Rezensionen

Weltweites Klimaversagen

Aus DER RABE RALF August/September 2021, Seite 26

Die Politik bekommt den Klimaschutz nicht hin, doch versagt haben auch andere

Schon in diesem Jahrzehnt wird nach neuesten Klimaforschungsberichten die Erde womöglich 1,5 Grad Erwärmung überschreiten. Wie wollen da die Industriestaaten das 1,5-Grad-Ziel erreichen, ohne schnell aus Kohle, Erdöl und Erdgas auszusteigen? Für 100 Prozent erneuerbare Energien und eine emissionsfreie Kreislaufwirtschaft im Jahr 2030 haben sie keinen Plan.

Auch Bundeskanzlerin Merkel wird als wortstarke, aber tatenlose Klimapolitikerin in die Geschichte eingehen. Schon 1997 hatte sie als Umweltministerin das Kyoto-Protokoll federführend mitverhandelt. Doch der Vertrag hat keine Klimaschutzwirkung entfacht. Seitdem ist die Erdtemperatur kräftig weiter gestiegen, während die Kanzlerin immer wieder Klimaschutz versprach.

Wirkungslose Beschlüsse

Der Journalist David Goeßmann hat in einem sensationellen Buch hunderte Fakten und Analysen zur Klimapolitik Deutschlands, der EU und der USA als zentraler Akteure auf der globalen Klimabühne zusammengetragen. Der Band zeigt schonungslos das politische Versagen auf. In klarer Sprache und wissenschaftlich exakt belegt der Autor die Wirkungslosigkeit der Klimapolitik der einzelnen Staaten und der weltweiten Beschlüsse auf den UN-Konferenzen von Kyoto über Kopenhagen bis Paris.

Goeßmann hat lange für den Deutschlandfunk sowie für ARD und ZDF, Spiegel und CNN gearbeitet und weiß, wovon er spricht. Das gibt seiner Analyse, wonach viele Medien in ihrer Berichterstattung auf „Tauchstation“ gegangen sind statt über das Versagen zu berichten, besonderes Gewicht.

Mutlose Zivilgesellschaft

Das Buch zeigt aber noch mehr. Viele Klimawissenschaftler, auch von renommierten Einrichtungen wie dem Potsdam-Institut, haben warnende Analysen anderer Forscher, speziell zu dem noch verbleibenden CO₂-Budget für das 1,5- und Zwei-Grad-Ziel, verharmlost und ignoriert. Gleichzeitig haben sie gegen die untauglichen Beschlüsse der Bundesregierung oder der EU kaum Einspruch erhoben. Auch viele Umweltverbände kritisiert Goeßmann zu Recht dafür, dass sie meist nur Forderungen erhoben haben, die ein paar Prozentpunkte höher lagen als die vollkommen unzulänglichen Ziele der Regierungen.

Selbst Organisationen wie der Bundesverband Erneuerbare Energie haben immer wieder zu schwache Forderungen für den Ausbau der Solar- und Windenergie gestellt, die oft von der Realität sogar überholt wurden. Goeßmann zitiert Studien, die zeigen, dass ein System mit 100 Prozent erneuerbaren Energien machbar ist – was aber immer noch nicht offensiv von den Umwelt- und Erneuerbaren-Verbänden vertreten wird.

Klima-Störenfriede und Energierebellen

An vielen Beispielen zeigt Goeßmann das Politikversagen der Bundesregierung und anderer Regierungen auch noch nach der Pariser Klimakonferenz: „Auch im Energiesektor blieb nach Paris alles beim Alten.“ Unter anderem beleuchtet er die Unterstützung der Bundesregierung für Erdgas, obwohl längst klar sei, dass Erdgas keinen Beitrag zum Klimaschutz leisten kann.

Er nennt aber auch die tatsächlichen Klimaschützer: „Die eigentlichen Vorreiter waren und sind Klima-Störenfriede und Dissidenten: Menschen, die die Wahrheit öffentlich und ungeschminkt aussprechen, auch wenn es persönlich unbequem ist, Wissenschaftler wie James Hansen oder Stefan Rahmstorf, Journalisten wie Harald Schumann, Ministerialbeamte wie Dieter Schulte-Janson, Politiker wie Wilhelm Knabe oder Hermann Scheer, Solar- und Windkraftrebellen in Vereinen und Kommunen, die aufklären und Mehrheiten für die Energiewende beschaffen, fast immer gegen starke Widerstände. Es sind Bürger und Umweltschützer, die Proteste und Aktionen zivilen Ungehorsams organisieren. Sie ketten sich an Ölpipelines und an Kohlebagger wie im Rheinland oder in der Lausitz und werden dafür verhaftet.“

Es beeindruckt, wie klar Goeßmann erkannt hat, wer sich wirklich für Klimaschutz einsetzt und wer nicht. Die Klimaversager sind eben nicht nur die Wirtschaftsbosse der fossil-atomaren Industrie, sondern auch viele Mitläufer und vermeintliche Kritiker, die die unzureichenden Klimaschutzziele und Maßnahmen zum eigenen Maßstab machen – oft nur um Nuancen verbessert.

Nicht nur Angela Merkel

Dem Buch ist eine millionenfache Leserschaft zu wünschen, damit vielen Menschen die Augen geöffnet werden, wie umfangreich das Klimaschutz-Versagen gesellschaftlich verankert ist – nicht nur bei denen, die den Klimawandel leugnen, sondern auch bei vielen, die unentwegt vorgeben, Klimaschutz zu wollen, ihn aber tatsächlich nicht organisieren. Und das ist eben nicht nur Kanzlerin Merkel.

„Kurs Klimakollaps“ ist eine mutige Beschreibung und Erklärung, warum die Weltgemeinschaft nicht zum Klimaschutz findet. Es ist Pflichtlektüre für alle, die am Klimaschutz arbeiten und mitreden wollen.

Hans-Josef Fell

David Goeßmann:
Kurs Klimakollaps
Das große Versagen der Politik
Verlag Das Neue Berlin, 2021
320 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-360-01364-4


Solidarisches Klima

Aus DER RABE RALF August/September 2021, Seite 27

Plädoyer für ein Zusammengehen der Klimabewegung mit der Care-Bewegung

In Berlin mobilisiert seit Monaten ein Bündnis, das sich Berliner Krankenhausbewegung nennt, für mehr Personal und bessere Bezahlung der Beschäftigten im Krankenhaus- und Pflegebereich. In dem von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi initiierten Bündnis arbeiten auch KlimaaktivistInnen mit.

Für die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker hat diese Kooperation eine große Perspektive. Winker hatte bereits vor sechs Jahren das Buch „Care-Revolution – Schritte in eine solidarische Gesellschaft“ veröffentlicht. Damit hat sie zur Gründung des „Netzwerks Care-Revolution“ beigetragen, in dem sie nach wie vor aktiv ist. Es handelt sich um einen Zusammenschluss von über 80 Gruppen und Personen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die in verschiedenen Feldern sozialer Reproduktion – Hausarbeit, Gesundheit, Pflege, Assistenz, Erziehung, Bildung, Wohnen und Sexarbeit – aktiv sind.

Wertgesetz verständlich erklärt

In ihrem neuen Buch mit dem programmatischen Untertitel „Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima“ hat Winker nun argumentativ begründet, warum die Bewegungen zusammengeführt werden müssen. Sie plädiert für neue Modelle von Sorge-Beziehungen und eine Care-Ökonomie, die nicht der Profitmaximierung dient, sondern die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum rückt.

In den Kapiteln arbeitet Winker heraus, dass bei der Lösung sowohl der Care-Krise als auch der Klimakrise die kapitalistische Profitmaximierung ein Hemmschuh ist. Dabei argumentiert Winker mit Verweis auf das Wertgesetz von Karl Marx, verwendet allerdings eine leicht verständliche Sprache, die auch von NichtakademikerInnen verstanden werden kann. Sehr überzeugend begründet Winker, warum Klima- und Care-AktivistInnen kooperieren sollten. „Wir brauchen also nicht nur gesellschaftliche Bedingungen, die gelingende Sorgebeziehungen überhaupt erst ermöglichen. Wir benötigen darüber hinaus klimatische Verhältnisse, die auch den jüngeren Generationen und den noch nicht geborenen Generationen eine Perspektive geben.“

Konkretes Diskussionsangebot

Im letzten Kapitel „Care-Revolution als Transformationsstrategie“ benennt Winker Reformen, die die Lebensbedingungen von Millionen Menschen konkret verbessern und die Kapitalprofite zumindest beschränken. Dazu gehören die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine an den menschlichen Bedürfnissen orientierte soziale Infrastruktur. Auch die Vergesellschaftung von Betrieben und Einrichtungen der Grundversorgung und die Einrichtung von Räten als demokratische Beteiligungsformen jenseits des Parlamentarismus gehören zu Winkers Programm einer revolutionären Realpolitik.

Viele der Vorschläge sind natürlich nicht neu. Aber es ist Winkers Verdienst, sie auf gut 200 Seiten aufgeschrieben und verständlich begründet zu haben. Ein weiterer Pluspunkt von Winkers Buch ist, dass sie deutlich sagt, an wen es sich richtet. Die Care-Bewegung und die oft jungen KlimaaktivistInnen bekommen hier ein sehr konkretes Diskussionsangebot.

Peter Nowak

Gabriele Winker:
Solidarische Care-Ökonomie
Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima
Transcript Verlag, Bielefeld 2021
216 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-8376-5463-9


Naturschätze wiederentdecken und retten

Aus DER RABE RALF August/September 2021, Seite 27

Neun Geschichten über Menschen, die sich gegen die Zerstörung der Natur wehren

Neun Geschichten über Menschen, die sich gegen die Zerstörung der Natur wehren. „Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht“ von Johanna Romberg ist ein Buch, wie man es nur sehr selten findet und das eine Idee umsetzt, die vielleicht nur ein einziges Mal funktionieren kann. Ein Sachbuch, das sich als Roman lesen lässt. Dabei behandelt die Autorin zum größten Teil ihre eigene Liebe zur Natur und die Frage, ob die Menschheit gerade dabei ist, ihre Lebensgrundlage zu verlieren. Eine Frage, die sie sich selbst stellte, als sie feststellen musste, dass der jahrelang gehörte Gesang bestimmter Vogelarten verschwunden war.

Zum Hinschauen

In dem Buch begleiten wir die Autorin auf ihren interessanten Reisen und lernen in den insgesamt neun Geschichten einige Menschen kennen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, aus eigener Kraft der Zerstörung der Natur in ihrer Umgebung entgegenzuwirken. Zu diesen Menschen gehören zum Beispiel ein Eulenschützer und eine Expertin für Nachtfalter. Mit ihren Geschichten zeigen sie, dass man aus eigener Kraft eine ganze Menge bewegen kann, wenn man sich genug anstrengt, sei es für die Erhaltung eines Ökosystems oder für den Schutz einer Art.

Über den gesamten Verlauf des Buches wird zudem deutlich, wie wichtig es ist, auf seine Umgebung zu achten und die Wunder, die uns die Natur schenkt, auch in vollen Zügen zu genießen. Und als wäre das noch nicht genug, wird zusätzlich zu den schön gestalteten Geschichten noch eine Menge spannendes Fachwissen zu den behandelten Themen vermittelt.

Sehr ansprechend ist auch die Gestaltung des Buchs – besonders die Idee, die Anfänge von Kapiteln mit Zeichnungen zu schmücken, die die Leser darauf einstimmen, was sie auf den nächsten Seiten erwartet. Dadurch fiel es mir auch deutlich leichter, das Gelesene im Kopf zu visualisieren. Auch bin ich ein großer Fan der Idee, neben den neun Hauptgeschichten noch andere persönliche Naturerlebnisse wie Entdeckungen auf Spaziergängen zu behandeln. Diese sind auf dunklerem Papier gedruckt, und genau wie die anderen, längeren Geschichten wurden sie passend illustriert.

Geschärfter Blick

Für mich war „Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht“ nicht nur überaus interessant, sondern auch sehr inspirierend – ich habe wirklich gemerkt, dass ich nach dem Lesen mit einem deutlich schärferen Blick durch die Natur gegangen bin und aufmerksamer auf kleinere Details in meiner Umgebung geachtet habe. Gleichzeitig erinnert das Buch daran, wie zerbrechlich Teile unseres ökologischen Systems sein können und wie wichtig es ist, es mit aller Kraft zu schützen. Genauso wichtig ist es aber auch zu versuchen, es zu verstehen. Denn nur jemand, der weiß, wie seine Umwelt funktioniert, kann sie vor Schaden bewahren und für zukünftige Generationen erhalten.

Fabio Micheel

Johanna Romberg:

Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht. Unsere Naturschätze. Wie wir sie wiederentdecken und retten können
Quadriga Verlag, Berlin 2021
288 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-86995-104-1


Artenreich statt artig

Aus DER RABE RALF August/September 2021, Seite 26

Wie der Traum vom wilden Paradies Realität werden kann

Ein Summen und Zirpen von der Wildblumenwiese, ein Quaken und Plätschern vom Teich, ein Zwitschern und Knistern aus der Totholzhecke. Das hört sich – im wahrsten Sinne des Wortes – nach einem Paradies für Tiere und Pflanzen an. Irgendwo auf einem alten Hof im Chiemgau ist dieses Paradies Wirklichkeit geworden, denn dort haben Claudia Praxmayer und ihr Mann ein wildes Paradies für Pflanzen, Tiere und am Ende auch für sich selber geschaffen.

Mit der Zeit wächst alles

Auf dem verwilderten Grundstück hat das Paar ohne praktische Vorerfahrung nach und nach Beete und Totholzhecken angelegt, Wiesen wachsen und Teiche volllaufen lassen. In einer angenehmen und leicht verständlichen Art erzählt Praxmayer von ihren Beobachtungen, von kleineren und größeren Hürden, von Versuchtem und Gelungenem. Ob Zeigerpflanzen, gute Beetpartner oder Hilfen, um Wildbienen das Leben zu erleichtern, das Buch ist voller anschaulicher Informationen und nützlicher Tipps, die man sehr gut mitnehmen und selbst anwenden kann.

Dass nicht alles auf Anhieb geklappt hat, kann man sich natürlich vorstellen, aber chemische Pflanzenschutzmittel oder Dünger kommen Praxmayer nicht auf den Hof und aufgeben kommt schon gar nicht infrage. Vielmehr helfen dann Kurse, Seminare, Fachbücher und Gespräche mit Biobauern oder Expertinnen weiter, denn für (fast) jedes Problem gibt es eine natürliche Lösung. Gegen Blattläuse hilft nur Chemie? Unter einen Teich muss definitiv eine Folie? Praxmayer zeigt, wie es auch anders geht – und gibt so der Natur einen Teil zurück.

Ein kleines Paradies kann jede*r schaffen

Mit dem Blick für die kleinen Dinge erzählt die Autorin von den Streifzügen über ihre Wiesen und spricht dabei uns allen Mut zu, einfach anzufangen und Flächen naturnah zu gestalten. Mit zahlreichen Fotos von ihrem eigenen Hof gespickt, macht Praxmayers Buch schon beim Lesen Lust, direkt selbst aktiv zu werden.

Der schönste Moment ist dabei doch, wenn sich die Natur langsam die Flächen zurückholt und plötzlich neue Pflanzen in die Höhe sprießen und neue Tierarten sich einfinden. Dabei ist es letztendlich egal, wie groß die zur Verfügung stehende Fläche ist – auch auf einem Fensterbrett kann ein wildes Paradies für Insekten entstehen.

Kora Stehr

Claudia Praxmayer:
Wildes Paradies
Der Natur freien Lauf lassen und dafür reich belohnt werden
Lübbe, Köln 2021
220 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-431-07025-5


Tasten im Dunkeln

Aus DER RABE RALF August/September 2021, Seite 23

Die Dokumentation „Atomkraft forever“ stellt wenig Fragen und gibt keine Antworten

Der Filmtitel „Atomkraft forever“ lässt offen, ob er ironisch verstanden werden will oder einfach als Aussage. Vermutlich beides, denn trotz des Atomausstiegs in Deutschland wird in anderen Ländern weiter an neuen Atomkraftwerken gebaut und an einer Weiterentwicklung der Technik gearbeitet. Regisseur Carsten Rau versucht nun eine Bestandsaufnahme – durch das, was Anwohner, Betreiber, Entsorger, Verwalter und vereinzelt auch Gegner zu sagen haben.

Abriss bis 2080

Der Film beginnt in Greifswald, wo das KKW bereits 1991 stillgelegt wurde und nun „rückgebaut“ wird, bis 2080 ungefähr. Es gibt also schon eine Zielvorgabe, wann so ein Abrissplan abgearbeitet sein soll – aber man weiß nie genau, was sich an radioaktiver Belastung in so einem Betongebäude findet. Immer wieder treffen die Arbeiter auf unerwartete Risse. Dort ist das Material frühzeitig spröde oder durchlässig geworden und es kam zu intensiver radioaktiver Kontamination von Beton oder Stahl.

Der Abriss in Greifswald ist also eine Forschungsarbeit, bei der Erfahrungen gemacht werden, die eventuell helfen, andere AKW-Standorte leichter zu „sanieren“. Vielleicht auch nicht, denn jeder Atomreaktor ist ein Einzelfall. Schon die unterschiedliche Laufzeit sorgt für eine jeweils andere Strahlenbelastung im Baukörper.

Endlager für eine Million Jahre

Wobei das große Problem beim Abriss nicht unbedingt die festen Materialien sind, die lassen sich in Container packen und verschweißen, sondern die flüchtigen, die radioaktiv belasteten Stäube und Flüssigkeiten, die dabei anfallen. Ständig geht es darum, dass diese Stoffe nicht unkalkulierbar in die Welt entweichen und zu radioaktiver Belastung außerhalb des Kraftwerksgeländes führen dürfen.

Fest steht, dass sehr viel Abrissmaterial anfällt, dessen Radioaktivität während sorgfältiger Lagerung abklingen muss. Erst wenn die gefährlichste Strahlung abgeklungen ist, kann mit der Endlagerung begonnen werden. Das Endlager soll mindestens 500 Meter unter der Erdoberfläche liegen, denn bei einer Million Jahren notwendiger Lagerungszeit rechnet die Wissenschaft mit zehn Eiszeiten, die nach und nach stattfinden werden, und die bringen 500 Meter Abrieb mit sich, hat man errechnet. Wie viel vulkanische Aktivität, wie viele Erdbeben in diesen tausendmal tausend Jahren stattfinden werden, weiß man nicht, das wurde von Wissenschaftlern noch nicht untersucht. Natürlich soll auch das Grundwasser während dieses Zeitraums vor radioaktiver Belastung geschützt werden. Das ganze Vorhaben ist also „Work in Progress“. Oder ein Tasten im Dunkeln.

Heimatliches Atomkraftwerk

Von Greifswald wandert der Film nach Gundremmingen an der Donau, wo sich die Menschen seit der Erbauung vor fast 50 Jahren gut an ihr atomares Kraftwerk gewöhnt haben. Die dampfenden Kühltürme gehören für sie zum Landschaftsbild, und sie finden die Abschaltung des Kraftwerkes nicht so schön, denn es geht ihnen auch ein Stück Heimat verloren. Außerdem hat die ganze Gemeinde dort gearbeitet, der Hotelbetrieb brachte durch die Montagearbeiter in den regelmäßigen Sanierungsphasen kräftig Gewinne ein, und die Gemeinde konnte aus den Steuern, die das Kraftwerk zahlte, in die Infrastruktur investieren. Davon zeugen das neue Rathaus, das neue Sportzentrum und der neue Sportplatz. Dass es im Block A des Kraftwerks zu Unfällen kam, bei denen 1975 zwei Arbeiter starben und 1977 ein Totalschaden entstand, so dass der Block für immer vom Netz ging, wird im Film gar nicht erwähnt. Scheinbar wissen es die Gundremminger auch schon nicht mehr, oder sie haben sich dran gewöhnt, oder es ist eh egal, schließlich gab es noch zwei andere Blöcke und es ist ja „nix passiert“.

Wütend auf den Atomausstieg

Danach führt die filmische Reise nach Brauweiler bei Köln, wo sich die „Systemführung Netze“ befindet, in der sämtlicher in Europa produzierter Strom organisatorisch verteilt wird. Hier hat man Befürchtungen, dass es schwierig wird mit der Netzstabilität ohne Atomkraft.

Danach wendet sich der Film nach Cadarache in Südfrankreich, wo die französische Atomindustrie an der Perfektionierung ihrer nuklearen Energiegewinnung arbeitet. Offenbar gehen Unsummen in die Forschung für eine verbesserte Ausbeute der Brennstäbe – eine Tätigkeit, die nur unter Hochsicherheitsbedingungen erfolgen kann, denn das Forschungsfeld ist „ausgesprochen gefährlich“. Es geht dabei auch um die Steuerbarkeit der Atomkraftwerke, denn die AKWs können schlecht hoch- und runtergefahren werden, wenn Netzschwankungen eintreten. Was einer der großen Kritikpunkte am AKW-Betrieb überhaupt ist: Sie taugen nur für die Grundlast, aber nicht dazu, den sehr unterschiedlichen Bedarf an Strom zu befriedigen. Andererseits ist die französische Atomindustrie ausgesprochen wütend darauf, dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt.

Zweifelhafte Zwischenlager

Schließlich wendet sich der Film der Bundesgesellschaft für Endlagerung zu, die verwalterisch damit beschäftigt ist, ein Endlager zu finden, die eine Million Jahre mit Eiszeiten, Vulkanausbrüchen, Erdbeben und Überflutungen überstehen.

Wobei derzeit unklar ist, ob die Castor-Behälter, in denen das stark strahlende Material zum Abklingen zwischengelagert ist, länger als die 40 Jahre halten, für die sie ausgelegt sind. Was soll mit diesen Castoren geschehen, wenn die 40 Jahre um sind? Niemand kann voraussagen, wie die Radioaktivität im Inneren auf den Behälter wirkt. Von außen hält man sich besser von ihnen fern, sie sind recht warm und strahlen stark. Im Zwischenlager sind sie in einer Industriehalle mit mäßig dicken Wänden untergebracht, die sie vor Regen schützt und wo sie unter Beobachtung stehen.

Vieles fehlt

Der Film reiht alle diese Informationen aneinander und gibt den Verantwortlichen und den direkt Mitwirkenden und Betroffenen viel Raum, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Die Katastrophe in Fukushima wird zwar erwähnt. Aber dass es Widerstand gegen Atomkraft gab und gibt, dass die Förderung von Uranerz eine zerstörerische Schandtat ist, dass ein staatlich kontrolliertes Atommülllager wie die „Schachtanlage Asse“ ein umweltpolitischer Skandal ist und den Glauben an die Seriosität staatlicher Kontrolle doch wirklich in Frage stellt, das alles findet in diesem Film nicht statt.

„Atomkraft forever“ ist ein sehr meinungsoffener Film, der weder offensichtliche Fragen stellt noch Antworten sucht. Es ist auch ein Film über eine Welt, die an der Atomkraft partizipiert und ein Interesse daran hat, dass sie weiter existiert. Und eben die Risiken ignoriert.

Michael Freerix

Atomkraft forever
Regie: Carsten Rau
Dokumentarfilm, 94 Minuten
Deutschland 2020
Kinostart: 16. September

www.atomkraft-forever.de

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