Die abgewürgte Verkehrswende

Aus DER RABE RALF August/September 2023, Seite 1/4

Wie Manja Schreiner, die neue Berliner Verkehrssenatorin von der CDU, Politik fürs Auto macht

Schloßstraße in Steglitz. (Foto: Lukas Beck/Wikimedia Commons)

Die ersten 100 Tage des neuen Senats sind vorbei. CDU und SPD sind angetreten, um die Polarisierung zu verringern. Aber so viel Protest gegen die Senatspolitik wie jetzt gab es in Berlin lange nicht mehr.

Mitte Juni verkündete die Verkehrssenatorin, alle Radwegeprojekte würden neu „priorisiert“. Damit stellte sie das geltende Mobilitätsgesetz infrage. Seitdem demonstrierten Tausende gegen diese rückwärtsgewandte Verkehrspolitik.

Die Senatorin hat nun von 19 „priorisierten“ Radwegen 16 „freigegeben“ und drei gestrichen. Sie sagt, dass sie mehr Radwege als ihre Vorgängerinnen bauen will. Doch dazu ist sie durch den Radverkehrsplan längst verpflichtet.

Die Senatsverwaltung hat inzwischen die Demontage des durch Volksentscheid erkämpften Mobilitätsgesetzes angekündigt. Die SPD hatte das Gesetz und den Radverkehrsplan mitbeschlossen.

Schock im Juni

Was die neue Berliner Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) als „Atempause“ bezeichnet hat, war für viele ein Schock. Mitte Juni kündigte die Senatorin an, alle Radwegeprojekte zu überprüfen, die mit dem Wegfall auch nur eines einzigen Kfz-Parkplatzes oder eines einzigen Auto-Fahrstreifens verbunden waren. Gegen diesen Radwegestopp demonstrierten schon am nächsten Tag 500 Menschen vor der Senatsverwaltung – ein schnelles, unübersehbares Zeichen.

Kurz danach ruderte Schreiner zurück. Sie habe damit nichts zu tun, erklärte sie im Deutschlandfunk. Eine „Abstimmung mit der Senatorin“ habe es nicht gegeben, mit der „neuen Hausleitung“ sei diese Kommunikation nicht abgesprochen gewesen. Aha.

Radwege infrage gestellt

Drei Tage später sprach die Hausleitung dann doch: Alle Berliner Bezirke sollten die Finanzierung für sämtliche noch nicht im Bau befindlichen Radprojekte sofort „außer Kraft setzen“. Ausgenommen sind unter anderem Projekte zur Verkehrs- und Schulwegsicherheit. Hier zeigte sich schnell, wie wenig Verständnis und Kenntnis bei Senatorin Schreiner vorhanden waren, schließlich kann jeder Weg ein Schulweg sein und jede Verbesserung der Radinfrastruktur trägt grundsätzlich zur Verkehrssicherheit bei.

Durch diese neue Ankündigung waren die Bezirke, die Medien und die Stadtgesellschaft maximal verwirrt.

Der Kurs von Senatorin Schreiner wirft Fragen auf. (Foto: Norbert Michalke)

Am folgenden Samstag waren es bereits 1.500 Menschen, die protestierend durch Berlin fuhren – auf den Spuren des Chaos, das die Ansagen der Senatsverwaltung bei den fast fertigen oder lange geplanten Radwegprojekten anrichteten. Zum Beispiel in der Ollenhauerstraße in Reinickendorf, wo der fertig markierte Radweg zunächst wieder ungültig gemacht wurde – zugunsten eines Parkstreifens. Auch hier sagte die Senatorin, sie habe damit nichts zu tun. Wenn der Bezirk ihre Politik vertrete, sei dagegen nichts einzuwenden, aber es habe keinen Stopp von ihrer Seite gegeben.

Es geht um Parkplätze

Die Bezirke sind zwar „nur“ für die Nebenstraßen zuständig, allerdings haben sie kaum eigenes Geld für Verkehrsprojekte – die Finanzierung liegt beim Land Berlin oder beim Bund. Die Bezirke müssen also bei einem Finanzierungsstopp die Arbeiten auf Eis legen. Deswegen setzten die Bezirksstadträtinnen und -räte der Senatorin eine Frist: Sie sollte sich bis zum 5. Juli äußern, welche Projekte weitergebaut werden sollen, da diese sonst in diesem Jahr nicht mehr realisiert werden könnten.

Wenige Tage später wurde in der Sitzung des Mobilitätsausschusses im Abgeordnetenhaus am 28. Juni deutlich, dass die Unzufriedenheit mit der Senatorin bis in die mitregierende SPD reicht. Einige sorgten sich ganz konkret um die Verkehrssicherheit ihrer Kinder. Die Senatorin bemängelte dagegen, dass ihr die Vorgängerverwaltung „keinen Überblick“ hinterlassen habe. Aus interner Quelle war aber zu erfahren, dass es der CDU vor allem um eines geht: die Parkplätze. Tatsächlich gibt es keinen Gesamtüberblick über die Anzahl der wegfallenden Parkplätze bei Radprojekten. Der Grund ist banal: Parkplätze wurden in Berlin noch nie behördlich erfasst.

So wurde die wahre Intention der Senatorin deutlich: den Autos in der Verkehrsplanung wieder mehr Raum zu geben. Wenn sie öffentlich verspricht, mehr Radwege bauen zu wollen als ihre Vorgängerin, und dabei von „Priorisierung“ und einem „Mobilitätsmix“ redet, sind das lediglich rhetorische Nebelkerzen, hinter denen ihr eigentliches Vorhaben verborgen bleiben soll.

Geltendes Recht missachtet

Jetzt könnte man natürlich argumentieren, dass gegen eine Überprüfung nichts einzuwenden ist. Aber: Alle diese Projekte wurden bereits sehr gründlich geprüft. Sie wurden nach dem geltenden Mobilitätsgesetz und der dazugehörigen Rechtsverordnung, dem Radverkehrsplan, geplant. Beide wurden mit demokratischen Mehrheiten beschlossen. Dort sind von Fachleuten erarbeitete Qualitätsstandards und Ausbaupfade bis 2030 festgeschrieben.

Ausgerechnet die Law-and-Order-Partei CDU missachtet nun geltendes Recht und pfeift auf beschlossene Haushaltsmittel. Mit einem Handstreich hat Manja Schreiner die jahrelange Vorarbeit von Fachpersonal entwertet und konterkariert und leichtfertig und ohne jede Not Fördermittel des Bundes aufs Spiel gesetzt. Denn Projekte, die jetzt nicht rechtzeitig in die Vergabe gehen, können dieses Jahr nicht mehr umgesetzt werden.

Fatales Signal an alle Kommunen im Land

Das sind nur die kurzfristigen Folgen des Radwegestopps. Frustrierte Beschäftigte im Senat und in den Bezirken erhalten bereits Jobangebote, „da in Berlin ja nichts mehr läuft“. Was mühsam über Jahre an Personal aufgebaut wurde, droht nun mit diesem Kahlschlag vergrault zu werden. Ehrgeizige junge Ingenieurinnen und Planer werden nicht in der Amtsstube hocken, um Listen mit zu streichenden Projekten auszufüllen.

Noch größer ist der Schaden für die überfällige Verkehrswende in Deutschland. Berlin hatte mit dem „Volksentscheid Fahrrad“ und dem Mobilitätsgesetz eine große bundesweite Strahlkraft. Die Kommunalpolitik schaut auf die Hauptstadt – wird dort ein Anti-Verkehrswende-Trend wahrgenommen, fühlen sich autofixierte Lokalpolitiker*innen bestätigt, ihre Politik fortzuführen.

13.000 protestierten am ersten Juli-Sonntag gegen die neue Anti-Fahrrad-Politik. (Foto: Norbert Michalke)

Jeden Tag Protest

Der „Aber die Parkplätze“-Senat von CDU und SPD macht Politik fürs Auto und nennt das euphemistisch „Miteinander“. Die beiden Parteien wissen dabei sehr wohl, dass sie damit ihr Bekenntnis zur Klimaneutralität ad absurdum führen. Mehr Autos, auch E-Autos, bedeuten, dass wir uns von den Pariser Klimazielen entfernen. Um sie zu erreichen, müssen laut der Bundesregierung die CO₂-Emissionen im Verkehrssektor bis 2030 um 50 Prozent sinken – und das gilt auch für die Stadt Berlin. Eine Halbierung in sieben Jahren – wie wollen CDU und SPD das schaffen?

Jeden Tag organisiert die Verkehrswende-Bewegung Changing Cities Protestdemos und Aktionen gegen den Radstopp auf den Berliner Straßen, im Kiez oder vor dem Rathaus. Am 2. Juli, einem Sonntag, mobilisierten Changing Cities, Fridays for Future und ADFC Berlin 13.000 Menschen zum Protest auf dem Rad gegen die Pläne der Senatsverwaltung. Das wird nicht mehr aufhören.

Ragnhild Sørensen

Weitere Informationen:
www.changing-cities.org

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