Mexiko: Warten auf den Wandel

Aus DER RABE RALF April/Mai 2020, Seite 15

Mexikos Präsident versprach das Ende des Neoliberalismus. Doch seine Infrastrukturpolitik lässt daran zweifeln

Protest gegen die „Projekte des Todes“ (Foto: Daliri Oropeza/​Flickr, CC BY-NC-SA 2.0)

Kann die neoliberale Epoche per Dekret beendet werden? Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO genannt, scheint davon auszugehen. „Aus dem Nationalpalast erklären wir formell das Ende der neoliberalen Politik“, sagte der 66-Jährige vor gut einem Jahr bei der Vorstellung des Entwicklungsplans für seine sechsjährige Amtszeit. Vier Monate zuvor hatte López Obrador das Präsidentenamt angetreten, nachdem er im Juli 2018 die Wahlen mit der historischen Mehrheit von 53 Prozent der Stimmen für sich entscheiden konnte.

Bei den zwei vorausgegangenen Urnengängen 2006 und 2012 scheiterte AMLO noch aufgrund von Wahlmanipulation und Hetzkampagnen in den Medien. Doch angesichts der wirtschaftlichen Krise, der anhaltenden Gewalt und der grassierenden Korruption im Land fanden seine sozialdemokratischen Positionen im Jahr 2018 immer mehr Anklang bei der von ihrer politischen Klasse frustrierten Bevölkerung. Auch heute stehen die Mexikanerinnen und Mexikaner weiter hinter AMLO.

Großprojekte versprechen Wirtschaftsaufschwung

Doch während die Zugstimmungswerte zu dem von López Obrador versprochenen Wandel ungebrochen hoch sind, zeichnen sich auch klare Widersprüche im Regierungsprojekt von AMLO und seiner Partei „Bewegung Nationale Erneuerung“ (Morena) ab, die das angekündigte Ende des Neoliberalismus als bloßes Lippenbekenntnis erscheinen lassen. Exemplarisch dafür stehen die von AMLO vertretene Entwicklungspolitik und seine damit verbundene Haltung zu den indigenen Gruppen.

Denn um das Versprechen vom wirtschaftlichen Aufschwung Wirklichkeit werden zu lassen, setzt die mexikanische Regierung in Allianz mit der Unternehmerelite vor allem auf Infrastruktur-Großprojekte, mit denen Randregionen des Landes in die nationale und internationale Wertschöpfungskette eingebunden werden sollen.

Besonders drei Projekte stechen heraus. Erstens die mehr als 1.500 Kilometer lange Zugstrecke „Tren Maya“, die die verarmten südöstlichen Bundesstaaten Chiapas, Tabasco, Campeche, Yucatán und Quintana Roo dem Massentourismus zugänglich machen soll. Zweitens der „Corredor Transístmico“, eine Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik an der Meerenge des Isthmus von Tehuantepec durch den Ausbau von Zugstrecken, Logistikzentren und Häfen, wodurch Mexiko zu einer Schaltstelle des internationalen Handels werden soll. Und drittens das „Proyecto Integral Morelos“, das aus Wärmekraftwerken und Erdgasanlagen besteht und Zentralmexiko mit Energie versorgen soll.

Bereits unter den neoliberalen Vorgängerregierungen wurde immer wieder die Möglichkeit der wirtschaftlichen Erschließung des Südens diskutiert. Dass nun ausgerechnet ein sozialdemokratischer Präsident im Verbund mit nationalen und internationalen Großunternehmen an der ökonomischen Umstrukturierung ganzer Regionen arbeitet, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Gleichzeitig macht erst die Popularität des Präsidenten derartige Vorhaben möglich, denn große Teile der mexikanischen Linken stehen nach wie vor fest hinter AMLO.

„Tren Maya“ stößt auf wachsende Kritik

Doch während in der mexikanischen Verwaltung mit Hochtouren an der Realisierung der Megaprojekte gearbeitet wird, werden die Gegenstimmen immer lauter. Vor allem sind es die zapatistische Bewegung und die im Congreso Nacional Indígena (CNI) organisierten Indigenen Mexikos, die gegen den Tren Maya und andere von ihnen als „Projekte des Todes“ bezeichneten Großprojekte der Regierung protestieren.

Schon während des Wahlkampfs stellten sich die Zapatisten und der CNI klar gegen AMLO und seine Partei Morena und setzten auf die Einrichtung eines „Indigenen Regierungsrates“, um die einzelnen indigenen Bewegungen auf dem gesamten Staatsgebiet besser zu vernetzen. Die alternative Kampagne der Sprecherin des Rates, María de Jesús Patricio Martínez, besser bekannt als Marichuy, brachte der antikapitalistisch-indigenen Bewegung in Mexiko erheblichen Aufwind, obwohl die nötigen Unterschriften für eine unabhängige Präsidentschaftskandidatur Marichuys bei Weitem nicht erreicht wurden.

Zwar darf nicht vergessen werden, dass der Einfluss der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und des CNI bei aller Medienreichweite gesamtgesellschaftlich gering ist. Doch ihre Kritik trifft einen wunden Punkt und findet immer mehr Beachtung. Die Kernfragen lauten: Welches Entwicklungsmodell kann Mexiko aus der ökonomischen und sozialen Krise führen und damit auch eine Verbesserung der Sicherheitslage bringen? Wer entscheidet, ob und wie ein Entwicklungsprojekt realisiert wird? Und wer profitiert eigentlich am Ende?

Indigene Aktivisten bedroht

Im Laufe des vergangenen Jahres zeigte sich außerdem, dass die Regierung bei der Umsetzung der genannten Projekte nicht gerade zimperlich vorgeht. Während López Obrador im Wahlkampf noch versprochen hatte, Teile des umstrittenen Energievorhabens Proyecto Integral Morelos angesichts des Widerstandes der betroffenen indigenen Gemeinden auszusetzen, änderte er nach seinem Amtsantritt schnell seine Meinung. „Hört zu, ihr Linksradikalen, ihr seid für mich nichts anderes als Konservative“, sagte er im Februar 2019 bei einer Veranstaltung im Bundesstaat Morelos angesichts von Protesten. Einige Tage später wurde der bekannteste Aktivist gegen das Energieprojekt, der 36-jährige Samir Flores, von Unbekannten vor seinem Haus erschossen. Der Mord an dem Delegierten des CNI ist nach wie vor nicht aufgeklärt.

Auch beim Tren Maya nimmt es die mexikanische Regierung mit gesetzlichen Standards nicht allzu genau. Bei einer Konsultation der betroffenen indigenen Gemeinden im vergangenen Dezember stimmten zwar 92 Prozent für den Bau des Touristenzuges, allerdings nahmen nicht einmal drei Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung teil. Zuvor hatte es massive Kritik an der Informationspolitik der Regierung gegeben, die in den Broschüren für die Konsultation nur positive Aspekte des Projekts betonte, die Gefahren und Risiken jedoch unerwähnt ließ. Zudem gab es in der Woche vor der Abstimmung Morddrohungen gegen den indigenen Aktivisten und Tren-Maya-Kritiker Pedro Uc. Das UN-Menschenrechtsbüro in Mexiko äußerte Zweifel an der Einhaltung nationaler und internationaler Menschenrechtsstandards.

Weiter-so-Politik provoziert Proteste

Angesichts der sich zuspitzenden Konflikte rund um die Megaprojekte ist absehbar, dass die Infrastrukturpolitik zu einem der Hauptprüfsteine der Regierungszeit López Obradors wird. Noch mag der Widerstand von EZLN und CNI als gering erscheinen, doch ist es nicht auszuschließen, dass sich um die indigenen Organisationen eine linke Opposition gegen AMLO etabliert, der sich auch andere Teile der gesellschaftlichen Linken anschließen und die auch andere Aspekte der Regierungspolitik angreift. Denn spätestens Ende des Jahres werden auch die Linken, die AMLO unterstützen, erste handfeste Ergebnisse der Regierung erwarten. Wenn es bis dahin bei dem neoliberalen Weiter-so bleibt, dürfte es auch in Mexiko wieder zu sozialen Protesten kommen, die sich gegen weit mehr richten als gegen die Infrastrukturpolitik.

Alexander Gorski

Weitere Informationen und Erstveröffentlichung:
www.lateinamerika-nachrichten.de (Länder – Mexiko)


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