Spaziergänger – weg da!

Aus DER RABE RALF Februar/März 2020, Seite 13

Radschnellwege sollen die autogerechte Stadt ablösen. Doch durch sie drohen neue Zerstörungen

Radplaners Traum: Breite Asphalttrasse, für Fußgänger bleibt ein Nebenpfad. (Foto: Roland Stimpel/​FUSS e.V.)

Radschnellwege gelten manchen als die Königswege zur Verkehrswende: Pisten vom Stadtrand bis in die Berliner City – geradeaus, breit, mit wenig Ampeln, ohne Autos, aber auch ohne Fußgänger. Zehn Routen mit über 100 Kilometern Gesamtlänge sind in Berlin vorgesehen. Ihren Planern ist das Feinste und Grünste in der Stadt gerade gut genug: das Brandenburger Tor und der Boulevard Unter den Linden, der Mauerpark und der Gleisdreieck-Park, Uferpromenaden an der Spree und am Teltowkanal.

Aber sind sie wirklich ein Stück Verkehrswende? Das wären sie, wenn ihr Raum vor allem vom Autoverkehr genommen wird – etwa bisherige Fahrspuren an Hauptverkehrsstraßen. Für einzelne Radschnellwege soll das auch geschehen, etwa von der Heerstraße in Spandau bis zum Rand des Tiergartens.

Statt Autofahrern sollen Fußgänger zurückstecken

Oft aber ist das Gegenteil geplant: Fahrbahnen werden gelassen, wie sie sind. Zugleich soll der Raum für Radschnellwege ausgerechnet denjenigen Verkehrsteilnehmern genommen werden, die noch stadt- und umweltverträglicher sind – Fußgängern, von der spazierenden Rentnerin bis zum umherhüpfenden Kind.

Zum Beispiel am Brandenburger Tor: Dort favorisiert die Senatsgesellschaft Infravelo auf dem heute von Flaneuren dominierten Platz eine Rad-Trasse für täglich 30.000 Fahrzeuge – das wäre in Spitzenzeiten etwa jede Sekunde eins. Die Folge: Schluss mit dem freien Flanieren; man käme zu Fuß nur mühsam bis gar nicht mehr von einer Platzseite zur anderen.

Wo heute Entspannung und Stadtgenuss dominieren, soll morgen wieder Tempo herrschen. Das hat an dieser Stelle eine besondere Ironie: Erst 2002 wurde der Platz nach langer Diskussion dem Autoverkehr entrissen, eben weil sich rasches Fahren mit spontanem, wuseligen Platzleben nicht verträgt. Zwar ist das Fahrrad längst nicht so gefährlich, schädlich und lästig wie das Auto. Aber grundsätzlich gilt: Man muss sich entscheiden, was einen Ort bestimmen soll: gelassener Aufenthalt oder eiliges Vorankommen. Entspanntes Umherspazieren – oder Aufpassen auf schnellere Fahrzeuge, Kinder an die Hand nehmen, hektische Eile beim Überqueren.

Es gäbe Alternativen zur Brandenburger-Tor-Route, etwa am südlichen Tiergartenrand und dann über die Französische Straße. Ihr attestiert Infravelo sogar das „größte Verkehrspotenzial“; zudem wäre sie nicht von den häufigen Sperrungen wegen der Brandenburger-Tor-Ereignisse betroffen. Aber sie hat aus Senatssicht einen großen Nachteil: Es seien „deutlich größere Eingriffe in den Kfz-Verkehr erforderlich“ als für die Route durchs Tor und Unter den Linden.

Diese Eingriffe wären zwar für Autofahrer zu verschmerzen: Parkplätze würden wegfallen, hier und da würde es an einer Kreuzung enger, dennoch bliebe mehr als genug Auto-Raum. Die fünf parallelen Straßen zum Pariser Platz und Unter den Linden weisen stolze 17 Fahr- und Parkspuren auf. Ein Radschnellweg bräuchte nur zwei davon, 15 blieben übrig. Doch der Senat schikaniert offenbar lieber Fußgänger, von denen am Tor pro Tag fast 50.000 gezählt werden.

Schnellstraßen-Logik

Auch im Tiergarten denken die Senatsplaner ernsthaft darüber nach, den Radschnellweg nicht auf der breiten Straße des 17. Juni zu führen, sondern südlich davon über Parkwege. Da wäre dann das Spazieren verboten. Auch diese Teile des Parks würden vom Erholungs- und Genussraum zu Verkehrsschneisen degradiert. So etwas droht berlinweit – in Parks und Uferpromenaden von Pankow bis Kreuzberg, in Steglitz und in Treptow.

An solchen Orten hätten die Radschnellwege mit Umweltschutz besonders wenig zu tun. Sie sollen mindestens vier Meter breit sein, was viele dafür vorgesehene Wege in Parks und an Ufern nicht sind. Über Kilometer droht hier Kahlschlag am Stadtgrün. Erst recht, wenn die Planer ihr Versprechen einlösen, dass neben die Radwege auch Geh-Promenaden kommen. Beides zusammen würde Asphalt auf rund sieben Metern Breite erfordern – dort, wo heute auf Wegen Wasser einsickern kann und daneben Bäume und Büsche wachsen.

Um den Platz zu schaffen, müssten zudem an Ufern Böschungen begradigt werden – gängigste Methode sind Spundwände aus Metall anstelle der heutigen grünen Uferhänge. Und beim Thema Wege-Belag lügen die Planer geradezu: Sie bezeichnen Radschnellwege als „wichtigen Beitrag zur Flächenentsiegelung“. Doch für die Schnellwege sollen über weite Strecken aus unbefestigten Promenaden Asphaltpisten werden. Fast eine Kleinigkeit ist dagegen die geplante Rund-um-die-Uhr-Beleuchtung der Radschnellwege, die bekanntlich vielen Insekten und Vögeln gar nicht zuträglich ist.

Aber das alles sei es wert, behaupten die Planer, denn es werde ja viel Auto- durch Fahrradverkehr ersetzt, so gewinne die Umwelt. Damit das klappt, werden Radschnellwege mit gleichen Grundgedanken geplant wie Schnellstraßen. Sie sollen möglichst geradeaus führen und wenige Stopps an Kreuzungen haben – schon dafür seien Parks und Ufer besser als Hauptverkehrsstraßen. Genau wie seit 50 Jahren die Autobahnplaner sprechen die Radschnellweg-Verfechter von „Reisezeit-Optimierung“ und „Bündelung“, streben „Kreuzungsfreiheit“ an und rechnen Minuten-Vorteile vor: Für acht Kilometer am Teltowkanal brauche man statt heute 32 künftig nur noch 22 Minuten. Es ist allerdings fraglich, ob solche Minutenschinderei viele Menschen aufs Rad lockt, denn S- und U-Bahn sind auf manchen Strecken doppelt so schnell, Zwischenstopps eingerechnet.

An Alltagsbedürfnissen vorbeigeplant

Kernzielgruppe für Radschnellwege sind Mittel- und Langstreckenpendler, die entweder sportlich oder mit elektrisch unterstützten Pedelecs unterwegs sind. Solche Leute geben bei Infravelo und in den Berliner Radverbänden den Ton an. Aber sie sind nur eine Minderheit unter Berlins Radfahrern. Die legen nämlich nach jüngsten verfügbaren Zahlen im Tagesschnitt nur 3,9 Kilometer zurück. Und dafür brauchen sie keine Schnelltrassen von Teltow nach Pankow oder von Spandau nach Lichtenberg, sondern sichere Verbindungen zum Quartierszentrum, zur Schule, zur S-Bahn. Doch an den Alltagsbedürfnissen der meisten Berliner Radfahrer werden die Radschnellwege vorbeigeplant. Denn sie sollen gerade nicht die Stadtgebiete mit dem größten Gewusel erschließen. Da ist einfach zu viel los, als dass hohe „Reisegeschwindigkeiten“ möglich wären.

Dicht bebaute und stark belebte Stadtquartiere sind verkehrstechnisch betrachtet fein geknüpfte Netze. In ihnen kreuzen sich ständig die Wege verschiedener Menschen. Das heißt: Man muss sich arrangieren, sich ausweichen, anderen auch mal den Vortritt lassen. Keiner hat ständig freie Bahn – es sei denn im Tunnel oder auf einem Viadukt oberhalb der Straße. Auch ein Radschnellweg wäre in dichten Quartieren ein Fremdkörper.

Damit diese Wege trotzdem funktionieren, plant man sie in Berlin so, wie einst die autogerechte Stadt geplant wurde: Vorrang bekommt die schnelle Trasse. Alle, die quer kommen könnten, müssen warten. Am Brandenburger Tor und anderswo verfolgen Berlins Senatsplaner einen irrwitzigen Plan: Sie wollen die Stadtzerstörung durch autogerechte Schnellwege ausgerechnet dadurch reparieren, dass sie vom Auto verschonte Plätze und Promenaden jetzt mit fahrradgerechten Tempo-Trassen zerstören.

Roland Stimpel

Weitere Informationen:
www.infravelo.de 
www.fuss-ev.de

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