Wie man Unrecht beseitigt

Aus DER RABE RALF April/Mai 2022, Seite 14

Ziviler Ungehorsam: Was Gandhi, Martin Luther King, Straßenblockaden und Waldbesetzungen gemeinsam haben

In Wien waren gerade mehrere Schnellstraßen-Baustellen ein halbes Jahr lang besetzt. (Foto: System Change not Climate Change/Flickr, CC BY‑SA 2.0)

Über Aktionen des zivilen Ungehorsams wird auch im Raben Ralf regelmäßig berichtet, zuletzt über den Fall „Ella“ (Rabe Ralf Dezember 2021, S. 22). Aber was ist ziviler Ungehorsam überhaupt? Wie ist er entstanden, wie ist er definiert und welche Protestformen gibt es? 

Ein altes Konzept, aber sehr aktuell

Der zivile Ungehorsam ist eine Form politischer Partizipation, dessen Wurzeln bis in die Antike zurückreichen. Er kann definiert werden als symbolischer, aus Gewissensgründen vollzogener und damit bewusster Verstoß gegen rechtliche Normen, dessen Ziel es ist, eine Unrechtssituation durch Beeinflussung der öffentlichen Meinungsbildung zu beseitigen. Der zivile Ungehorsam ist eigentlich immer gewaltfrei.

Der Begriff des zivilen Ungehorsams wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den Schriftsteller und Philosophen Henry David Thoreau in den USA geprägt. Für ihn ist ein Gewissenskonflikt die Grundlage. Ungerechte Gesetze und Handlungen müssten von „redlichen Bürgern, die sich einem höheren Gesetz als der Verfassung oder dem der Mehrheit verpflichtet fühlten“, auf ihre Legitimität überprüft werden.

Auch liberale Philosophen haben sich mit dem Thema befasst. Jürgen Habermas etwa ist der Meinung, dass der zivile Ungehorsam keine normale politische Handlung ist, sondern im Regelfall (es kann also Ausnahmen geben) erst dann eingesetzt werden soll, wenn die üblichen Verfahrensweisen in einem demokratischen Rechtsstaat ausgeschöpft sind. Der bürgerliche Ungehorsam ist also für ihn, genau wie für Thoreau, ein Mittel, um das Gemeinwesen zu verbessern, ein „Element einer reifen politischen Kultur“. Durch das Appellieren an den Gerechtigkeitssinn soll die Mehrheit der Bevölkerung aufgerüttelt werden. Damit steht der zivile Ungehorsam für Habermas „aus guten Gründen in der Schwebe zwischen Legitimität und Legalität“.

John Rawls, ein US-Philosoph des 20. Jahrhunderts, betont, dass der zivile Ungehorsam in Situationen eingesetzt wird, in denen man eventuell mit einer Festnahme oder sogar Bestrafung rechnet, man dies aber ohne Widerstand hinnimmt. Dies passt zur oben angeführten These, dass man die Rechtsstrukturen des Staates respektiert und sich ihnen nicht entgegenstellt. 

Erfolgreichste Protestform der Geschichte

Mahatma Gandhi ist wohl eine der berühmtesten Personen, die mit dem zivilen Ungehorsam in Verbindung gebracht werden, denn er hatte mit seinen Protestaktionen einen unglaublichen Erfolg: Letztendlich führten sie zum Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien. Allerdings muss man sagen, dass sein Aktivismus über den zivilen Ungehorsam hinausging. Gandhis Handeln hatte einen anderen Ausgangspunkt, es war religiös motiviert durch den Hinduismus und Jainismus. Gandhi distanzierte sich sogar vom Begriff des zivilen Ungehorsams und verwendete den des zivilen Widerstands, denn ihm fehlte in dem Konzept von Thoreau ein konstruktives Element. Trotzdem blieben seine Protestaktionen gewaltlos und werden daher oft als Musterbeispiele für zivilen Ungehorsam angeführt.

Weitere bekannte Persönlichkeiten, die den zivilen Ungehorsam als Instrument nutzten, sind Nelson Mandela, der ein wichtiger Wegbereiter für das Ende der Apartheid in Südafrika war, Rosa Parks, eine Afroamerikanerin, die sich in einem Bus weigerte, für einen Weißen von ihrem Sitzplatz aufzustehen, und damit eine Welle ähnlicher Proteste auslöste, und Martin Luther King, der in den USA gewaltfrei gegen Unterdrückung und Diskriminierung von Schwarzen kämpfte und die berühmte Rede „I Have a Dream“ hielt.

Auch das Frauenwahlrecht wurde in vielen Ländern auf Basis von zivilem Ungehorsam durchgesetzt. Heute ist es für uns das Normalste von der Welt und nicht mehr wegzudenken. Alle großen politischen und sozialen Veränderungen zum Progressiven haben ihren Ursprung im zivilen Ungehorsam. Dieser ist also nicht nur legitim, sondern sogar ungeheuer wichtig, um nötige Veränderungen hin zu einer besseren Welt voranzutreiben. Oft folgen nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen und stabile Verhältnisse, während es bei gewaltsamen Protesten meist nur kurzfristige Erfolge gibt.

Tierrechte und Klimaschutz

Besser wäre es natürlich, wenn die Politik von sich aus all die Forderungen erfüllen würde, die zum Beispiel zu mehr Klimagerechtigkeit führen. Doch wenn sie dies trotz Petitionen, Klagen und ähnlichen Mitteln, die der Bevölkerung zur Verfügung stehen, nicht tut, dann ist es verständlich, dass Menschen, die berechtigterweise Angst um unsere Zukunft haben, zu dieser Protestform greifen. Denn auch in der Gegenwart ist der zivile Ungehorsam vielfach zu finden. Beispiele sind die beiden in Großbritannien gegründeten Gruppen Extinction Rebellion und Animal Rebellion, die mittlerweile in vielen europäischen Ländern vertreten sind und sich für Klimaschutz und gegen das Artensterben, für Tierrechte und gegen Massentierhaltung einsetzen. Eng verknüpft sind diese Themen mit der Klimabewegung, in der es auch immer wieder zivilen Ungehorsam gibt. Auch Waldbesetzungen wie im Hambacher Forst, im Dannenröder Wald (Rabe Ralf Februar 2021, S. 12) oder im „Besch“ bei Trier, die sich meist gegen die Rodung für den Straßenbau richten, gehören dazu – je nachdem, wie weit der Prozess der Räumung rechtlich fortgeschritten ist.

Auch die Gruppe „Ende Gelände“ nutzt den zivilen Ungehorsam als Aktionsform, wenn sie Braunkohletagebaue und -bagger durch „angekündigte Massenblockaden“ besetzt. „Ende Gelände“ ist auch beteiligt an der Besetzung des Dorfes Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier. Der Kohlekonzern RWE will das Dorf abbaggern, um den Tagebau Garzweiler auszuweiten. Ein letzter Bewohner weigert sich jedoch, Haus und Hof zu verlassen. Mit ihm solidarisiert sich eine Vielzahl von Aktivisten, die in das dort eingerichtete Protestcamp fahren, um ihn zu unterstützen. 

„Aufstand der letzten Generation“

Das aktuellste prominente Beispiel für zivilen Ungehorsam ist wohl die Gruppe „Letzte Generation“, die in Deutschland und Österreich Autobahnen besetzt hat, um ein Essen-Retten-Gesetz und umfangreiche Maßnahmen für eine rasche Agrarwende zu fordern. Zuletzt unternahm sie ähnliche Aktionen an Flughäfen. Entstanden ist der „Aufstand der letzten Generation“ aus den Teilnehmenden des Hungerstreiks vor der Bundestagswahl 2021 in Berlin. Um sich hier weiter zu informieren, seien der Artikel auf Seite 3 und der dort erwähnte „Podcast der Letzten Generation“ empfohlen.

Lisa Graf 

Weitere Informationen:
Wikipedia: Ziviler Ungehorsam
Klimareporter: Ziviler Ungehorsam

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