Rezensionen

Aus DER RABE RALF April/Mai 2023, Seiten 22/23, 26/27

Unter Sachzwang

Bleibt nur die Anpassung an eine ökologische Technokratie?

„In der Moderne dominierte der Glaube, die Welt ließe sich gestalten und der Fortschritt sorge quasi automatisch für ein besseres Morgen. Erderwärmung, Wachstumskrise und subjektive Überlastungen haben diesen Optimismus erschüttert. Heute geht es in erster Linie darum, die Katastrophe abzuschwächen.“ Das schreibt der Berliner Soziologieprofessor Philipp Staab in seinem neuen Buch mit dem bezeichnenden Titel „Anpassung“. Doch an was sollen sich die Menschen anpassen, etwa an die Strukturen, die die Krise hervorgerufen haben? Diese Frage stellt sich Staab auf den 240 Seiten nicht.

Vielmehr geht es dort durchaus philosophisch um den Gegensatz von Anpassung und Selbstentfaltung. Wobei Staab unter Selbstentfaltung alle Formen der menschlichen Emanzipation versteht, sich also nicht nur auf manche Marotten der letzten 20 Jahre beschränkt. In dieser Zeit betrachteten es manche als Akt ihrer Selbstentfaltung, mit dem Flugzeug zum Diskobesuch nach Berlin zu jetten.

Selbsterhaltung statt Selbstentfaltung

Dass Staab einen viel umfassenderen Begriff von Selbstentfaltung infrage stellt, wird schon im ersten Satz seines Buches deutlich: „Könnte es sein, dass die moderne Semantik des Fortschritts, der Individualisierung, der Emanzipation und der Demokratisierung die falschen Anker für eine Analyse der Gegenwart und der erwartbaren Zukunft liefert?“ Staab bezieht sich hier auf Ulrich Becks Klassiker „Die Risikogesellschaft“, der 1986 ebenfalls im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Damals war es der Atomunfall von Tschernobyl, aber auch die Angst vor einem Atomkrieg, die Beck als Beleg für eine sich selbst gefährdende Zivilisation anführte.

Bei Staab kommen heute die Klimakrise und die Erfahrungen der Corona-Pandemie hinzu, die eine „Rückkehr von Selbsterhaltungsfragen umso dringender auf die Tagesordnung stellen“. Wenn er nun eine Gesellschaft beschreiben will, die vor allem von der Selbstentfaltung bestimmt ist, fallen ihm mit Verweis auf die Philosophin Eva von Redecker die Pilze „als Gegenmodell zum isolierenden Individualismus der Moderne“ ein. Es wirft schon Fragen auf, wenn auch linke AutorInnen auf eine Lebensform als Vorbild zurückgreifen, die sich kaum bewegt und damit als Gegenmodell zum flexiblen Menschen, der die Welt erkundet, gelten kann.

Ist das auch eine Absage an einen Begriff von Zivilisation, wie er nicht zuletzt im Umfeld der Frankfurter Schule vertreten wurde? Zivilisation hat demnach begonnen, als der Mensch nicht mehr nur den Unbilden der Natur ausgesetzt war. Deshalb war die Beherrschung des Feuers in der Frühzeit der Menschheit ein wichtiger Einschnitt auf dem Weg zur Zivilisation. Doch gerade Pilze sind Lebensformen, die ganz unmittelbar von ihrer natürlichen Umgebung abhängig sind. Wird hier nicht der gesamten Zivilisation eine Absage erteilt?

Rhetorik von Verzicht und Akzeptanz

Zumal Staab in seinem Buch von den gesellschaftlichen Bedingungen schweigt, die erst zu der Umweltkrise führten. So wird man in dem Buch den Begriff „Kapitalozän“ vergeblich suchen. Damit wollen antikapitalistisch Denkende betonen, dass es sich um eine vom Kapitalismus verursachte Umweltkrise handelt, für die eben nicht alle Menschen gleichermaßen verantwortlich gemacht werden können. Eine Kritik an den ökonomischen Grundlagen der heutigen Gesellschaft fehlt bei Staab, was umso erstaunlicher bei einem Philosophen ist, der in seinen Texten über den digitalen Kapitalismus bewiesen hat, dass er Karl Marx gelesen hat.

Diese weitgehende Ausblendung von Kapital- und Herrschaftsverhältnissen in dem Buch hat Folgen. So beruft sich der Autor nicht auf diejenigen in der Klimabewegung, die zur Lösung der Klimakrise auch einen „System Change“ fordern. Er bezieht sich stattdessen auf Positionen der vornehmlich bürgerlichen Umweltbewegung, die eine technokratische Herrschaft propagiert, die von politischen Interessen möglichst verschont bleiben soll.

Vor allem im letzten Kapitel macht sich Staab für eine solche Technokratie stark, die er mit verschiedenen freundlichen Attributen belegt. Dabei betont er, dass eine solche Technokratie „keineswegs die entpolitisierte Herrschaft kapitalistischer Sachzwänge“ sein müsse. Da aber im gesamten Buch keine Kapitalismuskritik geübt wird, bleibt dieser Anspruch weitgehend uneingelöst. Zumal die technokratische Herrschaft schon immer behauptet hat, nur Sachzwänge und keinesfalls kapitalistische Einzelinteressen zu vertreten. Es ist nicht erkennbar, wie sich Staabs „protektive Technokratie“ davon unterscheiden soll. Deshalb droht Staabs technokratische Vision eher die Herrschaft einer Kapitalfraktion zu werden, die die Zumutungen für die große Mehrheit der Menschen nun auch mit der Klimakrise begründen und sie von der demokratischen Diskussion fernhalten will.

Weiterentwickeln statt anpassen

„Demokratisierung im Sinne einer Erweiterung deliberativer Beteiligungsverfahren oder subpolitischen Aktivismus bilden im Feld nicht das anvisierte Programm“, formuliert Staab sehr soziologisch verbrämt einen Grundsatz, den die Profiteure der Gesellschaft gerne hören werden. Nicht nur soziale Bewegungen, auch Bürgerräte sollen draußen bleiben.

Irritierend ist auch, dass Staab in einem Kapitel Zitate aus einer nicht repräsentativen Umfrage verwendet, in der Menschen zum Umgang mit der Corona-Pandemie befragt wurden. Dabei wurde über Staatsversagen, aber auch über zu viel Demokratie geklagt. Manche wollen längere Legislaturperioden, andere eine Herrschaft, die über dem Parteienstreit steht. Hier findet man eindeutig Elemente für autoritäre Lösungen, die Staab aber nicht als solche kritisiert. Vielmehr führt er sie an, um seine der Politik enthobene technokratische Herrschaft zu begründen.

Es ist zu hoffen, dass das Buch eine Diskussion auslöst, an der sich auch Klimabewegte beteiligen, die angesichts der Klima- und Umweltkrise nicht der Anpassung an eine angeblich ökologische Technokratie das Wort reden. Das Buch zeigt aber auch, dass eine linke Kritik an Kapital und Herrschaft entwickelt werden muss, die sich in der Auseinandersetzung mit Staabs Thesen bewähren und deutlich machen müsste, dass der Grundpessimismus im Spätkapitalismus nicht das Ende von Zivilisation und Emanzipation sein muss, wenn sich genügend Gegenkräfte für eine andere Gesellschaft mobilisieren lassen. Sie setzen nicht auf die Anpassung an ein kapitalistisches System, sondern auf Widerstand dagegen.

Utopien eines anderen Lebens

Sie verwenden auch nicht eine Rhetorik des Verzichts, sondern stellen die notwendigen Veränderungen in den Kontext einer Utopie des guten Lebens: „Wir können nicht nur einfach sagen, dass wir von allem weniger brauchen – weniger Autos, weniger Kreuzfahrtschiffe, weniger Inlandsflüge –, sondern wir brauchen vor allem mehr: mehr Konzepte, die uns ein Leben ermöglichen, in dem wir produzieren, ohne Körper und Umwelt kaputt zu machen“, schrieb die Ärztin und Klimaaktivistin Lakshmi Thevasagayam in ihrer Klimakolumne in der Tageszeitung Neues Deutschland. „Ein Mehr von einer Gesellschaft, in der sich die Menschen füreinander einsetzen.“

Peter Nowak

Philipp Staab: Anpassung
Leitmotiv der nächsten Gesellschaft
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
240 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-518-12779-7


Das System wackelt

Eine Reise durch das Ernährungssystem mit seinen vielfältigen Problemen und möglichen Lösungen

George Monbiot, ein bekannter britischer Autor und Journalist, befasst sich auf knapp 500 Seiten sehr ausführlich (und immer gut mit Quellen belegt) mit den Strukturen unserer Nahrungsmittelproduktion. Denn obwohl wenig darüber gesprochen wird, ist die heutige Form der Landwirtschaft die weltweit größte Ursache für Umweltzerstörung.

Den Boden verstehen

Im ersten Kapitel, das sich als einziges etwas zäh liest, geht es um den Boden. Dieser stellt sich auch im weiteren Verlauf des Buches als äußerst wichtig heraus. So wird beispielsweise erklärt, dass die Rhizosphäre, der Bereich um die Wurzeln herum, nicht nur genauso wichtig für die Pflanze ist wie das Pflanzengewebe selbst, sondern auch eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem menschlichen Darm aufweist. In beiden Systemen finden sich unzählige Bakterien (es dominieren sogar die gleichen vier Bakterienstämme!), in beiden Systemen spalten Mikroben organisches Material in einfachere Verbindungen auf und beide Systeme dienen nicht nur der Ernährung beziehungsweise Nährstoffzufuhr, sondern schützen auch vor Krankheiten, indem sie das Immunsystem stimulieren. Die Rhizosphäre ist sozusagen der externe Darm einer Pflanze. Und genau wie dem menschlichen Darm schadet der Rhizosphäre die übermäßige Zufuhr von Antibiotika.

Auch Pestizide, Fungizide, zu viel Dünger oder übermäßiges Pflügen oder Verdichten durch schwere Maschinen setzen dem Boden und damit der Rhizosphäre zu. Nur wer den Boden versteht, kann gute Landwirtschaft betreiben, denn der Boden ist – sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinne – die Grundlage, auf der wir leben.

Kleine Ursachen, große Wirkungen

Das globale Ernährungssystem ist hochkomplex. Niemand hat es in seiner Gesamtheit geplant, es hat sich selbst organisiert. Es gibt nicht nur wirtschaftliche Vernetzungen, sondern auch klimatologische. Wenn beispielsweise in Indien und Pakistan Felder bewässert werden, beeinflusst das den Wasserkreislauf, was dazu führt, dass mehr Wasser verdunstet und als Niederschlag in Ostafrika wieder zu Boden fällt. So werden sage und schreibe 40 Prozent der dortigen Regenfälle induziert, von denen wiederum die ostafrikanischen Landwirte abhängig sind.

Man kann also kaum die einzelnen Aspekte des Ernährungssystems isoliert betrachten. Dieses beginnt übrigens „zu flackern“, es nähert sich einem Kipppunkt, wie Monbiot feststellt. Er führt dies darauf zurück, dass beispielsweise kleinere Ernteausfälle durch die starke Vernetzung heutzutage viel großräumigere Auswirkungen haben und weniger gut aufgefangen werden können als noch vor einigen Jahrzehnten. Wussten Sie übrigens, dass seit 2015 der Welthunger wieder zunimmt, während in den zwölf Jahren zuvor immer weniger Menschen hungern mussten?

Allheilmittel Veganismus?

Rund die Hälfte der landwirtschaftlich erzeugten Kalorien wird an Nutztiere verfüttert, Tendenz steigend. Das ist ein enormer Energieverlust, der natürlich mit einem erhöhten Wasser-, Flächen-, und Chemikalienbedarf einhergeht und zu höheren Emissionen führt. Auch die „regionale“ Fleischproduktion bei uns funktioniert oft nur mit Futterimporten – zum Beispiel aus Brasilien, wo für den Anbau der Regenwald weichen muss.

In den anderen Kapiteln geht Monbiot auf alle weiteren wichtigen Aspekte des globalen Ernährungssystems ein: Wirtschaftsstrukturen und Lobbyismus, Politik und Subventionen, die „globale Standardfarm“ (sodass immer und überall das Gleiche gegessen wird), die Auswirkungen der Klimakrise, Wassermangel und Wasserverschmutzung – und, und, und. Verpackt in die Geschichte von einer Reise durch England (und Finnland), bei der Monbiot mit verschiedenen Landwirten und Experten spricht, präsentiert er seine Analyse verschiedener landwirtschaftlicher Produktionsweisen, sozialer und kommerzieller Strukturen und politischer Einflüsse.

Man könnte erwarten, es handle sich bei dem Autor um einen militanten Veganer, aber so ist es nicht. Offensichtlich hat auch er erkannt, dass es unerlässlich ist, deutlich weniger Tierprodukte zu konsumieren, aber er ruft nicht dazu auf, dass alle Welt sich nun rein pflanzlich ernähren müsse.

Leseempfehlung für die Originalfassung

Der englische Originaltitel des Buches ist „Regenesis“. Die Vorsilbe „re-“ lässt sich mit „wieder“ oder „zurück“ übersetzen. Die Art und Weise, wie wir heutzutage unsere Äcker und Wiesen bewirtschaften, ist ja nicht gottgegeben, über Jahrhunderte wurden die natürlichen Ressourcen viel schonender genutzt. Eine so wenig naturschädliche Anbauweise müssen wir wieder finden, nur mit dem Unterschied, dass jetzt über acht Milliarden Menschen zu ernähren sind. Angesichts dieser Herausforderung liefert das Buch leider kein Universalrezept für eine nachhaltige und ausreichende Landwirtschaft, aber es beleuchtet die verschiedenen Techniken und Komponenten ganzheitlich mit ihren Vor- und Nachteilen. Zudem ermutigt Monbiot immer wieder dazu, auf seinen Recherchen aufbauend eigene Ideen zu entwickeln und so die Zukunft mitzugestalten.

Da das Buch ein so umfassendes Thema behandelt, ist es für Politiker und politisch oder wirtschaftlich Interessierte genauso interessant wie für sozial Engagierte und Weltverbesserer, Landwirte oder Hobbygärtner – im Grunde für jede und jeden. Bei der Übersetzung sind leider außergewöhnlich viele Grammatik- und Tippfehler passiert. Das beeinträchtigt das Verständnis nicht, stört jedoch beim Lesen. Des Inhalts wegen ist das Buch dennoch klar zu empfehlen. Wer gut Englisch kann, sollte aber vielleicht zur Originalvariante greifen, es sei denn, man hat Spaß an der Suche nach Tippfehlern oder grammatikalisch unvollständigen Sätzen.

Lisa Graf

George Monbiot: Neuland
Wie wir die Welt ernähren können, ohne den Planeten zu zerstören
Blessing Verlag, München 2022
480 Seiten, 24 Euro
ISBN
978-3-89667-687-0


Wie Täter*innen denken

Über das Töten als Beruf und Hobby

„Wie ist es, das erste Mal zu töten?“ Diese Kernfrage stellt Annegret von Wietersheim in ihrem Buch „Tod – töten – tot“. Sie beleuchtet mit wissenschaftlichem Anspruch diverse mit dem Töten in Verbindung stehende Berufe. Darunter sowohl solche, die es in ihrer ursprünglichen Form heute nicht mehr gibt, als auch Berufe, die nach wie vor existieren.

Kürze ohne Würze

Das Buch ist nach Berufen geordnet, den Einstieg bildet immer eine kurze historische Einordnung der Tätigkeit und ihrer Entwicklung bis zum jetzigen Berufsbild. Besonders interessant ist meist der Entstehungszeitraum, da er teils so weit zurückliegt, dass heute kaum noch ersichtlich ist, wie die entsprechenden Berufe zustande kamen. Es zeigt sich ein starker Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart, besonders bei den Tätigkeiten, die mittlerweile überflüssig sein sollten, wie das Jagen, Fischen und alle anderen Berufe, die keinem Zweck mehr dienen außer der Befriedigung der eigenen darauf konditionierten Geschmacksnerven und der Profitgier.

Darauf folgen Interviews mit Menschen aus den entsprechenden Berufsfeldern. Hier liegt auch schon einer der größten Kritikpunkte an dem Buch, da die Gespräche viel zu kurz sind, um wirklich einen Einblick in die Gedankenwelt der Interviewten zu geben, geschweige denn die Kernfrage zu behandeln. Diese wird meist in zwei Zeilen abgehandelt, was nicht verwundert, wenn die Befragten sich nicht an ihre erste Tötung erinnern können – im anderen Fall jedoch schon. Man kann nur hoffen, dass die tatsächlichen Gespräche tiefer gingen als das, was im Buch abgebildet wird. Wären die Interviews in Zusammenarbeit mit einer Psycholog*in geführt worden, hätten sie möglicherweise deutlich mehr geboten.

Einseitig und oberflächlich

Auch das zunächst neutral anmutende Herangehen ist durchaus problematisch. So werden ohne weitere Einordnung die Perspektiven von Täter*innen verbreitet und legitimiert, unabhängig davon, ob ihr Verhalten wirklich legitim war oder ist. Besonders sichtbar wird das bei den Jäger*innen, wo das sich hartnäckig haltende Märchen von einer ökologischen Notwendigkeit der Jagd verbreitet wird, während mittlerweile viele Studien belegen, dass es deutlich effektivere Methoden zur Stabilisierung des Ökosystems Wald gibt. Das Verbreiten von Täter*innenperspektiven wird zwar kurz angesprochen, jedoch erst in den Schlussbetrachtungen und auch nur kurz.

Eine Einordnung gibt es nicht, stattdessen werden die Interviewten stellenweise als „reflektiert“ bezeichnet, obwohl sie augenscheinlich keinen Gedanken daran verschwendet haben, ob ihr Beruf notwendig oder die dabei ausgeübten Handlungen legitim oder nur noch – aufgrund längst überholter Ansichten in der Bevölkerung – legal sind. Warum sie Tiere töten, wird an keiner Stelle des Buches wirklich infrage gestellt. Ein einzelner Lichtblick ist ein ehemaliger Catch-and-Release-Angler, der beim Tauchen die Verletzungen sah, die er Fischen zufügte, und das Angeln aufgab.

Das Buch liefert einige interessante Anhaltspunkte zur weiteren Recherche über die Historie von Tötungsberufen, bleibt aber viel zu oberflächlich, um seine Kernfrage zu beantworten. Ich würde es nicht weiterempfehlen.

Justin Penzel

Annegret von Wietersheim:
Tod – töten – tot
Wenn das Töten von Menschen oder Tieren zum Beruf gehört
Neofelis Verlag, Berlin 2022
126 Seiten, 14 Euro
ISBN 978-3-95808-359-2


Revolutionärer Gedenkort

Der Friedhof der Märzgefallenen im Volkspark Friedrichshain und seine anarchistische Tradition

Vor 175 Jahren, im März 1848, versuchte man sich in Deutschland an einer Revolution. Es war ein erster, wenn auch wenig erfolgreicher Versuch, dem bis heute die Nikotinabhängigen am meisten verdanken – nämlich das Recht, auf der Straße öffentlich zu rauchen. Dennoch ist diese Revolution ein wichtiger Bezugspunkt für die demokratische Entwicklung in Deutschland wie auch für die revolutionäre Bewegung.

Polizeiliche Zensur von Trauerschleifen

In Erinnerung an die Märzrevolution heißt der Platz vor dem Brandenburger Tor „Platz des 18. März“ – und im Friedrichshain wird der Opfer unter den Revolutionären auf dem Friedhof der Märzgefallen gedacht. Dieser Friedhof ist neben dem Friedhof der Sozialisten in Friedrichsfelde einer der wichtigsten Gedenkorte der revolutionären Arbeiterbewegung und auch der anarchistischen Bewegung.

Eine neue Broschüre zeichnet die anarchistische Gedenkkultur in ihren unterschiedlichen Facetten nach. Den Auftakt bildet ein vermutlich von Gustav Landauer verfasster Beitrag zum 50. Jahrestag des Friedhofs, den der anarchistische Vordenker in der von ihm herausgegebenen Zeitung „Der Sozialist“ veröffentlichte. Es folgen Kapitel über die Verbindungen zwischen der Revolution von 1848/49 und dem frühen Anarchismus in Deutschland, über die Wiederentdeckung des Friedhofs während der Entstehung der organisierten Arbeiterbewegung, die Kranzniederlegungen und die damit verbundenen Probleme mit der Ordnungsmacht, kulturelle Veranstaltungen und die sogenannten Märzzeitungen. Alles in allem ein sehr guter und vielschichtiger Zugang zum Thema.

Unter historischen Aspekten interessant ist dabei die Zensur von Schleifen an Trauerkränzen. So hat zum Beispiel 1898 die Polizei ein Spruchband an einem von anarchistischen Frauen gespendeten Kranz abgeschnitten. Die Aufschrift lautete: „Ehre dem Muthe von 1848 – Schande der Freiheit von 1898“. Die Kränze zu spenden war für viele anarchistische Gruppen aufgrund ihrer Sozialstruktur ein großes finanzielles Opfer. Im Falle einer Ortsgruppe aus Friedrichshain kostete der Kranz die Hälfte der Gruppenkasse.

Broschüre gibt seltene Einblicke

Vereinzelt illustrieren zeitgenössische Bilder die Broschüre. Die Veröffentlichung besticht auch durch einen sehr guten Quellenanhang, der Artikel aus Landauers „Sozialist“ ebenso aufführt wie Auszüge aus Polizeiakten oder eine Rede zum 18. März von Berthold Cahn, der für seine zahlreichen Vorträge in den 1920er Jahren bekannt war.

Die Broschüre bietet einen spannenden und wichtigen Einblick in die Geschichte des Berliner Anarchismus. Sie kann gegen eine Spende bei der Gustav-Landauer-Initiative bestellt werden, die noch weitere interessante Broschüren im Angebot hat.

Maurice Schuhmann

Gustav-Landauer-Initiative (Hrsg.):
Der Friedhof der Märzgefallenen
Ein anarchistischer Traditionsort
Selbstverlag, Berlin 2023
64 Seiten, gegen Spende

Bezug: www.gustav-landauer.org

Friedhof der Märzgefallenen, Landsberger Allee 23/​Ernst-Zinna-Weg, Friedrichshain (Tram M4, M5, M6, M8, Bus 142 Platz der Vereinten Nationen), täglich 9-20 Uhr geöffnet, Eintritt frei
www.friedhof-der-maerzgefallenen.de


Ernährung in der Dauerkrise

Wie die Landwirtschaft krisenfest werden kann, behandelt der Kritische Agrarbericht 2023

Der „Kritische Agrarbericht 2023“ ist bereits die 31. Ausgabe des Jahrbuches, das von dem breiten zivilgesellschaftlichen „AgrarBündnis“ herausgegeben wird. Auf 352 Seiten liefert die Publikation eine Bestandsaufnahme der aktuellen politischen Debatten rund um Landwirtschaft und Ernährung, eine gesalzene Kritik am derzeitigen Agrarsystem, aber auch gute und hoffnungsstiftende Konzepte, Ideen und gelungene Praxisprojekte, die zeigen, wie es besser laufen könnte.

Neue Strukturen gefragt

29 der 46 Beiträge beschäftigen sich mit den multiplen Krisen, mit denen die Welt und die Landwirtschaft gerade zu kämpfen haben. „Klima, Corona, Krieg, Welthunger, Artensterben: Die Landwirtschaft und das gesamte Ernährungssystem müssen nicht nur nachhaltiger werden, sondern auch resilienter, krisenfester“, erklärt Frieder Thomas vom AgrarBündnis. „Agrarindustrielle Methoden mit ihren ökologischen Kollateralschäden, der hohen Abhängigkeit von fossilen Energien und globalen Lieferketten sind dabei eher ein Problem als Teil der Lösung. Gebraucht werden neue Strukturen – dezentral, regional, vielfältig –, aber auch das Wissen um nachhaltige Produktionsmethoden.“ Beides müsse politische Unterstützung finden.

Den Auftakt bildet Benny Haerlin von der Zukunftsstiftung Landwirtschaft, einst Mitglied im Aufsichtsrat des Weltagrarberichts, mit seinem einleitenden Beitrag „Die Party ist vorbei – Aufbruch ins Ungewisse“. Er gibt einen Überblick zu Landwirtschaft und Ernährung in Zeiten von Krieg und Dauerkrise. „Die Krise als das neue Normal wird die Menschen, die gegenwärtig auf diesem Planeten leben, wohl für den Rest ihres Lebens begleiten: ein Dauerzustand der Instabilität des Ökosystems Erde und der globalen menschlichen Gesellschaften“, so seine wenig rosige Prognose. „Die Welt ist aus den Fugen geraten und wir können nicht vorhersagen, auf welches neue Gleichgewicht sie zustrebt – falls ‚Gleichgewicht‘ dafür noch der passende Begriff ist.“ Die Menschheit habe in mehreren Bereichen den „ökologischen Gleichgewichtskorridor“ schon überschritten. Die Dauerkrise sei vielschichtig: ökologisch, geopolitisch, wirtschaftlich, kulturell und erkenntnistheoretisch. Die Frage sei nicht mehr, „ob sie kommt, sondern wie zivilisiert wir als Gesellschaften mit ihr umgehen werden“, konstatiert Haerlin.

Sowohl die industrielle als auch die bäuerliche Landwirtschaft, inklusive der kleinbäuerlichen Subsistenzlandwirtschaft, seien denkbar schlecht gerüstet für die aufziehenden Krisengewitter. „Während ein Teil der Menschheit mit einer absurden Mischung aus fossiler und technologischer Übersteuerung und Abhängigkeit zu viel vom Falschen produziert und konsumiert, kann ein anderer sich nur schwer selbst ernähren, weil es an Frieden, Sicherheit, Menschenrechten, besonders für Frauen, sowie an minimaler Ausbildung, Technik und regionalen Marktzugängen fehlt.“

„Das Prinzip ‚Freiwillige Feuerwehr‘ funktioniert“

Haerlin endet dennoch mit einem Lichtblick: „Langfristig wegweisend für neue und innovative Trampelpfade durch die Dauerkrisen sind Gemeinden, die ihre Energie schon heute gemeinsam vor Ort erzeugen und verteilen und daran gemeinschaftlich verdienen.“ Ähnliches scheine in vielen Varianten auch machbar bei Gesundheit und Pflege sowie bei der lokalen und regionalen Erzeugung und Versorgung mit Lebensmitteln, zum Beispiel in Form von solidarischer Landwirtschaft, Mikrofarmen oder Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaften. „Was in akuter Not und Katastrophen an praktischer Solidarität, Gemeinsamkeit und Zusammenhalt möglich ist, haben wir in den letzten Jahren immer wieder eindrucksvoll bewiesen. Das Prinzip ‚Freiwillige Feuerwehr‘ funktioniert.“

Im Anschluss folgt ein bunter Strauß lesenswerter Artikel, die 11 Kapiteln zugeordnet sind. Darin geht es um Agrarpolitik, Welthandel und -ernährung, Ökolandbau, Regionalentwicklung, Umwelt, Wald, Tierschutz, Gentechnik, Agrarkultur oder Verbraucherschutz. Wer nicht im Internet zwischen den Artikeln hin- und herklicken möchte, kann beim Verlag ein gedrucktes Exemplar des Kritischen Agrarberichts bestellen.

Angelika Beck

Manuel Schneider, Andrea Fink-Keßler u.a.:
Der kritische Agrarbericht 2023
Landwirtschaft und Ernährung für eine Welt im Umbruch
ABL-Verlag, Hamm 2023
352 Seiten, 27 Euro
ISBN 978-3-930413-74-4

Kostenlose Online-Fassung: www.kritischer-agrarbericht.de

Bestellmöglichkeit: Buchhandel oder www.bauernstimme.de

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