Rezensionen

Aus DER RABE RALF Dezember 2021/Januar 2022, Seiten 23, 27

Corona macht’s möglich

Anregungen für eine sozial-ökologische Verkehrswende und eine solidarische Stadt für alle

Während der Corona-Krise waren manche Veränderungen in den Städten, über die lange gesprochen wurde, auf einmal in kurzer Zeit durchsetzbar. Erinnert sei nur an die neuen Fahrradstreifen in vielen Großstädten, die schnell eingerichteten Spielstraßen in vielen Stadtteilen und die Erweiterung von Restaurantflächen auf Parkplätze. Das sind nur einige Beispiele, wie unter Corona-Bedingungen der bisher unumschränkten Herrschaft des Automobils in den Städten Grenzen gesetzt wurden.

Daher ist es sehr zu begrüßen, wenn sich Menschen verstärkt über die Stadt von morgen Gedanken machen. Dazu tragen Anton Brokow-Loga und Frank Eckardt mit ihrem Büchlein bei. Ihr erklärtes Ziel ist, die Veränderungen im Stadtbild in der Corona-Ära zu nutzen, um Vorschläge für eine sozial-ökologische Verkehrswende zu machen. Im Klappentext wird auch von einer „solidarischen Postwachstumsstadt“ gesprochen.

Viele sinnvolle Vorschläge haben die beiden Autoren vor allem im Kapitel „Global-lokale Beziehungen“ zusammengetragen. Dazu gehören ein ökologisches Bauen ebenso wie ein Ende der Ressourcenverschwendung und eine kleinteilige Produktionsweise, die die Transportwege minimieren soll und im Buch unter dem Stichpunkt „offene Relokalisierung“ verhandelt wird.

Flächenumverteilung und Stadtteilräte

Sehr sinnvolle Vorschläge werden zum Stichpunkt Flächenumverteilung geliefert. Dort wenden sich Brokow-Loga und Eckardt erfreulicherweise auch gegen ein Ausspielen des Ökologischen gegen das Soziale. Die Autoren haben gut aufgezeichnet, was das bei der Flächenaufteilung bedeutet. „Menschen mit hohen Einkommen wohnen auf doppelt so großer Fläche wie Menschen mit niedrigen Einkommen. Personen, die ein höheres Einkommen haben, wohnen aber nicht nur in größeren Wohnungen, sie haben dadurch auch höhere Energieverbräuche, fahren mehr und größere Autos – haben also einen viel größeren Verbrauch an städtischem Boden.“ Daher wird im Buch vorgeschlagen, über die Liegenschaftspolitik Einfluss zu nehmen, damit sozialer, genossenschaftlicher und gemeinnütziger Wohnungsbau besonders gefördert wird.

Der Ausbau eines gut funktionierenden öffentlichen Nahverkehrs wird ebenso angesprochen wie die Unterstützung von Stadtteil- und MieterInnenräten, die auch über die Belange in der Stadt mitentscheiden sollen. Doch wenn die Räte keine Feigenblattfunktion beim kapitalistischen Stadtumbau haben sollen, müssten sie das Mandat haben, schon beim Verkauf von Grundstücken mitzuentscheiden. Damit könnte verhindert werden, dass Immobilienkonzerne teure Wohnprojekte in Stadtteile setzen, in denen bisher Menschen mit geringen Einkommen leben, die sich dann einige Jahre später ihre Wohnungen nicht mehr leisten können.

Smart City ist keine Lösung

Erfreulich kritisch setzen sich die Verfasser auch mit dem vieldiskutierten Konzept der Smart City (Rabe Ralf Oktober 2019, S. 16) auseinander. Sie sprechen die Kehrseiten wie den enormen Rohstoffverbrauch und die Anfälligkeit für Cyberkriminalität an und kommen zu dem Fazit, dass hier „keine Lösung für die Probleme der auseinanderfallenden Stadtgesellschaft“ liegt.

Der knappe Text liefert viele Anregungen für eine an den Belangen der Mehrheit interessierte Stadtpolitik. Das einzige Manko ist die sehr pessimistische Sicht auf die aktuelle Stadtentwicklung. So trägt ein Kapitel den Titel „Corona und das Versagen der Stadt“. Dort wird das Bild einer Stadt gezeichnet, in der die Menschen in ihren Wohnungen eingesperrt waren und kaum Kommunikationsmöglichkeiten hatten. Dabei sparen die Autoren die vielen Beispiele von Solidarität in den Städten, die es auch unter Corona-Bedingungen gab, leider aus. Die erwähnten Initiativen für Spielstraßen oder Pop-up-Radstreifen sind nur einige Beispiele. Schade, dass die Autoren diesen Beispielen nicht mehr Raum gegeben haben. Schließlich hätten sie ihre Argumente für eine solidarische Stadt für alle nur gestärkt.

Peter Nowak

Anton Brokow-Loga, Frank Eckardt:
Stadtpolitik für alle
Städte zwischen Pandemie und Transformation
Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2021
62 Seiten, 9,90 Euro
ISBN 978-3939045-45-8


Wie Sand am Meer …

… ist mittlerweile eine unzeitgemäße Redewendung, denn in geeigneter Qualität ist Sand Mangelware

In seinem Buch „Sand“ widmet sich der Journalist Vince Beiser den Quellen und Einsatzmöglichkeiten von Sand und den daraus entstehenden Konflikten. Nach Luft und Wasser ist Sand der wichtigste Rohstoff in der heutigen Welt. Einer Welt, die durch ein Bevölkerungs-, Konsum- und Städtewachstum gekennzeichnet ist und dementsprechend immer mehr Ressourcen benötigt. Doch welche Rolle spielt hier der Sand und warum sind mit ihm so viele Probleme verbunden?

Wüstensand ist nicht geeignet

Das Vorkommen an Sand ist begrenzt. Sand ist auf natürlichem Wege in für uns relevanten Zeiträumen nicht regenerierbar. Während Sandlandschaften früher von Flora und Fauna schonend genutzt wurden, erschufen Menschen aus Sand die industrialisierte und globalisierte Welt des 20. und 21. Jahrhunderts. Schnellstraßen, Glasprodukte und technische Geräte sind das Resultat.

Eine Branche treibt den Abbau jedoch besonders an: die Bauindustrie. Alles, was uns umgibt, ist wortwörtlich auf Sand gebaut. Beton ist der wichtigste Baustoff und besteht zu zwei Dritteln aus Sand. Dementsprechend rechnen Experten mit einem enormen globalen Bedarfsanstieg. Wie lange kann unser Planet dem standhalten?

Ziemlich paradox in diesem Zusammenhang erscheint, dass gleichzeitig die weltweite Wüstenbildung voranschreitet. Wüstensand entspricht jedoch den Qualitätsanforderungen der Bauwirtschaft nicht. Aus diesem Grund werden jedes Jahr Milliarden Tonnen Sand aus Gewässern geholt, häufig illegal und unkontrolliert. Die Folgen der Eingriffe haben ein enormes Ausmaß: Ganze Ökosysteme brechen zusammen, Tiere, Pflanzen und Menschen verlieren in großer Zahl ihren Lebensraum. Die Auswirkungen werden als komplexes Gesamtbild im Buch beschrieben.

Historisches, Aktuelles und Persönliches

Beiser macht in seinem Sachbuch auf ein Umweltproblem aufmerksam, das vielen unbekannt ist. Fundiert informiert er den Lesenden über Historisches und Aktuelles. Dabei verbindet er persönliche Erlebnisse mit einer ausgezeichneten Recherche, die Belege für weitere komplexe Zusammenhänge liefert.

Beim Lesen werden die Ausmaße unseres Konsums und dessen Auswirkungen auf Umwelt, Menschen und internationale Strukturen klar. Beiser öffnet Erwachsenen, die sich mit ökologischen Fragen auseinandersetzen wollen, die Augen und macht ein globales Geschehen sichtbar, dem wir vielleicht bald nicht mehr standhalten können.

Kaya Thielemann

Vince Beiser: Sand
Wie uns eine wertvolle Ressource durch die Finger rinnt
Oekom Verlag, München 2021
320 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-96238-245-2


So gelingen Gemeinschaftsprojekte

Lösungsorientierte Kommunikation, achtsames Miteinander und Werteklarheit sind entscheidend

Viele Menschen sind frustriert von immer wieder scheiternden Gemeinschaftsprojekten und von zwischenmenschlichen Disharmonien. Ob auf der Arbeit, zu Hause oder in Kollektiven aller Art, zwischenmenschliche Interaktion ist oft anstrengend, weil keine gelebte Kommunikationskultur existiert. Die Verständigung untereinander hat jedoch einen direkten Einfluss auf den Erfolg von Projekten. Eine lösungsorientierte Kommunikation, ein achtsames Miteinander und Werteklarheit sind entscheidend, um Beteiligte zu motivieren, für eine gemeinsame Sache einzustehen und zu arbeiten.

„Der Gemeinschaftskompass“ richtet sich gezielt an Menschen, die auf dieser Grundlage ein Gemeinschaftsprojekt aufbauen und weiterentwickeln wollen. Die Psychologin Eva Stützel, die 1993 das Ökodorf „Sieben Linden“ in der Altmark mitgegründet hat und dort lebt, stellt Individuum und Gemeinschaft in ihrem Modell bewusst in den Mittelpunkt.

Das Konzept Gemeinschaftskompass (Rabe Ralf August 2018, S. 16) legt besonderen Wert darauf, der Welt und den verschiedenen Individuen offen und lernwillig entgegenzutreten. Projekte, die auf der Ethik dieses Modells aufgebaut sind, legen einen besonderen Schwerpunkt auf die Ganzheit der Dinge, auf ein gemeinsames Zusammenspiel. Die Verschiedenheit von Projektteilnehmern zu akzeptieren, wird zu einem Schlüssel für ein funktionierendes Projekt.

Viele Dinge entspannen sich

Das Buch ist leicht verständlich und lässt sich auch wunderbar gemeinsam lesen. Die sieben Aspekte, auf denen der Gemeinschaftskompass beruht – Individuum, Gemeinschaft, Intention, Struktur, Praxis, Ernte und Welt – sind ausführlich in einzelnen Kapiteln erklärt. Sie lassen sich nicht nur auf größere Gemeinschaftsprojekte anwenden, sondern können auch gut als Orientierungshilfe für einfaches gemeinsames Leben und Arbeiten dienen, um ein aufrichtiges, wertschätzendes Miteinander zu schaffen.

In den letzten Wochen haben wir auch in meiner Wohngemeinschaft die Gemeinschaftskompass-Ansätze integriert. Bisher können wir sagen, dass sich viele Dinge entspannen, sowohl zwischeneinander als auch in einem selbst, wenn man sich bewusst macht, wofür und wie man miteinander leben möchte, und sich gezielt um die Pflege der Gemeinschaft kümmert. Im Buch werden auch immer wieder Übungen vorgestellt, die schwierigen Situationen vorbeugen oder diese unterstützend begleiten können.

Der Gemeinschaftskompass ist nicht einfach nur ein Modell zur Weiterentwicklung von Gruppen, sondern darüber hinaus eine Haltung oder Einstellung, um gemeinschaftliche Projekte so fruchtbar wie möglich zu gestalten und jeden einzelnen so gut es geht im persönlichen Wachstum zu unterstützen.

Marielle Kittmann

Eva Stützel:
Der Gemeinschaftskompass
Eine Orientierungshilfe für kollektives Leben und Arbeiten
Oekom Verlag, München 2021
240 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-96238-298-8

Weitere Informationen: www.gemeinschaftskompass.de


Vom Acker ins Labor

Oliver Stengel fordert die Abschaffung der Landwirtschaft  

Die industrielle Landwirtschaft hat kein Problem, die industrielle Landwirtschaft ist das Problem. Zu diesem Schluss sollten mittlerweile alle gekommen sein, die sich mit Fragen von Ökologie, Ernährung und Klimaschutz beschäftigen. Hier ist auch Oliver Stengel zuzustimmen, der im ersten Kapitel seines Buches eine kosmische Perspektive einnimmt und die Entwicklung der Erde als Abfolge von drei großen Transformationen beschreibt. Während die Erde 1.0 aus toter Materie eine „Physiosphäre“ bildete, besaß die Erde 2.0 schon eine zusätzliche „Biosphäre“, in der schließlich auch der Mensch die Bühne betrat. Dieser allein schuf auf der Erde 3.0 die „Technosphäre“, die vor etwa 12.000 Jahren mit der Landwirtschaftlichen Revolution begann und dem Planeten ein völlig neues Antlitz gab.

Die schrittweise Transformation von (wilder) Natur in landwirtschaftliche Nutzfläche ist nun allerdings an eine Grenze gestoßen. Der weltumspannende agro-industrielle Komplex  zerstört mit seinem immensen Ressourcenverbrauch seine eigene Grundlage. Die Zivilisation ist in einen kosmischen Flaschenhals geraten, an dessen Ende nur noch zwei Szenarien möglich sind: Kollaps oder Wandel.

Riskante Wette auf die Zukunft

So weit, so schlecht. Stengels Analyse des Ist-Zustandes kann schwerlich widersprochen werden. Anders sieht es bei seinen Lösungsvorschlägen aus. Der Autor fordert eine „postlandwirtschaftliche Revolution“, die vom Acker ins Labor führt. Statt Viehhaltung (egal ob konventionell oder bio) soll es in Zukunft nur noch zellulär gezüchtetes In-vitro-Fleisch geben. Auch die Pflanzen will Stengel vom Boden befreien und setzt hier auf „Vertical Farming“. Die Natur darf sich dann die bisher landwirtschaftlich genutzten Flächen zurückerobern.

Hier erweist sich der Autor als technikgläubiger Fortschrittsoptimist.  Der Rabe Ralf hat schon darauf hingewiesen, dass das Fleisch aus dem Reagenzglas weniger sauber ist, als Start-ups und Lobbygruppen behaupten (Rabe Ralf Oktober 2018, S. 23). Die benötigten Bioreaktoren müssten zum Großteil noch gebaut werden und weisen bisher einen sehr hohen Energie- und Wasserverbrauch auf. Beim „Vertical Farming“ sieht es auch nicht besser aus (Dezember 2018, S. 10). Eine völlige Abkopplung von Pflanzen aus natürlichen Kreisläufen ist illusorisch und es bleibt fraglich, ob die unter sterilen Laborbedingungen gezüchteten,  von Mikroorganismen befreiten Nahrungsmittel überhaupt gesund sind.

Über die Bauern hinweg

Besonders ärgerlich ist, dass hier wieder einmal über das Schicksal der Bauern entschieden wird, ohne diese ins Gespräch zu holen. Stengels Zukunftsvision erinnert mit ihrer abgehobenen Tabula-rasa-Radikalität an die planwirtschaftlichen Experimente der Realkommunisten oder an eine grün lackierte Neuauflage des Mansholt-Plans zur Turbo-Industrialisierung der EU-Landwirtschaft vor 50 Jahren. Die Bauern – wir sprechen immerhin von derzeit 100 Millionen Kleinbauern weltweit – sollen wieder einmal einem hehren Ziel geopfert werden. Weiterhin entgeht dem Autor, dass es in Kulturlandschaften mit ökologischer Viehwirtschaft meist eine höhere Artenvielfalt gibt als auf sich selbst überlassenen Flächen (Stichwort Verbuschung).

Alles in allem hat Stengel immerhin ein provokatives und  gut lesbares Buch geschrieben, das in seinem Analyseteil die katastrophalen Folgen der industriellen Landwirtschaft realistisch beschreibt. Die vorgeschlagenen Lösungen wirken allerdings nicht weniger abschreckend als die desaströse Gegenwart.

Johann Thun

Oliver Stengel:
Vom Ende der Landwirtschaft
Wie wir die Menschheit ernähren und die Wildnis zurückkehren lassen
Oekom Verlag, München 2021
240 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-96238-207-0

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