Aus DER RABE RALF August/September 2022, Seite 20
Der Schriftsteller J. R. R. Tolkien war ein konservativer Katholik – und ein Ökoanarchist
„Meine politischen Ansichten neigen mehr und mehr zur Anarchie hin (philosophisch verstanden, als Abschaffung von Herrschaft – nicht Männer mit Bomben und Vollbärten). Ich würde jeden festnehmen, der das Wort ‚Staat‘ gebraucht“, schrieb J. R. R. Tolkien am 29. November 1943 an seinen Sohn Christopher. War der weltbekannte Schöpfer des „Herr der Ringe“ etwa ein Anarchist? Wie passt das zu einem Autor, der sich als konservativer Katholik verstand und gelegentlich sogar im Verdacht steht, ein verkappter Rassist zu sein?
Aus dem Leben eines Sprachmagiers
John Ronald Reuel Tolkien wurde als Sohn englischer Eltern 1892 in Südafrika geboren, einige seiner Vorfahren stammten aus Deutschland. Der Vater starb früh, woraufhin die Familie in die Nähe des von der Industrialisierung weitestgehend unberührten Birmingham zog. Der kleine John wurde katholisch erzogen und entdeckte früh sein Talent für Sprachen. 1904 starb auch die Mutter. In der Schule konnte sich Tolkien weiter seinen Sprachstudien widmen, Studien, die er, unterbrochen vom Dienst im Ersten Weltkrieg, am Exeter College in Oxford fortführte. Schon während des Krieges hatte Tolkien begonnen, eigene Sprachen zu erfinden und zur Grundlage für fantastische Geschichten zu nehmen. 1918 bekam er einen Lehrstuhl am Pembroke College, worauf ein Ruf an die Universität Oxford folgte.
Tolkien führte nun eine Art Doppelleben: Tagsüber war er ein geachteter Professor für altenglische und isländische Sprache und nachts erschuf er eine Welt, in der Menschen, Elben, Zwerge und Hobbits gegen Drachen, Goblins, Orks (und noch dunklere Mächte) bestehen mussten. 1937 erschien „Der Hobbit“, 1954 „Der Herr der Ringe“. Tolkien verstand sich nie als Kinderbuchautor. Er nahm seine Werke sehr ernst, jedes Detail wurde penibel ausgearbeitet. In allen Geschichten wird auf andere Geschichten angespielt, die an eine heroische Vorzeit erinnern. So entsteht eine erzählerische Tiefe, in die der Leser unwillkürlich hineingezogen wird. Aber Tolkien wollte noch mehr: Seine Welt sollte als Grundlage für eine eigene, englische Mythologie dienen.
Der Erfolg blieb nicht aus. Eine illegale amerikanische Taschenbuchausgabe von „Der Herr der Ringe“ trug maßgeblich dazu bei, dass Tolkien zum Helden der Hippie-Generation wurde. Während der Studentenproteste hielten einige Transparente hoch, auf denen „Gandalf for President“ zu lesen war (Der Zauberer Gandalf ist eine der wichtigsten Figuren bei Tolkien). Wem Tolkiens Welt bis zur Jahrhundertwende noch kein Begriff war, der konnte ihr nach den Verfilmungen Peter Jacksons und den sie begleitenden Marketingoffensiven nicht mehr entkommen. Der Autor hätte diese seelenlosen Actionspektakel, die der Vorlage jegliche Poesie genommen haben, mit Sicherheit gehasst. Gleiches wird für die vom Internetgiganten Amazon angekündigte Serie gelten, die in Kürze erscheinen soll.
Kein politischer Autor?
Tolkien sträubte sich vehement gegen allegorische Interpretationen seiner Werke. Sein Ober-Bösewicht Sauron sollte weder als Porträt Hitlers noch als Anspielung auf Stalin verstanden werden. Vom Autor selbst sind widersprüchliche politische Äußerungen überliefert, die von der Verurteilung Hitlers über die Verteidigung Francos bis zur Kritik am britischen Imperialismus reichen. William H. Stoddard behauptet, dass Tolkien wenig Interesse an Politik hatte und bei der Beschreibung seiner Völkerschaften nur flüchtig auf Fragen von Gesetzgebung und Regierungsform eingegangen ist. Das stimmt allerdings nicht ganz.
Obwohl Tolkien kein genuin politischer Autor wie Ursula Le Guin (Rabe Ralf Februar 2022, S. 20) war, kommt auch sein Werk nicht ganz ohne Politik aus. Als Ganzes genommen kann etwa „Der Herr der Ringe“ als Herrschafts- und Machtkritik gelesen werden, schließlich wird der „Eine Ring“, der dazu erschaffen wurde, „alle zu knechten“, am Ende vernichtet. Macht wird nicht durch Macht besiegt, sondern durch Absage an Macht. Aber das ist bei Weitem nicht alles. Bei einer Expedition durch Tolkiens „Mittelerde“ würde ein Ethnologe feststellen, dass die vorgefundenen Völker in höchst unterschiedlichen Gesellschaftsformen leben. Einige scheinen sogar Anarchisten zu sein.
Anarchie in Mittelerde
Die eigentlichen Helden Tolkiens, die Hobbits, sind ein kleinwüchsiges Volk, das sich lieber den Wonnen der ländlichen Idylle hingibt, als in gefährliche Abenteuer hineingezogen zu werden. Bei näherer Betrachtung sind diese Landlust-Spießer allerdings nicht ganz so gewöhnlich, scheint es doch so, als ob sie ohne Regierung leben würden, weshalb der Tolkien-Forscher Alexander van de Bergh von der „lockeren, selbst-regulierenden Beinahe-Anarchie der Hobbits“ sprechen kann. Zu beachten ist allerdings, dass es bei den Hobbits eine Art Aristokratie zu geben scheint, von absoluter „Herrschaftslosigkeit“ kann hier also keine Rede sein.
Während ihrer Reisen treffen die Hobbits auf ihnen politisch nicht unähnliche Völker. So stoßen Merry und Pippin auf ihrer Flucht vor den bösen Orks im Fangornwald auf den Waldhüter Baumbart, der zum Volk der Ents gehört. Ihn bitten sie um Hilfe, doch die Ents müssen sich erst einmal zur Beratung zurückziehen. Das „Ent-Thing“ zieht sich dabei gehörig in die Länge. Viele Interpreten haben hier eine Satire auf demokratische Entscheidungsfindungsprozesse erkennen wollen. So meint Dieter Petzold schreiben zu können, dass die Ents „in einer direkten, aber auch lächerlich umständlichen Demokratie leben.“ Der kanadische Anthropologe und Anarchist Harold Barclay hat darauf hingewiesen, dass es bei den isländischen Wikinger-Things (die Tolkien als Vorlage dienten) durchaus basisdemokratische und anarchistische Tendenzen gab, auch wenn Frauen und „Unfreie“ ausgeschlossen waren. Der germanophile Tolkien wird sich hier also sicher nicht einfach über diese Frühform der Demokratie lustig gemacht haben wollen. Auch die Waldbesetzer im Hambacher und Dannenröder Forst können sich mit gutem Recht auf die Ents als geistige Ahnen berufen.
Bei den bösen Orks erscheint die Sache eindeutiger. Tolkien schildert sie als brutale und vor der Macht kriechende Kriegerhorden, die nur für die Schlacht geboren sind. Ihre Ursprünge bleiben im Dunkeln. Nur selten erfährt man etwas aus ihrer Perspektive. An einer Stelle in „Herr der Ringe“ ist der Leser aber Zeuge eines Gesprächs, in dem sich ein Ork sehnsüchtig an eine Zeit erinnert, in der es „no big bosses“ gab. Lebten die Orks vielleicht früher in kriegerischen Gesellschaften „gegen den Staat“, wie sie der Ethnologe Pierre Clastres beschrieben hat?
Öko-Utopie Auenland
Wenn sich, was den Anarchismus betrifft, im Werk nur vereinzelte Spuren finden lassen, so ist Tolkien, wenn es um die ökologische Frage geht, recht eindeutig. Vor allem das Auenland, in dem die Hobbits wohnen, wird als intakte Kulturlandschaft gezeichnet, in der man tagelang herumstreifen kann und dabei nur auf verwunschene Wälder, unberührte Seen und vereinzelte Gehöfte stößt. Hier gibt es keine Banken und Großbetriebe, nur kleine Handwerker und Bauern. Die im Roman beschriebene Kolonialisierung des Auenlands wird als aufgezwungene Industrialisierung geschildert, gegen die auch die Ents im Namen der Bäume rebellieren.
Erneut zeigt sich die Ambivalenz von Tolkiens Weltanschauung: Ökologisches Bewusstsein und Herrschaftskritik können sich sowohl aus einer freiheitlich-libertären als auch aus einer konservativen Haltung heraus entwickeln. Der Fraktion der reaktionären Fortschrittsfeinde stehen die revolutionären Romantiker gegenüber. Es ist schwer zu entscheiden, zu welcher Gruppe Tolkien gehört.
Tolkien lesen
An Literatur von und über Tolkien herrscht kein Mangel. Sohn Christopher hat bis zu seinem Tod im Jahr 2020 immer wieder Texte aus dem Nachlass seines Vaters hervorgeholt und herausgegeben. Aus diesem Fundus sei vor allem das grimmige Meisterwerk „Die Kinder Húrins“ empfohlen. Was die beiden Hauptwerke betrifft, streiten sich die deutschen Leser, ob die poetisch-stimmungsvolle Übertragung von Margaret Carroux oder Wolfgang Kreges Versuch, der sprachlichen Vielschichtigkeit der Vorlage gerecht zu werden, die bessere Übersetzung ist. Ein Großteil gibt Carroux den Vorzug. Einsteigern sei das von SWR2 und WDR produzierte Hörspiel ans Herz gelegt.
Wer sich eingehender mit den hier behandelten Aspekten beschäftigen möchte, lese Eike Kehrs „Die wiederbezauberte Welt. Natur und Ökologie in Tolkiens ‚The Lord of the Rings‘“. Das Buch kann für sechs Euro bei der Phantastischen Bibliothek Wetzlar bestellt werden.
Johann Thun
Weitere Informationen:
www.phantastik.eu
www.tolkiengesellschaft.de