Aus DER RABE RALF Dezember 2020/Januar 2021, Seite 6
Bernd Riexingers illusionäre Erwartungen an die Konversion der Autoindustrie
Bernd Riexinger, Gewerkschaftssekretär bei Verdi und Vorsitzender der Linkspartei, hat in einem Vortrag im Oktober 2020 gefordert, in der Automobilbranche müsse überlegt werden: „Was kann die Autoindustrie produzieren außer Autos?“ Diese Frage stellt sich für Riexinger aus zwei Gründen.
„Wir müssen weg vom Individualverkehr“, lautet das erste Motiv. Riexinger zufolge ist das aus ökologischen Gründen erforderlich, vor allem deshalb, weil „die meisten Emissionen beim Bau der Autos entstehen“. Er rückt dieses Argument in den Vordergrund und wendet sich gegen die Überbetonung der „Frage des Antriebs“ beim Auto.
Zweitens weist Riexinger auf die großen Engpässe für den Ausbau von Bahn und ÖPNV hin. „Die Bahn kann nicht ausgebaut werden, weil die Lieferanten weder Lokomotiven noch Waggons, noch Zubehör, noch Weichen liefern können.“ Der Ausbau des Nahverkehrs „funktioniert momentan nicht, weil nicht einmal für den bestehenden Bedarf Waggons, Triebwagen und viele andere Dinge geliefert werden können“, argumentiert er. „Das sind alles Dinge, die die Automobilindustrie mit ihrem Know-how produzieren kann.“
Busse und Bahnen bauen statt Autos
Auch Riexinger befürwortet den grundlegenden ökologischen Umbau, fragt aber: „Wie können wir trotzdem die Arbeitsplätze schützen?“ Seine Antwort: die Umstellung der Autoindustrie auf den Bau von Fahrzeugen und Geräten für das öffentliche Verkehrswesen. „Ich bin überzeugt, dass das mehr Arbeitsplätze schafft als der Umstieg auf das Elektroauto.“
Gewiss ist für Gewerkschafter naheliegend, sich am Horizont der lohnabhängig Beschäftigten zu orientieren. Unter den Zwängen der kapitalistischen Ökonomie gibt es bei den Interessen von Lohnabhängigen eine Rangfolge. Dabei steht das Interesse, überhaupt als Arbeitskraft nachgefragt zu werden und lohnabhängig tätig sein zu können, an erster Stelle. An zweiter Stelle folgt das Interesse an der Lohnhöhe, während die Interessen am Inhalt der Arbeit sowie am Schutz der Umwelt an nachgeordneter Stelle rangieren. Politiker einer linken Partei müssen diese Interessenhierarchie bei ihren Strategieüberlegungen sicherlich berücksichtigen.
Widersinnig ist es allerdings, die bestehende kapitalistische Wirtschaft und ihre Nachfrage nach Arbeitskräften zum positiven Ausgangspunkt zu nehmen. Dann bleibt die Forderung nicht aus, Alternativkonzepte zum Kapitalismus am kapitalistischen Maßstab zu messen. Daraus folgt dann auch ein problematisches Kriterium für ein ökonomisches Alternativkonzept: Es sei erst dann erstrebenswert, wenn es den Bestand von mindestens genau so vielen Arbeitsplätzen sichere wie in der kapitalistischen Gegenwart.
Weniger Fahrzeuge heißt weniger Arbeitsplätze
Anders dürften es diejenigen sehen, die an der kapitalistischen Ökonomie die Verschwendung von Arbeit kritisieren. Der Verkehrssektor ist dafür als Beispiel besonders gut geeignet. Man kann sich die Ineffektivität des privaten Pkw als zentralem Verkehrsträger schon anhand der Verkehrszahlen Berlins vergegenwärtigen: Immerhin 1,3 Millionen Pkw und Motorräder sind hier zugelassen. Sie erbringen in Berlin 41 Prozent der Verkehrsleistung. Ihnen stehen rund 1.500 Busse, 1.300 U-Bahn-Wagen, 350 Straßenbahnen und 1.300 S-Bahn-Wagen gegenüber, die mit 42 Prozent eine ähnliche Leistung erbringen. Rund 4.400 Fahrzeuge leisten also das Gleiche wie 1,3 Millionen Pkw und Motorräder. Die Umsteuerung der Ökonomie – weg von der Autoproduktion, hin zur Produktion der Fahrzeuge für das öffentliche Verkehrswesen – ist ökologisch vorteilhaft. Aber der von Riexinger verheißene Effekt der Erhaltung von Arbeitsplätzen wird damit nicht erreicht.
Und dabei haben wir noch gar nicht berücksichtigt, dass Schienenfahrzeuge häufig 30 Jahre und länger im Einsatz sind. Das Durchschnittsalter der Fahrzeuge der Berliner S-Bahn beträgt zurzeit etwa 21 Jahre, während Pkw sehr viel rascher ausgetauscht werden, derzeit im Schnitt nach 9,6 Jahren. Mehr als 10.000 Fahrzeuge – plus eventuell noch einige Tausend Taxis und Carsharing-Autos – wären also in Berlin auch bei kompletter Verdrängung des motorisierten Individualverkehrs nicht absetzbar.
Die Umorientierung von der Autoproduktion zur Produktion für das öffentliche Verkehrswesen leistet viel Gutes. Eines aber bringt sie nicht zustande: den Erhalt von Kapazitäten in der nun umgerüsteten vormaligen Autoindustrie.
Etwas anderes wäre es, wenn Riexinger sagen würde: Die Beschäftigten der Autoindustrie sollen im Rahmen einer grundlegenden Verkehrswende Busfahrer, Lokführer und sonstige Beschäftigte von Verkehrsunternehmen werden. Würde er das sagen, würde er nicht von einer Konversion der Autoindustrie sprechen, sondern von ihrer massiven Schrumpfung. Pkw würden dann nur noch für Taxis, Polizei und ähnliche Zwecke produziert.
Doch auch dann könnten nicht alle 2,2 Millionen heute in der Automobilwirtschaft Tätigen künftig im Mobilitätssektor Beschäftigung finden, wie eine Überschlagsrechnung zeigt: Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg „produziert“ mit 24.000 Beschäftigten derzeit rund 13 Milliarden Personenkilometer. Der motorisierte Individualverkehr leistet im Jahr 935 Milliarden Personenkilometer. Wird letzterer zu 90 Prozent durch öffentlichen Verkehr ersetzt, werden dafür bei gleicher Produktivität 1,55 Millionen Personen benötigt. Tatsächlich dürfte diese Zahl noch erheblich niedriger liegen, weil Produktivität und Auslastung mit wachsendem Anteil am Gesamtverkehr zunehmen.
Riexingers Vorschlag möchte es allen recht machen: den ökologisch Engagierten, den vorrangig an den Arbeitsplätzen Interessierten und den Freunden des öffentlichen Verkehrswesens. In seinem Modell sollen alle gewinnen und niemand verlieren. Riexinger drückt damit die Defensive aus, in der diejenigen stecken, die sich wirklich für eine ökologisch verantwortbare Wirtschaft und für den Abbau des motorisierten Individualverkehrs einsetzen.
Wo ein Wille ist, ist nicht immer ein Weg
Wer nur nach der Zustimmung zum jeweiligen Einzelziel fragt, kann hohe Prozentwerte erwarten. Wer aber nach einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive fragt, wird schnell bemerken, dass dem Interesse an menschlich erstrebenswerten ökologischen Lebensbedingungen innerhalb der kapitalistischen Ökonomie das Interesse der Lohnabhängigen am Arbeitsplatz in die Quere kommt. Und den kapitalistischen Unternehmen sind die Produkte ziemlich gleichgültig, nicht aber der in ihrer Produktion geschaffene Mehrwert. Und der sinkt eben im Zuge der Konversion, wenn die Produktion für die Bahn und den ÖPNV ein weit geringeres Volumen aufweist als die Produktion für den Autoverkehr. Darin liegt auch eine Ursache für den Vorrang des Autos in der Verkehrspolitik – und ebenso für die geringe Produktivität in der Industrie, die Fahrzeuge für die Bahn und den ÖPNV liefert.
Für Illusionisten ist der politische Wille das A und O. Alles könnte anders sein, wenn nur die Politik anders wäre. Objektive Ursachen für die gegebenen Zustände blenden diese Polit-Voluntaristen notorisch aus. Sie meinen, eine grundlegend andere Politik sei möglich, auch im Kapitalismus. Als Beleg verweisen sie gern auf die Schweiz. Tatsächlich haben dort die Bahn und der ÖPNV einen anderen Stellenwert als in Deutschland. Beliebt ist der leichtfüßige Schluss: Was in der Schweiz unter den gegebenen kapitalistischen Bedingungen möglich ist, könnte – den entsprechenden politischen Druck vorausgesetzt – auch in Deutschland möglich sein. Diese Folgerung übersieht eine Kleinigkeit: die Abwesenheit einer Schweizer Autoindustrie.
Die Grünen empfehlen sich seit Langem als Partei, die Ökologie und kapitalistische Wirtschaft versöhnt. Bernd Riexinger versucht sich nun auf andere Weise an dieser Quadratur des Kreises.
Kai Paulsen