Rezensionen

Aus DER RABE RALF Oktober/November 2020, Seiten 22-27

Umweltschutz braucht Kraft von innen

Ein Buch für alle, die nicht aufgeben

Umweltschutz ist nicht nur ein Beruf oder ein Hobby. Überzeugungen und Wertevorstellungen treiben uns an und sind tief in uns verankert. Gerade deswegen können Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die durch Einflüsse der Außenwelt entstehen, so intensiv und grunderschütternd sein. Umweltkatastrophen geschehen im globalen Ausmaß und sind sichtbar. Innere Konflikte laufen in einer viel kleineren Welt – im eigenen Kosmos – ab und können darin einen großen Raum einnehmen. Jedoch bleiben sie für andere in ihrer Vielschichtigkeit unbemerkt, wenn sie nicht nach außen getragen werden. Dorothee Häußermann hat einen Roman geschrieben, der das ändert.

Aus Romanfetzen zu einem Ganzen

Wir lernen Kundrie, Lotte und Nele kennen und begleiten jede der drei bei ihrem Engagement in ganz unterschiedlichen Formen – eine Hausbesetzung zur Verhinderung eines Flughafenbaus, die Arbeit für eine Nichtregierungsorganisation, das Tätigsein in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt auf dem Land. Eine radikalisierte Gruppierung, die im Namen des Umweltschutzes agiert, gibt Stoff zum Nachdenken.

Wir bekommen Zutritt in die vergangene und gegenwärtige Gedankenwelt der drei Figuren. Durch Kundries Erzählungen, Lottes Tagebucheinträge und andere „Romanfetzen“ wird ein kaleidoskopartiger Blick auf die sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten und Lebenswege möglich. Es ist eine Suche nach Identität und nach dem „richtigen“ Weg. Die äußerst unterschiedlichen Charaktere von Kundrie, Lotte und Nele erscheinen wie abgespaltene Facetten einer Persönlichkeit. Sie beleuchten, was in unterschiedlicher Form und Ausprägung in uns existieren kann.

Parallelen zum eigenen Leben

Dorothee Häußermann greift viele Fragen und Themen des persönlichen Innenlebens auf, mit denen man in der Umweltbewegung früher oder später, mehr oder weniger stark konfrontiert wird. Das sind zum Beispiel Gegenreaktionen von nahestehenden Menschen. Das sind unterschiedliche Erwartungshaltungen von Freunden und einem selbst. Die Gratwanderung zwischen Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Idealismus, der zum Ausschluss führen kann. Die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Engagement und privaten Bedürfnissen, die Zweifel, nicht genug zu tun. Die Ohnmacht gegenüber den fortgesetzten Umweltzerstörungen und die Begegnungen mit Menschen, die die Dringlichkeit von Umweltschutz nicht wahrnehmen. All das sind Pflastersteine eines Weges, den wir freiwillig gehen, um Umwelt und Natur nicht der Zerstörung zu überlassen.

Knoten, die sich lösen

Während man beim Lesen weiter in die Realität der Charaktere eintaucht, häufen sich die Momente, in denen sich die Geschichte mit dem eigenen Leben abgleichen lässt. So oder so ähnlich ist es einem auch widerfahren. Es ist spürbar, dass die Autorin sich mit dem Beschriebenen selbst intensiv auseinandergesetzt hat und eigene Erfahrungen einfließen lässt. Dabei schafft sie es, das Konglomerat aus Gedanken und Gefühlen, das in den Figuren herrscht, mit Aufmerksamkeit und Beobachtungsgabe aufzuschlüsseln und die Persönlichkeiten in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit in die Romanhandlung einfließen zu lassen. Das Buch erzeugt nicht nur ein hohes Maß an Identifikation, was für sich genommen schon immens wertvoll ist und einen die fiktive Geschichte so real empfinden lässt. Es hält, und das ist das Fesselnde, darüber hinaus Erkenntnisse bereit, die so manchen Knoten lösen und Denkprozesse in Gang setzen.

In Häußermanns Roman geht es weniger um den Ausgang der Geschichte, sondern vielmehr um alles zwischen Anfang und Ende, um die Geschichte selbst. Es ist ein Ausschnitt des Lebens, wie es in unser aller Leben ein Ausschnitt sein könnte. Dazu maßt sich das Buch nicht an, eine allgemeingültige Lösung zu bieten, und noch weniger, die Illusion eines Happy Ends zu schaffen. Alle sind wir auf der Suche nach dem für uns richtigen Weg und nach Quellen, die Mut und Zuversicht geben. Dieses Bestreben eint, und diese Erkenntnis kann uns enorm viel Kraft geben.

Rosa Wallow

Dorothee Häußermann:
Wind aus Nord-Süd. Romanfetzen
Verlag Tredition, Hamburg 2019
332 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-7497-5706-0


Autonome Geschichtsschreibung von unten

Alltagskämpfe gegen Rechtsruck, Militarisierung, antifeministischen Rollback und Prekarisierung

Im Jahr 2003 erschien zum ersten Mal das liebevoll gestaltete Geschichtsbuch „Autonome in Bewegung – Aus den ersten 23 Jahren“, zusammengestellt von fünf Autoren – ausschließlich Männer –, die den Beginn der Autonomen auf Anfang der 1980er Jahre datieren. Die fünf haben sich den aussagekräftigen Namen „A.G. Grauwacke“ gegeben. Grauwacke ist Sandstein mit Beimischungen, ein „gebräuchliches Material für Pflastersteine“. Die vorliegende aktualisierte Neuauflage erschien im Sommer 2020 und wurde kurz vor Corona fertiggestellt. Eine neue, jüngere Redaktionsgruppe hat das Projekt fortgeschrieben.

Für die ersten 23 Jahre wird die Bewegungsgeschichte nachgezeichnet, von Hausbesetzungen und Anti-AKW-Bewegung, Aktionen gegen den Krieg und gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens über die Solidarität mit Befreiungsbewegungen in Nicaragua, El Salvador oder Chiapas bis zu Kiezkämpfen, vor allem in Berlin, mit dem berühmten 1. Mai 1987, als in Kreuzberg der Bolle-Supermarkt brannte und geplündert wurde. Kampagnen gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF) und gegen den Mineralölkonzern Shell werden beleuchtet, ebenso der Mauerfall und die folgenden Kämpfe in erneuten Hausbesetzungen, die Verhinderung der Olympischen Spiele in Berlin, autonomer Antifaschismus und Antirassismus. Eine wichtige Rolle in der autonomen Geschichtsschreibung spielen auch die globalen Gipfelkämpfe gegen die Treffen der Mächtigen in Seattle oder Genua.

Militanz-Debatte und Aufbau selbstverwalteter Strukturen

Neben der Schilderung von Protesten und Aktionen werden auch Diskussionen, Richtungsstreitigkeiten und Irrwege nicht ausgespart. Das schwer definierbare Phänomen der „Autonomen“ wird in vielen Facetten dargestellt und (selbst-)kritisch reflektiert. Immer wieder geht es um Fragen der Militanz in ihren verschiedenen Formen. Diese wird grundsätzlich gutgeheißen, allerdings nur, solange keine Menschen gefährdet werden und wenn sie einen erkennbaren und vermittelbaren politischen Zweck verfolgt. Sinnlose Randale und Zerstörung um ihrer selbst willen sehen die Autoren kritisch. Ebenso grenzen sie autonome Politik von bewaffneten Gruppen ab, ohne diesen die Solidarität im Falle von Repression zu verweigern.

Ergänzt wird die Geschichtsschreibung durch Schilderungen von Dabeigewesenen, die ihre Zweifel und Hoffnungen, das Scheitern und Gelingen von Aktionen sehr persönlich und oft auch humorvoll ausmalen. Dabei gibt es durchaus auch heroisierende Schilderungen von Gewalt, aber auch Fragen nach Zugehörigkeit und Spaß an der Politik. Neben den Kämpfen gegen die herrschenden Verhältnisse gehört für die Autoren auch der Aufbau kollektiver Strukturen und Projekte für einen selbstbestimmten Alltag dazu. Autonomer Aktivismus ist weit mehr als das, was gemeinhin unter Politik verstanden wird. Das Private ist politisch und autonom sein bedeutet eine Lebensform gegen den Strom und für eine andere, gerechtere und dann auch gewaltfrei erträumte Welt. Auf der Website zum Buch, die jedoch vorerst mit Stand 2008 endet und nicht mehr aktualisiert wird, finden sich etliche Materialien und Diskussionspapiere zur Vertiefung.

Die Geschichte geht weiter

In einer durchlaufenden Zeitleiste sind politische Ereignisse, Proteste und Aktionen aus aller Welt bis Mitte März 2020 kurz benannt. Ein Glossar erläutert Begriffe und Abkürzungen. Zusammen mit zahlreichen Bildern und Plakaten blättert sich die widerspruchsvolle Geschichte radikaler politischer Kampfe und Utopien auf. Die fünf Autoren enden mit einem gemeinsamen und jeweils auch einem persönlichen Statement für die nächsten 23 Jahre. Rückblickend berichten sie über Hausdurchsuchungen und Repressionen, die aus dem Buch für sie folgten, die jedoch durchweg vom Bundesgerichtshof (BGH) für rechtswidrig befunden wurden. Auch ein Antrag des Bundesinnenministeriums auf Indizierung des Werks als jugendgefährdend wegen vermeintlicher Gewaltdarstellungen blieb erfolglos.

Das neue Autor*innenkollektiv schildert und reflektiert Alltagskämpfe gegen Rechtsruck, Militarisierung und antifeministischen Rollback, gegen die zunehmende Prekarisierung mit der Einführung von Hartz IV und gegen den Zugriff der Digitalkonzerne, außerdem Mietrechtskämpfe und Aktionen gegen Zwangsräumungen sowie Solidarität mit der Selbstorganisation von Geflüchteten, Grenzcamps und Klimakämpfe. Dabei werden Widersprüche und Konflikte nicht ausgespart. Auch die Frage der Militanz ist nach wie vor aktuell, sie kann Bewegungen spalten, aber auch erst auf Themen aufmerksam machen.

Gefährlich unterhaltsam und aktuell

Das Buch ist nicht ungefährlich, denn es liest sich so unterhaltsam und spannend, dass wer einmal anfängt darin zu blättern, es kaum wieder aus der Hand legen mag und andere Verpflichtungen vernachlässigen könnte. Mit fast 500 Seiten bietet das schwergewichtige Werk Lesestoff für viele Tage oder gar Wochen. Schade nur, dass sich beim intensiven Lesen einige Seiten meines Exemplars gelöst haben.

Es ist ein Buch zum Sich-Erinnern, zum Kopfschütteln und Schmunzeln, und ein erhellendes zeitgeschichtliches Dokument, auch für nachfolgende Generationen. Darüber hinaus steckt noch immer jede Menge Diskussionsstoff darin, sowohl für politische Strategien angesichts drohender Krisenzeiten als auch angesichts der Bedrohung von Projekten und Strukturen, die aus autonomen Bewegungen entstanden sind, auch unter dem rot-rot-grünen Berliner Senat. So wurde beispielsweise am 7. August die Kollektivkneipe Syndikat in Neukölln mit großem Polizeiaufgebot gegen lautstarken Protest geräumt, Wagenplätze wurden bereits geräumt oder fürchten um ihre Existenz und mobilisieren für Vernetzung und Proteste, die Räumung des anarcha-queer-feministischen Hausprojekts Liebigstraße 34 in Friedrichshain ist für den 9. Oktober angekündigt. Die legendären selbstverwalteten Jugendzentren Drugstore und Potse in Schöneberg stehen vor dem Aus – der Drugstore wartet seit seinem Auszug Ende 2018 auf die zugesagten neuen Räume, die Potse ist noch besetzt, jedoch nach einem Gerichtsurteil im Juli akut von Räumung bedroht.

Umbruch Bildarchiv braucht dringend Unterstützung

Gestaltet wurde das Buch vom Umbruch Bildarchiv, das seit 30 Jahren Aktionen der linken, antifaschistischen und antirassistischen Bewegungen dokumentiert. In dieser Zeit sind viele thematische Fotoausstellungen entstanden, und für Publikationen stehen mehr als 100.000 Fotos im Archiv zur Verfügung, das auch online in unzähligen Galerien einsehbar ist.

Seit 2004 ist Umbruch als gemeinnütziger Verein organisiert und hat seinen Sitz in dem umkämpften Haus Lausitzer Straße 10 in Kreuzberg. Die laufenden Kosten für Miete und eine Ministelle betragen monatlich etwa 1.350 Euro. Wenn es der Hausgemeinschaft gelingt, die Lause 10 zu kaufen und damit dem spekulativen Markt zu entziehen, werden die Kosten steigen. Die Einnahmen betragen monatlich jedoch nur rund 650 Euro, so dass die Existenz dieses einmaligen Bewegungsarchivs ernsthaft gefährdet ist. Darum sucht das Umbruch Bildarchiv dringend Fördermitglieder und Spenden.

Elisabeth Voß

A.G. Grauwacke:
Autonome in Bewegung
Aus den ersten 23 Jahren
5., erweiterte Auflage
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2020
496 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-86241-468-0

Website zum Buch: autox.nadir.org

Umbruch Bildarchiv:
www.umbruch-bildarchiv.org
Tel. (030) 6123037


Mit schmutzigem Geld zu schmutziger Politik

Die Klimaschmutzlobby blockiert den Kampf gegen den Klimawandel

Ein Eisbär guckt vom Rand seiner Eisscholle ins Meer. Orkane walzen Elendsviertel nieder und verschütten hunderte Menschen im Schlamm. Das Meer zermalmt Küsten, Inseln saufen ab und Wälder verkohlen. Dürren, Fluten, Hungersnöte und Seuchen: Kann ich mich da anders als hilflos fühlen? Ich trenne meinen Müll, vermeide Plastik, fahre Rad. Angesichts der Gewalt, die mir gegenübersteht, fühle ich mich dabei lächerlich. Klimaforscher sind sich einig, dass die Katastrophe bevorsteht. Und sie wissen, was wir dagegen tun könnten. Greta Thunberg hat uns daran erinnert. Und die Politik tut so, als hätte sie verstanden. „Ja aber“, bremsen viele, es gibt Gegenstimmen. Und sind wir nicht so erzogen worden, dass wir auch der anderen Seite Gehör schenken? Dass diese andere Seite aber aus schamlosen Lügnern bestehen kann, vergessen wir oft.

Ich habe – für mich jedenfalls – das Buch des Jahres gefunden. Und den Begriff des Jahrzehnts: Klimaschmutz. Es geht gar nicht um abstrakte Kräfte. Es geht um Täter. Einerseits um die Verursacher des Klimawandels. Aber vor allem auch um jene, die uns daran hindern, angesichts des Untergangs zu handeln. Es gibt Menschen, die alles daran setzen, die Fahrt in den Abgrund zu beschleunigen, weil sie davon profitieren. „Dieses Buch zeigt erstmals, wie Klimaschutz-Gegner seit Jahrzehnten den dringend nötigen Systemwechsel in Europa und den USA verhindern“, so der Klappentext.

Skrupellose Netzwerke

Meine Reaktion ist emotional, mag sein. Die Skrupellosigkeit der Täter lässt Wut aufkochen. Dabei ist das Buch der beiden Autorinnen sachlich und kühl. Akribisch folgen sie den Spuren der Umweltfrevler. „Die Schlüsselfiguren der Klimaschmutzlobby müssen endlich benannt, ihre Netzwerke offengelegt und ihre Motivation kritisch hinterfragt werden.“

Dieses Ziel haben Susanne Götze und Annika Joeres in brillanter Weise erreicht. Sie fangen an mit einer Begriffsklärung. Nicht alle Täter sind gleich. Es gibt wenige echte Leugner des Klimawandels – wer mag sich offen als Ignorant darstellen? Aber es werden mehr dank der großzügigen Spenden von US-amerikanischen Instituten, die von der fossilen Energiewirtschaft finanziert werden. Am schlimmsten sind die Bremser, die ihre Positionen in Politik und Wirtschaft dazu nutzen, jeden Ansatz zu ernsthaftem Klimaschutz zu sabotieren. „Dass es seit 30 Jahren nicht wirklich vorangeht im Klimaschutz“, schreiben die Autorinnen, „ist also kein Zufall, sondern eine Strategie von Profiteuren des alten Systems.“

Im ersten Teil des Buches geht es um die unterschätzte Gefahr, die von Klimawandel-Skeptikern und Bremsern ausgeht. Immer wieder schüren sie Angst vor angeblich zu hohen Kosten oder phantasieren von technischen Lösungen, die uns in ferner Zukunft alle retten werden. Sogar eine drohende Übermacht des Staates beschwören die Steinzeit-Kräfte herauf, die nicht unsere Demokratie, sondern ihre Bilanzen im Auge haben.

Bauern übers Ohr gehauen

Leider ist ihre Propaganda wirksam. „Hier baut sich eine Front gegen das gesamte Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Energiewende und schlussendlich auch gegen den Klimaschutz auf“, warnt das Buch. Und das hat, weitab von Wissenschaft oder simpler Vernunft, ausschließlich mit politischem Opportunismus zu tun. 44 Prozent der Gegner der Energiewende wählen laut Umfragen AfD. Ausführlich beschreiben die Autorinnen, wie sich rechtspopulistische Politik in Deutschland und anderswo auswirkt und was die Männer (denn meist sind es Männer), die sich hier lautstark einreihen, bewegt.

Spezielle Aufmerksamkeit verdient die Agrarlobby. Hier werden gewaltige Summen investiert oder, je nach Gesichtspunkt, verschleudert. „58 Milliarden Euro Agrarsubventionen werden jährlich in den Ländern der Europäischen Union verteilt.“ Doch auch hier geht es vor allem um den Profit, und „auch nach 2020 wird Klimaschutz für das größte Budget der EU nur eine Nebenrolle spielen.“ Ministerin Julia Klöckner interessiert das nicht. Nachhaltige Landwirtschaft verspottet sie als „Rückkehr nach Bullerbü“.

Und so ist das Fazit des Buches hier eindeutig: „Die Lobby der konventionellen Landwirte ist eine der erfolgreichsten überhaupt.“ Die meisten Bauern werden im heutigen System übers Ohr gehauen. Der Landwirt verkommt dabei zu einem Trichter, durch den Subventionen hindurchgepresst werden in die gierigen Hände der Industrie. So fällt ein für den Klimaschutz wichtiger Bereich einfach weg, denn „laut dem Umweltbundesamt ist die Landwirtschaft für rund ein Viertel aller Treibhausgase verantwortlich“.

Kohleausstieg verkehrt

Der zweite Teil des Buches beschreibt, wie die Klimaschmutzlobby im Detail arbeitet. „Die von der Öffentlichkeit wenig beachteten Beamten der Europäischen Kommission – immerhin 32.000 Menschen – sind es, die von Lobbyisten am meisten bearbeitet werden. Sie können Gesetzesvorlagen frühzeitig durchstechen oder darüber entscheiden, wie Gesetze formuliert werden“, wird der französische Soziologe Sylvain Laurens zitiert. Mitglieder des Europaparlaments profitieren von sogenannten „Drehtüren“ – ihnen stehen einträgliche Posten in der Industrie offen, wenn sie die richtigen Kontakte gepflegt haben.

An zwei Beispielen erkennen wir, wie erfolgreich Lobbyarbeit sein kann: Luftfahrt und Kohle. Noch immer ist Kerosin steuerfrei, ohne ersichtlichen Grund. Und trotz aller Proteste und aller Versprechen hängt Deutschland an der Kohle, als hätte man das Wort Ausstieg einfach durch Bestandsgarantie ersetzt. Das kürzlich von der Regierungskoalition verabschiedete Gesetz, das den Kohleausstieg verspricht, hat in perverser Manier die Arbeit der Kohlekommission umgekehrt: Noch jahrelang können Konzerne wie RWE und Leag Gelder einstreichen, um ganz langsam ihre alten Kohlemeiler auslaufen zu lassen. Götze und Joeres zeigen aber, dass diese Entscheidung eine logische Folge der Politik ist, die die Energiewende fast von Anfang an systematisch sabotiert hat.

Kurz und bündig erklärt Die Klimaschmutzlobby, wie der Aufschwung der Erneuerbaren Energien gestoppt wurde. Über die nächsten rund 80 Seiten erfahren wir, wie die Klimaschmutzlobby genau funktioniert, in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und in Osteuropa. Ein deprimierendes Bild.

Handbuch zum Handeln

Aber es gibt eine optimistische Note. „Denn die heutigen Verschmutzer sind die Gewinner von gestern.“ Die Weltsicht der Männer von gestern kommt bei immer weniger Bürgern an. Wir müssen „dem Narrativ der Lobbyisten eine mächtige faktenbasierte Erwiderung entgegensetzen“, fordern Susanne Götze und Annika Joeres: „Wie wir in einer klimafreundlichen Welt besser leben können.“ Und sie schließen ihr Plädoyer mit fünf beispielhaften Maßnahmen aus einem Dutzend Ländern, die man auch hier umsetzen könnte und sollte.

Dieses Buch ist ein Handbuch. Die genaue politische Analyse der Klimaschmutzlobby gibt uns Anhaltspunkte, um dagegen anzukämpfen. Lasst uns also das Buch zur Hand nehmen! Wie schon gesagt, für mich ist dies das Buch des Jahres.

Walter Tauber

Susanne Götze, Annika Joeres:
Die Klimaschmutzlobby
Wie Politiker und Wirtschaftslenker die Zukunft unseres Planeten verkaufen
Piper Verlag, München 2020
304 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-492-07027-0

Langfassung der Rezension:
www.wikistade.org/buecher-zum-umbruch


Mit Vollgas in die Klimakatastrophe?

Klimaforscher Mojib Latif warnt vor einer lebensfeindlichen Heißzeit, scheut aber die Konsequenzen

Die Menschheit rast „mit Vollgas in die Klimakatastrophe“. Das schreibt der renommierte und aus den Medien bekannte Klimaforscher Mojib Latif schon auf dem Einband seines neuen Buches – auch wenn dann noch ein Aber folgt und dringend Bremsversuche angemahnt werden. Obwohl das poppige, sonderbar unernste Cover des Buches etwas anderes vermuten lässt – die „Heißzeit“ wird keineswegs ein Zuckerschlecken, was Mojib Latif mit klaren Worten verdeutlicht. „Der Umgang der Menschheit mit der Klimaproblematik ist völlig unakzeptabel. Handelt die Menschheit nicht schnell und konsequent, könnte der Planet tatsächlich sein lebensfreundliches Antlitz verlieren. Die Anzeichen für den nahenden Klimakollaps sind unübersehbar“, schreibt Latif. „Eine ungebremste Erderwärmung würde die Menschheit vor kaum zu bewältigende Herausforderungen stellen.“ Das Zeitfenster, um eine dramatische Klimaänderung noch zu vermeiden, schließe sich. „Es droht im wahrsten Sinne des Wortes eine Heißzeit, ein Klima mit Temperaturen auf der Erdoberfläche, an die man sich nicht mehr wird anpassen können.“

Die Hoffnung noch nicht aufgegeben

Latif nennt die Dinge zumindest klar beim Namen. „Heißzeit. Mit Vollgas in die Klimakatastrophe – und wie wir auf die Bremse treten“ ist der etwas holprige Titel des Buches, das „Facts for Future“ liefern will, wie ein kleines Werbeschild auf dem Buchcover ankündigt.

Wie der Untertitel schon verrät, gibt Latif den Kampf gegen die Klimakatastrophe noch nicht verloren. Er zitiert zwar Jonathan Franzen („Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“), aber er betont, dass es immer noch mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich wäre, eine Klimakatastrophe zu verhindern, auch wenn „die Menschheit möglicherweise schon Prozesse in Gang gesetzt hat, die man nicht mehr stoppen kann“. Jedoch: „Solange nicht erwiesen ist, dass wir für die Klimarettung keine Option mehr haben, möchte ich die Hoffnung nicht aufgeben“, betont Latif.

Hinzuzufügen wäre, dass wir auch moralisch gegenüber den kommenden Generationen verpflichtet sind, die Prozesse wenigstens so weit wie möglich zu verlangsamen, und keinesfalls das Recht haben, die Aufheizung der Erde weiter zu beschleunigen.

Mittelweg des Denk- und Machbaren

Mojib Latif ist einer der bekanntesten deutschen Klimawissenschaftler und Meeresforscher am Geomar in Kiel und hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Bücher zum Klimawandel veröffentlicht. Er ist ein typischer Vertreter der etablierten Klimawissenschaft, die es in den letzten Jahrzehnten nicht vermocht hat, der Politik und der Öffentlichkeit den wirklichen Ernst der Lage zu vermitteln, und letztlich einen mittleren Weg des Sag- und Denkbaren und auch Machbaren mitdefinierte, mit dem sich alle irgendwie arrangieren konnten und mit dem alles so weiterging wie bisher.

Die ersten 120 Seiten des Buches bieten aber eine zutreffende Situationsbeschreibung und eine gute, knappe und verständliche Darstellung des Klimaproblems – eine wahre Fundgrube für Informationssuchende. Wer weiß schon, dass sich der CO₂-Gehalt der Atmosphäre derzeit zehnmal so schnell erhöht wie beim schnellsten natürlichen Klimawandel, so schnell wie noch nie in den letzten 100 Millionen Jahren – mit der entsprechenden Erwärmung. Schon für diese Fakten lohnt es, das Buch zu lesen. Eine komprimierte Darstellung der derzeitigen katastrophalen Entwicklungen im Klima- und Erdsystem – Stichwort Kippelemente – sucht man allerdings vergebens.

Mojib Latif vertritt, trotz der drohenden Klimakatastrophe, die Auffassung, dass die Welt erst 2050 klimaneutral sein muss, was allerdings der Sachverständigenrat für Umweltfragen und immer mehr von Latifs Forscherkollegen vehement bestreiten, die das CO₂-Budget der Menschheit schon in wenigen Jahren aufgebraucht sehen. Auch sollten nach Latifs Ansicht der Klimaschutz und offenbar auch die Klimakatastrophe positiver kommuniziert werden, als Chance sozusagen. Interessant ist in jedem Fall die im Buch aufgeworfene Frage, ob es eine psychische Blockade bei der Wahrnehmung und bei der Reaktion auf die Klimakatastrophe gibt, die als nicht lösbares Problem quasi „abgespalten“ wird – was unter dem Aspekt der kurzfristigen Alltags- und Lebensbewältigung ja möglicherweise sogar eine rationale Strategie ist.

Erst vom Gas gehen, dann bremsen

Latifs Buch ist auch so etwas wie Rechenschaft vor sich selbst und eine Abrechnung mit der Klimapolitik. Es geht um die klimapolitischen Irrungen und Wirrungen der letzten Jahre, und sicher werden viele in der Umwelt- und Klimabewegung Latifs Kritik teilen und nachvollziehen können.

In seiner Suche nach Auswegen und Lösungen dokumentiert das Buch aber auch das unveränderte Verstricktsein in Illusionen und Loyalitäten, wenn es um die Rolle des Staates, der Wirtschaft und der Medien geht. Es offenbart sich die bei Klimawissenschaftlern weit verbreitete gesellschaftspolitische Blauäugigkeit gegenüber Machtverhältnissen, Interessen, strukturellen Wachstumszwängen.

Der mehrteilige Buchtitel zeigt unfreiwillig die ganze Widersprüchlichkeit, die Klimaschutz und Klimastabilisierung in industriellen Wachstumsgesellschaften kennzeichnet: Bremsversuche, während man gleichzeitig weiter Gas gibt (wie mit den neuen Konjunkturpaketen), dürften kaum erfolgreich sein. Man müsste erst mal vom Gas gehen, um überhaupt bremsen zu können.

Den wahren Ernst der Lage und die gigantische Dimension der notwendigen Veränderungen will oder kann Mojib Latif nicht benennen, und eine grundlegend andere Welt kann er sich nicht vorstellen. Das Buch ist weniger ein „flammender Appell“, wie der Verlag es bewirbt, als vielmehr eine kritische Bestandsaufnahme, die am Ende politisch naiv und konturlos bleibt und die Welt auf dieselbe Weise retten will, wie es schon bisher nicht gelungen ist.

Jürgen Tallig

Mojib Latif: Heißzeit
Mit Vollgas in die Klimakatastrophe – und wie wir auf die Bremse treten
Herder, Freiburg 2020
224 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-451-38684-8

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