Freiheit für die Ohren

Aus DER RABE RALF Dezember 2023 / Januar 2024, Seiten 16/17

Die Macher des Podcasts „Übertage“ über linke Medien, rechte Schläger und Ökologie ohne Kapitalismus

Joshua (links) und Marian machen den Übertage-Podcast – oder, wie sie es nennen, „Pottcast“. (Foto: privat)

Noch immer geht der Witz um, dass die Corona-Zeit vor allem dazu genutzt wurde, um einen eigenen Podcast zu starten. Durch diese leicht zu produzierenden Audioformate kann im Grunde jeder seine Weltsicht zum Besten geben. Mit dem Ende des Lockdowns haben zwar viele wieder aufgegeben, aber das Genre erfreut sich weiterhin wachsender Beliebtheit. Neben viel Belanglosem hat sich inzwischen auch in Deutschland eine hörenswerte linke Podcast-Szene gebildet, in der auf hohem Niveau über gesellschaftliche und ökologische Themen diskutiert wird. Der Rabe Ralf sprach mit Marian und Joshua vom Übertage-Podcast, dem vielleicht interessantesten Projekt aus dieser Sparte.

Der Rabe Ralf: Wie seid ihr auf die Idee gekommen, einen Podcast auf die Beine zu stellen?

Die Idee hatten wir schon sehr lange. Es gibt einen massiven Mangel an linken und anarchistischen Medienprojekten, die mit offenem Visier viele Menschen ansprechen. Das gilt sowohl für klassische Medien wie Zeitungen oder Radio als auch für Podcasts, Videos, Livestreams oder Social-Media-Projekte. Der einzige Bereich, wo der deutschsprachige Anarchismus noch recht gut dasteht, ist im Verlagswesen. Bücher können wir, es gibt es nach wie vor eine Vielzahl an unterschiedlichen Verlagen.

Da ansprechend und professionell gestaltete Medienprojekte ein wesentliches Element sind, um eine relevante gesellschaftliche Kraft zu werden, haben wir erst einmal nur herumgemeckert, dass es so wenig davon gibt. Während Corona haben wir es dann selbst in die Hand genommen. Vor allem aus der Motivation heraus, dass es irgendwer ja machen muss, aber auch, weil es uns die Möglichkeit gibt, unabhängig von der gesellschaftlichen Situation und der Richtung, in die sich kollektive Strukturen entwickeln, handlungsfähig zu bleiben. So können wir Einfluss auf die Bewegung und – in geringem Maße – auf die Gesellschaft nehmen.

Wir versuchen in allen Bereichen mitzuspielen, in denen es Leerstellen gibt. Unser „Kerngeschäft“ ist zwar der Podcast, wir machen mittlerweile aber auch Livestreams auf der Plattform Twitch, produzieren längere Videos für Youtube und Kurzvideos für Tiktok. Daneben haben wir die Community „anarchismus.de“ als Webseitenprojekt gestartet, wo wir eine eigene Broschürenreihe herausgeben. Darüber hinaus dokumentieren wir Teile unseres Lebens auf Instagram, sind also auch im klassischen Sinne Influencer.

Individualanarchismus, Anarcho-Feminismus, kommunistischer Anarchismus, Anarchosyndikalismus … der Anarchismus teilt sich in diverse Strömungen. Welcher fühlt ihr euch zugehörig?

Anarchismus ist für uns historisch wie aktuell Sozialismus. Für uns steht das ewige Mantra, dass die größte Stärke des Anarchismus seine Vielseitigkeit sei, nicht im Vordergrund. Viele der unterschiedlichen Ansätze haben ihre Berechtigung, im Mittelpunkt sollte aber immer der soziale Kampf stehen. Der Anarchismus ist in allererster Linie ein Projekt zur Befreiung der Arbeiter:innen von den kapitalistischen Grausamkeiten und von Herrschaft an sich. Die Fragen nach den materiellen Zuständen der Gegenwart, nach der richtigen Strategie, um diese zu ändern, und nach der Gesellschaft, die angestrebt werden soll, beantwortet der anarchistische Kommunismus in einer Klarheit, die nötig ist, um diese Welt zu verändern. Eine Klarheit, die ansonsten dem heutigen Anarchismus fehlt, weswegen er in seiner aktuellen Bedeutungslosigkeit gefangen ist. Wer sich dafür interessiert: In Folge 26 sprechen wir darüber, was anarchistischer Kommunismus ist, und in Folge 100 schlagen wir eine anarchistische Transformationsstrategie vor.

Wie euer Podcast-Name schon erahnen lässt, kommt ihr aus einer Bergbauregion: aus dem Ruhrgebiet. Dort gibt es eine stabile libertäre Tradition. Wie ist ihr euer Verhältnis zu diesen Vorkämpfern?

Wir wohnen in Dortmund, wo es zur Hochzeit des Anarchismus in den 1920er Jahren eine große anarchistische Bewegung gab. Allein in der Freien Arbeiter-Union Deutschlands waren dort zweitweise 20.000 Menschen organisiert. Sie waren damals vor allem im Bergbau tätig und stellten in vielen Zechen die Mehrheit der organisierten Arbeiter. Im März 1920 kam es – wie in vielen Teilen Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg – zu einer lokalen Revolution, wodurch große Teile des Ruhrgebiets in die Kontrolle der Arbeiter:innen gelangten. Allerdings nur für kurze Zeit, weil der Aufstand von faschistischen Freikorps blutig niedergeschlagen wurde – unter politischer Führung der Sozialdemokraten. Wir haben eine tiefe Verbindung zu unseren Vorkämpfenden.

Dass es dann durch den Faschismus einen Bruch in der Tradition des Anarchismus und Syndikalismus in Deutschland gab, ist ein weiterer wichtiger Grund für unsere aktuelle Schwäche. Unsere Bewegung wurde weitestgehend vernichtet, sodass nur sehr wenig an kommende Generationen weitergegeben werden konnte. Auch deshalb ist der Anarchismus bis heute eher eine Jugendbewegung geblieben. Es ist bislang nicht gelungen, eine neue Kontinuität aufzubauen. Entsprechend wichtig ist für uns der Bezug auf diejenigen, die vor uns kamen. Ihre Opfer und ihr Beispiel dürfen nicht vergebens gewesen sein. Über die Geschichte des Anarchismus in unserer Stadt haben wir übrigens in Folge 98 mit Andreas Müller von der Geschichtswerkstatt Dortmund gesprochen.

Man spricht immer über Nazi-Hochburgen im Osten, aber ihr habt in Dortmund auch eine große rechtsradikale Szene. Mit der seid ihr schon aneinandergeraten …

Dortmund hat sogar die stärkste organisierte deutsche Naziszene in Westdeutschland. Wir heben das „deutsch“ hervor, da islamistische und türkisch-faschistische Kräfte in Westdeutschland von der Linken allgemein unterschätzt werden und oftmals erheblich stärker aufgestellt sind als die biodeutschen Nazis. Letztere haben seit der Gründung der Fußball-Hooligan-Gruppe „Borussenfront“ vor 40 Jahren eine durchgehende Tradition entwickeln können. Bis heute sind Nazis aus der Borussenfront in den aktuellen Nazistrukturen aktiv. Sie haben sich mitten im Stadtteil Dorstfeld in ein paar Häusern festgesetzt, die sie als eine Art Nazi-WG bewohnen. So können sie bis heute eine gewisse Grundkontinuität aufrechterhalten, trotz erheblicher Schwächung in den letzten paar Jahren.

Die Dortmunder Nazis haben zwar keine gesellschaftliche Relevanz und hatten auch nie eine, sie sind aber eine Bedrohung für Linke und Minderheiten. Sie sind strategisch oftmals gut aufgestellt, wodurch sie immer wieder Nadelstiche innerhalb der Stadt setzen können. Für ihre Verhältnisse sind sie auch bei der Mediendarstellung momentan recht erfolgreich. Wie alle Linken in Dortmund sind wir seit vielen Jahren mal mehr, mal weniger intensiv im Kampf gegen die Nazis involviert. Dabei mussten wir ab und zu mal einstecken, haben ihnen aber auch schon empfindliche Schläge versetzen können. In Folge 38 haben wir mit der Dortmunder „Mean Streets Antifa“ über die Naziszene in der Stadt gesprochen.

In euren Videos macht ihr einen überaus schnieken und gepflegten Eindruck. Ihr seht gar nicht so aus, wie sich die berühmte Oma von der Supermarktkasse die Anarcho-Chaoten vorstellt. Auch so manches Marken-Logo ist bei euch zu sehen. Ist das als subversive Übernahme gemeint oder seid ihr am Ende doch Sklaven des Kapitalismus?

Vor allem tragen wir einfach die Kleidung, die uns gefällt. Wir achten schon darauf, dass wir einen gepflegten Eindruck machen, schließlich repräsentieren wir ja ein Stück weit den Anarchismus. Aber natürlich geht es nicht nur um Äußerlichkeiten, sondern um die Werte, die Revolutionäre und Revolutionärinnen unserer Ansicht nach verkörpern sollten. Folge 64 über Selbstbewusstsein und Folge 32 über Revolutionäre und ihr Leben könnten hier interessant sein.

Linke dafür zu kritisieren, dass sie Markenkleidung tragen, halten wir für absurd. Ethischer Konsum ist im Kapitalismus nicht möglich, oder höchstens, wenn man einen großen Geldbeutel hat, den wir nicht haben. Noname-Kleidung hat die gleichen katastrophalen Produktionsbedingungen wie Adidas und Co. Wir haben auch dieser Frage eine eigene Folge gewidmet. Nummer 45 heißt: „Du trägst Markenkleidung und bist gegen den Kapitalismus?“

Euer Podcast ist bei den großen Anbietern wie Amazon oder Spotify zu finden. Steht das nicht im Widerspruch zu euren Inhalten?

In der Frage der Medienplattformen gilt leider die traurige Wahrheit, dass ohne „die Großen“ niemand mitbekommen würde, was wir machen. Wenn wir nur bei kleinen, alternativen Plattformen wie Mastodon wären – wo wir tatsächlich auch sind – und unsere Audios lediglich in einem eigenen Blog veröffentlichen würden, hätten uns bis heute nicht Zehntausende Menschen gehört. Wir wollen ja gerade viele Leute erreichen. Wir finden es sinnvoll, auch andere unabhängige Plattformen zu bedienen, und unterstützen ihre Entwicklung. Das erläutern wir ausführlich in Folge 88. Aber wenn wir nicht auf Spotify, Youtube, Twitch und Co. unterwegs wären, hätte unser Projekt wenig Sinn.

Was eure Inhalte betrifft, fällt auf, dass die einzelnen Themen immer sehr gut recherchiert sind. Gehe ich recht in der Annahme, dass ihr gar keine malochenden Kumpel seid, sondern faule Studenten?

Das ist weitestgehend richtig! Zwar ist Marian in einem Zechenhaus groß geworden und Joshuas Opa war noch Kohlearbeiter, aber wir fahren nicht mehr in den Schacht, sondern erleben das postindustrielle Ruhrgebiet nur noch übertage. Es sei denn, wir fahren mal für eine Museumstour in eine Zeche untertage.

Joshua studiert auf Lehramt und arbeitet nebenher in einer Bibliothek. Marian hat bis vor Kurzem in einer sozialen Einrichtung zum Thema Spielsucht und Medienabhängigkeit gearbeitet. Wie schon angedeutet, haben wir wenig Kohle und „Übertage“ ist ein Riesenprojekt geworden – fast ein eigener Job. Wir freuen uns deshalb immer über finanzielle Unterstützung, um das Projekt noch mehr zu professionalisieren und unabhängiger zu betreiben. In Folge 4 stellen wir uns und unseren Weg zum Anarchismus vor.

Aufständische der Roten Ruhrarmee 1920 in Dortmund. Foto: unbekannt, commons.wikimedia.org/?curid=20001002

Was hat Anarchismus eigentlich mit Ökologie, Klimakrise und Umweltschutz zu tun?

Alles. Der Sturz des Kapitalismus ist die einzige Möglichkeit, die Welt vor der Zerstörung durch den Klimawandel zu bewahren. Die alte Losung „Sozialismus oder Barbarei“ ist heute aktueller denn je. Wir sind überzeugt, dass nur der Anarchismus aus dem Bruch mit dem Kapitalismus ein besseres Morgen hervorbringen kann. In Folge 57 sprechen wir über das Dilemma, dass es in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren wahrscheinlich keine Revolution in unserem Sinne geben wird und wie das mit der Klimakatastrophe zusammenhängt.

Und wann kommt die Folge zum Öko-Anarchismus?

Wir haben zwar schon oft über die ökologische Frage gesprochen, aber eine eigene Folge zum Öko-Anarchismus fehlt tatsächlich noch. Leider können wir auch erstmal nichts versprechen, da wir eine absurd lange Liste mit geplanten Themen für die nächsten Monate haben. Da ist der Öko-Anarchismus noch nicht dabei.

Welche Folge könnt ihr Neugierigen zum Einstieg empfehlen?

Für Anfänger ist Folge 61 geeignet. Die haben wir extra für Menschen aufgenommen, die sich bisher noch gar nicht mit unseren Ideen auseinandergesetzt haben. Wer schon ein bisschen im Thema drin ist, kann sich direkt den Brecher geben – die Folge 100 „Unser Weg zur Revolution“, auf die wir sehr stolz sind. Ihr werdet in Audioform nichts Vergleichbares finden, das sich aus anarchistischer Sicht mit Transformationsstrategien beschäftigt, versprochen! Ansonsten hängt es sehr stark davon ab, wofür man sich interessiert. In den bisher 113 Folgen, unzähligen Livestreams und anderen Veröffentlichungen ist für alle etwas dabei.

Inzwischen gibt es eine wachsende Anzahl an linken und libertären Podcasts. Bei einigen wart ihr auch schon zu Gast. Könnt ihr da welche empfehlen?

Eine schöne Entwicklung! Wenn auch keine, die wir ohne Kritik sehen. Viele Podcast-Projekte versanden nach ein paar Folgen wieder, sind schlecht gemacht oder werden schlecht beworben. Außerdem wäre es schön, wenn nicht nur Podcasts entstehen würden, sondern auch andere Medienprojekte. Aber schon klar: Podcasts sind nun mal ein Trend, weil man damit ganz gut Leute erreichen kann. Aber wir brauchen auch Leute, die streamen oder Videos produzieren.

Neben den bekannten Platzhirschen wie „Die Filmanalyse“ oder unseren Kollegen von „99 zu Eins“ gefallen uns die Podcasts „Anarchie & Cello“ aus Österreich, „Aktion & Alltag“ aus Koblenz und „Nächste Links“ aus Hamburg.

Jetzt mal ganz ohne Regionalpatriotismus: Hat Berlin nicht mehr zu bieten als euer Pott im Westen? Warum zieht ihr nicht einfach her? Das machen doch alle.

Wir werden niemals nach Berlin ziehen, weil eure Currywurst eine Beleidigung für das tatsächliche Wesen der Currywurst ist und wir es nicht ertragen könnten, unsere Wurst mit Ketchup und ein bisschen Currypulver zu essen. Bah! Schämt euch!

Gut, dann eben nicht. Aber wie können die Raben-Leserinnen und -Leser trotzdem eure Arbeit unterstützen?

Dieses Interview ist bereits eine tolle Unterstützung. Mehr Reichweite hilft uns immer, also „liken, liken, liken“ und abonnieren, was das Zeug hält. Das hört sich doof an, ist aber nötig. Das machen die Rechten auch nicht anders.

Wer noch mehr machen will, kann gerne Zeug aus unserem Online-Shop kaufen. Wir schicken euch gern haufenweise Aufkleber, Taschen und T-Shirts zu, um allen zu zeigen, was sie hören können.

Danke für das Gespräch, Glück auf!

Glück auf! Danke, und alles Gute für euren Raben!

Interview: Johann Thun

Podcast anhören und weitere Informationen: www.podtail.com oder www.patreon.com (Suche: „Übertage“), www.anarchismus.de

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