über die eigene Landwirtschaft und Ernährung demokratisch selbst zu bestimmen.

Via Campesina, der Verband von Kleinbäuerinnen und Landlosen, hatte dies schon lange gefordert. Ernährungssouveränität geht weiter als Ernährungssicherung, bei der lediglich gewährleistet werden soll, dass alle Menschen genug zu essen haben – was jedoch nicht gelingen kann, so lange Landnutzung und Lebensmittelproduktion in der Hand von Konzernen und Finanzinvestoren liegen, die systematisch die Natur zerstören, indem sie Böden verseuchen und Grundwasser übernutzen, und die Arbeitenden unter oft sklavereiähnlichen Bedingungen ausbeuten. Nur eine kleinbäuerliche Landwirtschaft ist in der Lage, eine wachsende Weltbevölkerung zu ernähren.

Auch die Corona-Pandemie ist nicht plötzlich aus dem Nichts gekommen, sondern hat ihre Ursachen in der industriellen Landwirtschaft und Viehzucht sowie in der Abholzung von Urwäldern. Darauf wies beispielsweise der US-amerikanische Evolutionsbiologe Rob Wallace in einem Interview mit der Zeitschrift marx21 bereits im März 2020 hin. Durch die Globalisierung können sich die Erreger dann innerhalb kürzester Zeit weltweit verbreiten.

Während Deutschland noch glimpflich davon gekommen ist, sind andere Länder weitaus stärker betroffen, nicht nur vom Virus selbst. „In Folge der Covid-19-Pandemie könnten bis zum Jahresende täglich weltweit bis zu 12.000 Menschen an Hunger sterben“, teilte die internationale Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam am 9. Juli in einer Pressemitteilung mit, „möglicherweise sogar mehr als an der Krankheit selbst“. Vor allem Frauen seien besonders betroffen. Gleichzeitig hätten die acht größten Lebensmittel- und Getränkeunternehmen seit Januar 18 Milliarden Dollar an ihre Aktionäre ausgezahlt, das sei „zehnmal mehr als der Betrag, den die Vereinten Nationen benötigen, um Hunger zu bekämpfen“. Oxfam fordert von den Regierungen finanzielle Hilfen und Schuldenstreichungen für arme Länder, außerdem die Förderung kleinbäuerlicher Landwirtschaft.

Nicht die Wirtschaft retten, sondern Menschen

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin rechnet mit einem gegenüber 2019 um 9,4 Prozent verminderten Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr, das durch das Konjunkturpaket auf 8,1 Prozent abgemildert werden könnte. Einen solchen Wirtschaftseinbruch hat es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gegeben. Die Arbeitslosigkeit wird weiter zunehmen, viele kleine Unternehmen werden die Pandemie trotz Soforthilfen kaum überstehen. Mit großem Geld werden vor allem Großunternehmen unterstützt, über direkte Subventionen oder Kreditgarantien. Dieses „degrowth by disaster“ wird absehbar die ohnehin schon Benachteiligten und Marginalisierten besonders treffen, aber auch viele, die sich heute noch zur Mittelschicht zählen.

Eine aus Gründen der Klimagerechtigkeit dringend erforderliche Wachstumsrücknahme (degrowth) bräuchte stattdessen eine Wirtschaftspolitik des sozialen Ausgleichs, mit gerechter Besteuerung und einer zuverlässigen Grundversorgung für alle. Dafür wären gerade jetzt öffentliche Investitionen in öffentliche, demokratisch bewirtschaftete Infrastrukturen erforderlich statt Hilfen für Private. Denn warum soll „die Wirtschaft“ gerettet werden?

Die Wirtschaft ist keine Person, sie hat keine eigenen Rechte, ihr sollte endlich der Subjektstatus aberkannt werden, denn „die Wirtschaft“ gibt es nicht. Was heute gemeinhin darunter verstanden wird, hat aufgrund von Profitstreben, Konkurrenz und Wachstumsorientierung überwiegend destruktiven Charakter. In den ersten beiden Beiträgen dieser Artikelserie zum nachhaltigen Wirtschaften ging es darum, dass ein anderes Verständnis von Wirtschaft notwendig ist (Rabe Ralf Februar und April 2020, jeweils S. 18). Das Wirtschaften sollte wieder in die Gesellschaft eingebettet sein, als ein Prozess zur Herstellung des Lebensnotwendigen, der den Menschen dient, ohne die die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören.

In Weltregionen, die noch nicht der kapitalistischen Marktlogik unterworfen sind, gibt es solche Ökonomien, die auf Selbsthilfe und Kooperation beruhen. Durch Privatisierungen und Landnahme sind sie jedoch gefährdet. Solidarische Ökonomien existieren weltweit teilweise jenseits, teilweise auch innerhalb der Märkte, als genossenschaftliches Wirtschaften und auch in öffentlichen Versorgungsökonomien (Rabe Ralf Februar 2019, S. 20). Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass ihr Antrieb nicht die Gewinnerwirtschaftung ist und dass sie mehr oder weniger demokratisch organisiert sind.

Das „Weltsozialforum Transformatorische Ökonomien“, das für Juni 2020 als große globale Veranstaltung in Barcelona geplant war, musste in dieser Form ausfallen. Stattdessen gab es ein umfangreiches Online-Programm. In einem „Internationalen Manifest für Solidarische Ökonomie“ weisen 45 Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Studierende auf die Existenz und Bedeutung bereits existierender solidarökonomischer Strukturen in allen Kontinenten hin. Sie fordern, dass die Akteure der Solidarwirtschaft gehört werden, denn „Anpassungen des bestehenden Systems sind erforderlich, aber sie werden nicht ausreichen. Die durch die Solidarwirtschaft initiierten Experimente sind Träger neuer Beziehungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, sowohl in ihrer menschlichen als auch in ihrer nicht-menschlichen Dimension.“ Die Wirtschaft, die für die Zukunft notwendig sei, existiere bereits, für ihren Ausbau sei „eine neue Generation öffentlichen Handelns erforderlich“.

Jetzt erst recht – Wirtschaftsdemokratie

Mit der Forderung nach öffentlichem Handeln ist direkt die Frage der Demokratisierung angesprochen. Statt einer „marktkonformen Demokratie“, wie sie Kanzlerin Angela Merkel am 1. September 2011 propagierte, wäre umgekehrt eine Demokratisierung der Wirtschaft auf allen Ebenen – von lokal bis transnational – notwendig. Der Bielefelder Jura-Professor Andreas Fisahn spricht von einer derzeit „halbierten Demokratie“ und fordert, dass „ein emanzipatorischer Begriff der Demokratie auch ökonomische Gesetzmäßigkeiten in den Blick nehmen und ihnen gegenüber den Vorrang der Politik betonen“ muss.

Wirtschaftsdemokratie hat zwei Dimensionen, zum einen die betriebliche, zum anderen die volkswirtschaftlich-gesellschaftliche. Auf betrieblicher Ebene gibt es hierzulande genossenschaftlich organisierte selbstverwaltete Betriebe und Projekte, die oftmals aus dem ausdrücklichen Wunsch der Beteiligten entstehen, „ohne Chef und Staat“ arbeiten zu wollen. Einige von ihnen haben sich in Berlin im Kollektive-Netz zusammengeschlossen, eine Kollektive-Liste für den deutschsprachigen Raum ist im Aufbau. Diese Betriebe und Projekte solidarischen Wirtschaftens sind ein Vorschein des Morgen im Heute. Kollektivbetriebe und Hausprojekte, Solidarische Landwirtschaft und emanzipatorische Bildungsprojekte können als Keimformen verstanden werden, in denen neue Praktiken des sozialen Austauschs erprobt werden, beispielsweise in der Arbeit und Entscheidungsfindung, beim Teilen des Ertrages oder in der Gestaltung des sozialen Miteinander.

Demonstration für den Erhalt des Berliner Kinos Colosseum im Juli. Die Beschäftigten wollen eine Genossenschaft gründen. (Foto: arbeitsunrecht.de)

Die Übernahme bestehender Unternehmen durch die Beschäftigten – vor allem durch Betriebsbesetzungen in Lateinamerika bekannt geworden – ist hingegen in Deutschland sehr selten. Das soll sich nach Auffassung der Aktion Arbeitsunrecht ändern. Der von dem Kölner Publizisten Werner Rügemer 2014 initiierte Verein setzt sich für die Rechte besonders ausgebeuteter Beschäftigter ein, von Putzleuten und Hostel-Beschäftigten über Arbeitende in der Fleischindustrie bis zu Pilotinnen und Piloten. Auf einer Konferenz im Juni 2020 in Berlin diskutierten Fachleute unterschiedlicher Disziplinen zum Thema „Workers‘ Buy-out – Arbeiter*innen-Kontrolle statt Betriebe schließen“. In seiner Eröffnungsrede kritisierte Rügemer ausgesprochen scharf den „Pandemien- und Unternehmer-Staat Deutschland“. An dessen Stelle sollen nun die Arbeitenden selbst „in einem großen demokratischen Experimentierfeld die Verantwortung“ für ihre eigenen Arbeitsplätze übernehmen und diese damit zukunftsfähig machen.

Wie demokratisches Wirtschaften über einzelne Betriebe hinaus möglich sein kann, möchte die niederländische Hauptstadt Amsterdam zeigen. Dazu hat die stellvertretende Bürgermeisterin Marieke van Doorninck die britische Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth beauftragt, gemeinsam mit der Stadtverwaltung einen Leitfaden für eine gedeihliche Stadtentwicklung im planetarischen Gleichgewicht zu erarbeiten. Das von Raworth entwickelte Modell einer sozial-ökologischen Donut-Ökonomie wurde im ersten Teil dieser Artikelreihe vorgestellt (Rabe Ralf Februar 2020, S. 18). In weiteren Beiträgen soll es um die Erfahrungen aus Amsterdam gehen, sowie um die verschiedenen Vorstellungen von einem Green New Deal.

Elisabeth Voß

Teil 1: Vorschlag zum Gelingen – mit Donut-Ökonomie und demokratischer Umsetzung

Teil 2: Weniger Globalisierung und Wachstum durch Corona – eine Chance zum Umsteuern?

Weiterer Artikel zum Thema in dieser Ausgabe:
Von den gelebten Alternativen lernen: Wandelwoche Berlin-Brandenburg


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