Aus DER RABE RALF April/Mai 2020, Seiten 23+26+27
Radioaktiver Feinstaub in der Antarktis
Der „Uranatlas“ weist die auf die vielfältigen und teils kaum bekannten Probleme der Uranwirtschaft hin
Im Jahr 1789 isolierte Heinrich Klaproth ein neues Element aus dem Mineral Pechblende. Er benannte es nach dem Planeten Uranus. Uran ist ein radioaktives, instabiles Schwermetall, das nach Entdeckung der Kernspaltung 1938 der Grundstoff für Atombomben und Atomstrom wurde
Neokoloniale Zustände
Der „Uranatlas“ beschäftigt sich mit allen Aspekten der Uranwirtschaft, angefangen vom Abbau. Dieser kann laut den Autoren nicht losgelöst von kolonialen Kontinuitäten betrachtet werden. In Kanada und Australien wird Uranerz in Gebieten von indigenen Völkern abgebaut. Sie haben nur eingeschränkte Rechte an ihrem Land, das für die meisten eine große Bedeutung hat. In Australien müssen die Aborigines beweisen, dass sie eine ununterbrochene Bindung zum Land pflegen. Wird vor Gericht für sie entschieden, müssen sie trotzdem mit den Bergbaufirmen verhandeln. Kommt es zu keiner Lösung, hat der Bergbau Vorrang.
An Bergleuten der Diné wurde in den 1950er Jahren in den USA getestet, wie sich der Abbau auf die Gesundheit auswirkt. Heute weiß man, dass die radioaktive Strahlung starke gesundheitliche Schäden hervorruft. Am häufigsten ist Lungenkrebs. Zudem kann die Strahlung die Erbsubstanz schädigen, sodass bösartige Tumore noch nach Jahrzehnten auftreten können. Weitere Folgen sind Totgeburten, sinkende Potenz, Leukämie, Herz-Kreislauf- oder Immunschwächeerkrankungen. Am meisten bedroht davon sind die Bergleute, die oft ohne richtigen Schutz arbeiten müssen. Durch Fein- und Grobstaub an Kleidung und Haaren kann die Strahlung an ihre Familien weitergeben werden. Die Entschädigungen für erkrankte Arbeiter oder deren Familien fallen oft zu niedrig aus oder werden gar nicht gezahlt.
Missbildungen bei Fischen
Durch die Verbreitung radioaktiver Partikel in der Umwelt ist auch die Aufnahme durch Trinkwasser und die Nahrungskette möglich. Die Strahlung kann oft schon beim Uranabbau in das Grundwasser gelangen. Der Abbau durch Laugung vor Ort, in Bergwerken oder Tagebauen ist gleichermaßen umweltschädlich. Die Sanierung nach der Schließung einer Urananlage wird oft nur ungenügend und teilweise gar nicht durchgeführt. So stehen einige Minen bis heute offen und machen das Gebiet sowohl für Menschen als auch Tiere unbewohnbar. In Kanada soll es Missbildungen bei Fischen und Elchen geben. In Afrika wird radioaktives Gestein für den Straßenbau benutzt. Mittlerweile wurde sogar radioaktiver Feinstaub in der Antarktis gefunden.
Aus 10.000 Tonnen Uranerz gewinnt man eine Tonne Uran und daraus 7,1 Kilogramm spaltbares Uran-235. Im Vergleich bleiben pro geförderte Tonne 999,9 Kilogramm Abfall zurück, der weiterhin die Umwelt belastet. Es gibt weltweit noch kein fertiges Endlager. Deutschland exportiert den Strahlenabfall nach Russland oder er steht unter freiem Himmel auf dem Gelände der Urananreicherungsanlage in Gronau.
Erschreckend und tragisch
Der Uranatlas ist inhaltlich umfangreich und hoch informativ. Er geht auf alle Themen von der Gewinnung über die Verwendung bis zur Entsorgung ein und zeigt die zahlreichen Probleme, die Uran mit sich bringt, wie die erschreckend unmenschlichen Arbeitsbedingungen im Uranbergbau.
Der Uranatlas spricht ein breites Lesepublikum an, und fast jeder wird hier noch etwas Neues erfahren. Schockierend ist, dass die Auswirkungen nicht Grund genug sind, um auf Uran zu verzichten. Uranabbau ist ein tragisches Beispiel dafür, wie Menschen für vermeintliche wirtschaftliche Vorteile andere Menschen und die Natur ausbeuten.
Paula Rinderle
Claus Biegert, Horst Hamm u.a.:
Uranatlas
Daten und Fakten über den Rohstoff des Atomzeitalters
Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2019
52 Seiten, kostenlos
Bezug und Download:
www.bund.net/uranatlas
Weitere Informationen:
www.nuclear-free.com
Nachdenken, Überdenken, Umdenken
„Die volle und die leere Welt“ gibt eine Chance zum Perspektivwechsel
Die beiden Sachbücher von Fabian Scheidler fanden in den letzten Jahren begeisterte Anhänger: „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ und „Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen“. Nun erschien im vergangenen Oktober der Essayband „Die volle und leere Welt“.
In diesem Buch des studierten Historikers und langjährigen Grips-Theater-Dramaturgen dreht sich alles um die heutige Gesellschaft und darum, worauf dieses soziale System gestützt ist, wie es funktioniert und wie der Mensch als sein Hauptbestandteil handelt und fühlt. Vierzehn „Foto-Synthesen“ begleiten den Inhalt.
Leben als „Nicht-sterben“
Das Buch ist in zehn Sinnabschnitte unterteilt, die aufeinander aufbauen und teilweise in starker Abhängigkeit zueinander stehen. Scheidler beleuchtet den Kulturbegriff im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Natur. In bildhafter Sprache macht er deutlich, wie unsere Vorfahren eine Kultur entwickelten. Die Natur als eigenständiges Wesen spielte dabei eine tragende Rolle, aber auch Erfahrungen, Bräuche und Traditionen, die sich von Generation zu Generation zur Kultur einer Gemeinschaft entwickelten. Indem die Menschen Zusammenhänge mit sich und der Natur bildeten, entstanden sowohl eine Abhängigkeit als auch ein Miteinander. So wurden bestimmte Orte, Ereignisse, Tänze, Gegenstände und vieles andere mit Bedeutung aufgeladen.
Scheidler macht im Folgenden deutlich, welche Entwicklung von diesem Zustand zum heutigen Zustand stattgefunden hat.
Nicht nur das heutige Zusammenleben mit der Natur und mit Kulturgütern wird kritisiert, sondern auch die Gesellschaft, in die sich alle Menschen einfügen. Scheidler begreift unser heutiges Leben nicht als Leben, sondern als „Nicht-Sterben“. Er zeigt auf, wie die angeborene Kreativität der Kinder durch die Einschränkungen des Schulsystems untergraben wird und was das für Folgen hat. Es wird deutlich, dass eine Art Vereinheitlichung des Individuums stattfindet. Alle durchleben Jahre sehr ähnlich oder gar gleich. Es werden Punkte, Noten, Geld oder Kontakte gesammelt, um irgendwann in das versprochene lebenswerte Leben starten zu können, nur um herauszufinden, dass es genau das – nach Scheidler – nicht gibt.
Was passiert mit lebensfrohen Kindern auf dem Weg zum Erwachsenwerden? Warum sind Kinder so unterschiedlich, während sich Erwachsene immer mehr ähneln? Solche Fragen beschäftigen den Autor.
Doch nicht nur die Gesellschaft, auch das Ich findet im Buch Platz. Es geht darum, wie wir uns selbst wahrnehmen, wodurch diese Wahrnehmung gebildet wird und was für einen Einfluss unser Umfeld darauf hat. Es bleibt aber nicht bei der Eigenwahrnehmung: Die Wahrnehmung durch andere ist ebenso Bestandteil von Scheidlers Überlegungen. Dazu gehört, wie Menschen in der Öffentlichkeit miteinander umgehen und wie das Verhalten der Gesellschaft die Dynamik von Menschengruppen formt.
Horizonterweiternd
Geht es um Wahrnehmung, ist auch unsere Wahrnehmung der Welt für Scheidler bedeutend. Er geht darauf ein, wie der Mensch Städte oder Natur erlebt und wie dabei die Köpfe durch Illusionen beherrscht werden.
Scheidler befasst sich in diesem Buch mit vielen unterschiedlichen Fragen. Dabei kritisiert er die heutige Lebensweise, das Miteinander, Denkweisen, manche Entwicklungen und unsere Verschlossenheit gegenüber der Natur beziehungsweise dem Ursprung.
Die Leserin wird in eine vollkommen andere Gedankenwelt eingeführt und erhält dadurch die Möglichkeit, gesellschaftliche Aspekte aus anderen Blickwinkeln zu überdenken. „Die volle und die leere Welt“ erweitert den Horizont und lässt viel Raum zur Diskussion und zum Hinterfragen.
Rebecca Lange
Fabian Scheidler:
Die volle und die leere Welt
Essays und Bilder
Thinkoya, Lassan 2019
144 Seiten, 22,80 Euro
ISBN 978-3-947296-06-4
Die Verhältnisse ändern, nicht das Verhalten
Warum Ökomoral nicht weiterführt und was man trotzdem tun kann
Das Buch ist gedacht als Ergänzung zum vorigen Buch des Autors, „Ökoroutine“ (Rabe Ralf Dezember 2016, S. 23). Das Konzept zielt darauf ab, Gesetze und strukturelle Rahmenbedingungen zu etablieren, die es einfach und logisch machen, nachhaltig zu handeln, ohne lange darüber nachdenken zu müssen.
In den ersten Kapiteln beleuchtet Michael Kopatz die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik, erklärt, wie Lobbyismus funktioniert und wie Werbung gestrickt ist. Er entlarvt Falschmeldungen und erteilt dem Mythos von der Macht der Konsumenten eine klare Absage. Weil Strukturen so sind, wie sie sind, verstricken wir uns auch mit den besten Vorsätzen immer in Widersprüche. „Das Konzept der Ökoroutine beginnt nicht in den Köpfen, sondern in der Infrastruktur“, sagt der Autor, und das sei Sache der Politik. Schlechtes Gewissen sei nicht angebracht, wenn wir beim Versuch, nachhaltig zu handeln, scheitern. Anstatt individuelles Verhalten zu ändern, gelte es vielmehr, sich an politischen Protesten zu beteiligen.
Funktionierende Beispiele
In den Abschnitten Mobilität, Konsum, Essen und Wohnen zeigt der Autor, wo die Probleme liegen, macht konkrete Lösungsvorschläge und weist auf funktionierende Beispiele hin. Die Leserin erfährt etwa, dass es in Singapur oder Dänemark wirksame Maßnahmen gibt, um die Zahl der zugelassenen Privatautos zu beschränken, oder dass in Ruanda schon seit 2008 Plastiktragetaschen verboten sind.
Abschließend gibt es Hinweise, welchen Bewegungen man sich jeweils anschließen kann, um Druck auf die Politik zu machen. Wieder in Urlaub geflogen, weil das Flugticket nur einen Bruchteil der Zugfahrkarte gekostet hat? Dann aber nichts wie hin zur nächsten Demo gegen den Ausbau des Flughafens! Doch wieder das billige Fleisch im Supermarkt gekauft? Dann beteilige dich doch zumindest an den Aktionen von „Wir haben es satt!“.
Entlastung und Motivation zugleich
Und das sei nicht scheinheilig, so Kopatz. Man könne Begrenzung fordern, ohne sich selbst zu begrenzen. „Es ist Aufgabe der Politik, die Konsumenten von der Last zu befreien, die ‚richtige‘ Entscheidung treffen zu müssen.“ Möglich sei das durch Standards, Limits und Übergangsfristen. Dass es funktioniert, sieht man etwa beim Rauchverbot oder bei Bauvorschriften für Wärmedämmung.
Wer jetzt meint, das sei alles nicht neu, liegt richtig. Auch das immer wiederkehrende flapsige „Arsch hoch!“ nutzt sich im Laufe der Lektüre ab. Die kompakte Form, die leichte Lesbarkeit, die Kombination von sachlicher Information, politischem Hintergrundwissen und praktischen Beispielen sowie die konkrete Aufforderung zu politischem Engagement – und all das nicht speziell an eine linke Zielgruppe gerichtet – heben das Buch jedoch von anderen ab. Es bietet gleichzeitig Entlastung und Motivation zum Handeln, nicht als Konsumentin, sondern als politisches Subjekt. Zum Weiterlesen lohnt auch ein Blick auf die Internetseite des Autors www.oekomoral.de.
Brigitte Kratzwald
Michael Kopatz:
Schluss mit der Ökomoral
Wie wir die Welt retten, ohne ständig daran zu denken
Oekom Verlag, München 2019
240 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-96238-131-8
www.oekomoral.de
(Diese Rezension erschien zuerst in Contraste 424)