Pflanzen gegen das Vergessen

Aus DER RABE RALF Dezember 2018/Januar 2019, Seite 15

Ein Besuch in der kolumbianischen Stadt Medellín

El Aka in seinem Projekt: Graffiti zeigen den Schmerz, Pflanzen spenden Hoffnung. (Foto: Silvia Hesse)

Zur Internationalen Gartenausstellung IGA 2017 in Berlin hatte die Grüne Liga eine Urban-Farming-Konferenz veranstaltet, um den länderübergreifenden Austausch zum Gärtnern in der Stadt und die Vernetzung der Projekte von Initiativen und Kommunen zu verbessern (Rabe Ralf Oktober 2017, S. 8). Beispiele aus 34 Ländern zeigten, wie weltweit auf Dächern, Brachflächen, Hochbeeten, in Behältnissen aller Art, an Wänden, auf privaten und öffentlichen Flächen, auf natürlichem Boden oder auf Nährstofflösung gegärtnert und geackert wird. Was die Projekte und somit die Menschen verbindet, ist der Einsatz für ein soziales und interkulturelles Miteinander. Gerade auch in Konflikt- und Krisengebieten sind solche Aktivitäten enorm wichtig. Der Workshop „Konflikttransformation“ auf der Konferenz konnte das mit Beispielen aus Syrien, Gaza und Kolumbien eindrucksvoll untermauern.

Beeindruckt von den Aktivitäten hat die Autorin einen Aufenthalt in Kolumbien genutzt, um Informationen und Hintergründe zum Projekt „Agroarte El Aka Medellín“ in Erfahrung zu bringen. Mit ihrem Sohn und zwei kolumbianischen Freunden besuchte sie die beiden Aktivisten Wilmar Botina und Luis Fernando Àlvarez, der als Rapper „El Aka“ in Kolumbien bekannt ist.

Das Leid einer Stadt

Die Agroarte-Initiative wurde 2002 in der Millionenstadt Medellín gegründet. Eine Rolle spielten dabei die militärische „Operation Orion“ und die Escombrera, die Bauschutt-Deponie, im Stadtbezirk Comuna 13 (San Javier).

Die Escombrera in der Comuna 13 ist ein großes Massengrab. Es war immer ein offenes Geheimnis, dass die Erde dort mit Leichen durchsetzt ist. In den 1980er Jahren warf das Medellín-Kartell, ein über anderthalb Jahrzehnte agierendes Rauschgift- Netz, seine Toten dorthin. Anschließend wurde die Deponie für denselben Zweck von den Guerilla-Milizen Farc, ELN und CAP genutzt – ebenso wie von den gegen sie kämpfenden Paramilitärs. Heute erinnert der Ort vor allem an einen Schmerz, der nicht heilen konnte.

Bei der Operation Orion handelt es sich um eine von der Regierung Uribe im Jahre 2002 ausgeführte militärische Aktion, mit der die staatliche Kontrolle über die 23 Ortsteile der Comuna 13 mit Gewalt wiedererlangt wurde. Die Paramilitärs des dort zuletzt „herrschenden“ Cacique Nutibara Bloc unter dem Kommando von „Don Berna“, unter dessen „Patronat“ viele Menschen spurlos verschwunden waren, mussten aufgeben. Die Kämpfe mit ein paar Tausend Beteiligten auf beiden Seiten waren sehr blutig und forderten viele zivile Opfer.

Agroarte – Gärtnern und Kunst

In der folgenden Zeit des Neuanfangs gründeten Bewohner von San Javier noch 2002 die Gruppe Agroarte El Aka Medellín. Unter den Bewohnern war die Erkenntnis gereift, dass die „Eliten“ des Landes, ob Guerilla, Paramilitärs oder Regierung, meilenweit von der normalen Bevölkerung entfernt sind. Wenn jemand die Konflikte entschärfen konnte, dann nur die Leute aus den Vierteln selbst. Dementsprechend sind die Hauptelemente des Projekts angelegt: Gartenarbeit und Kunst, die beide durch Bildungsangebote ergänzt werden sollten. Ganz wichtig sollte auch die Frage sein, wie man die Gewalt wieder aus den Köpfen bekommt – damals wie heute die Frage der Stunde, nicht nur für Medellín, sondern für ganz Kolumbien.

Erinnerungspflanzen und Hip-Hop

Für Agroarte geht es beim urbanen Gärtnern nicht nur um den Arbeitsprozess, sondern vielmehr um eine symbolische Handlung. Pflanzen sind, so gesehen, Zeichen der Hoffnung und des Wachstums. So wurden in den vergangenen Jahren Erinnerungspflanzen und -bäume gepflanzt und mit Tafeln des Erinnerns versehen. Blumen, Kräuter, auch Gemüsepflanzen werden in recycelte Plastikkanister gesetzt und mit den Namen der Vermissten und Getöteten versehen. Als Zeichen der Erinnerung erhalten die Behältnisse einen Platz an der Friedhofsmauer. Mittlerweile wird in einer der Friedhofsecken sogar Gemüse gezogen. Alle diese Aktivitäten bringen die Menschen zusammen und lassen sie Hoffnung schöpfen.

Erinnerungsbaum: „Was hat der Baum von der Erde gelernt, um sich mit dem Himmel zu unterhalten?“ – Pablo Neruda. (Foto: Silvia Hesse)

Zurzeit entsteht ein Netzwerk mit rund 150 Frauen. Sie erarbeiten Angebote für gemeinsame Aktivitäten wie Nähen, Musik und Schauspiel. Wilmar „Boti“ Botina ist hauptsächlich für die pädagogische Begleitung im Rahmen der Beziehungs-, Trauer- und Sozialarbeit verantwortlich.

Für El Aka, einen weiteren Hauptakteur von Agroarte, ist der Austausch zwischen den Generationen besonders wichtig: „Wir tauschen uns aus, um zu verstehen, dass unsere Eltern und Großeltern ihre Geschichte geerbt haben. Die neuen Generationen müssen diese Geschichte verstehen lernen und versuchen, sie durch Körpersprache weiterzugeben.“ Deshalb unterstützt das Projekt mehrere künstlerische Ausdrucksformen wie Graffiti, Hip-Hop und auch den Gebrauch indigener Sprachen. „Der Hip-Hop ist der wahre Nachbarschaftsreporter und vermittelt das Verständnis dafür, dass die Aussaat ein gemeinsamer Ort für uns ist“, sagt der Rapper. „Wir lernen zu säen und wir lernen zu verstehen, dass wir Straßenpflanzen sind. Und wir widersetzen uns dem Schnitt.“

Silvia Hesse, Lynn Benda

Weitere Informationen:
www.facebook.com/hiphopdecombate
www.youtube.com/theakaelite


„Wir haben es satt, zu leiden“

Die Comuna 13 lebt langsam wieder auf. Und Medellín befindet sich im Wandel. Einst bekannt für ihr Drogenkartell, hat die „Stadt des ewigen Frühlings“, wie sie aufgrund ihres ganzjährig sonnigen und warmen Klimas genannt wird, eine rasante Entwicklung genommen. 2012 wurde sie vom Wall Street Journal sogar zur innovativsten Stadt der Welt ernannt. In der Comuna 13 wurde 2013 die längste Rolltreppe der Welt eingeweiht. Sie überwindet einen Höhenunterschied von umgerechnet 28 Stockwerken. Auf der berüchtigten Escombrera wird seit 2015 nach den etwa 300 Leichen gesucht, die dort vermutet werden – eine Errungenschaft der Angehörigen.

Doch die Gewalt ist nicht verschwunden. Heute treiben kriminelle Gangs ihr Unwesen. Einige alte Kämpfer haben nichts anderes gelernt als Krieg, noch immer gibt es Tote und Vermisste. Das Projekt „Agroarte“ ist für die Beteiligten Schutz und Gefahr zugleich.

„Medellín ist keine Modellstadt. Medellín ist eine Laborstadt,“ sagte Jeihhco, ein junger Mann aus der Comuna 13 und Gründer des Kulturhauses, im Gespräch mit der Wochenzeitung „Die Zeit“. „Wir experimentieren jeden Tag von Neuem. Weil wir es satt haben, zu leiden, zu erleben, was wir erlebt haben. Und weil wir glauben, dass eine bessere Welt möglich ist. Dass wir selbst sie errichten können.“ jp

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