Aus DER RABE RALF April/Mai 2023, Seite 7
Warum Zufußgehen ein radikaler Akt ist
Der Science-Fiction-Autor James Graham Ballard gilt als Mythologe der Gegenwart. Sein 1973 erschienener Roman „Crash“ handelt von einer Gruppe von Fetischisten, die bei Autounfällen sexuelle Lust empfinden. Der Brite führt vor, wie sich moderne Technologien und Massenkonsum auf Psyche und Begehren auswirken. Er beschreibt Menschen, die mit dem stahlharten Gehäuse der schnittigen Straßenkreuzer verschmelzen wollen. Sie werden zu dem, was Bernard Charbonneau (Rabe Ralf Oktober 2021, S. 19) „l’Hommauto“ („Automensch“) nennt.
Mit dem Nachfolgeroman „Die Betoninsel“ (1974) hat Ballard eine aktualisierte Version des „Robinson Crusoe“ geschrieben: Der Architekt Robert Maitland verunglückt bei der Fahrt auf der Londoner Autobahn und strandet in der lebensfeindlichen Betonwelt zwischen den Fahrbahnen. Nur mit äußerster Mühe kann er in einer Umgebung überleben, die Fußgänger zu Fremdkörpern gemacht hat.
Kollateralschäden der Schlüsselindustrie
Dass es sich hier nicht um ferne Science-Fiction handelt, wird beim Blick auf Verkehrsentwicklung und Unfallstatistik deutlich. In Deutschland gibt es derzeit etwa 13.000 Kilometer Autobahn, bis 2030 sollen 500 weitere dazukommen. Täglich werden rund 54 Hektar Land als neue Siedlungs- und Verkehrsfläche ausgewiesen – das entspricht 76 Fußballfeldern. Die Berliner Polizei registrierte von Januar bis Mai letzten Jahres 52.592 Verkehrsunfälle in der Hauptstadt, 14 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Sieben Menschen wurden getötet, die Mehrheit Fußgänger. Deutschlandweit gab es 2021 mehr als 2,3 Millionen erfasste Unfälle mit 2562 Toten und über 300.000 Verletzten. 2022 ist die Zahl der Verkehrstoten nach ersten Schätzungen um neun Prozent gestiegen.
Zaghafte Versuche des Umdenkens scheitern am Systemzwang: Deutschland muss Autoland bleiben. Verkehrstote sind Kollateralschäden unserer Schlüsselindustrie. Schließlich geht es nicht nur um Parkplätze, sondern auch um Arbeitsplätze.
Carwalking
Obwohl sie es meistens sind, sollten Fußgänger aufhören, sich nur als Opfer zu sehen. Das meint zumindest Michael Hartmann, der vor über zwanzig Jahren sein Buch „Der AutoGeher“ veröffentlichte. Darin wird das „Carwalking“ beschrieben, eine Methode, „bei der man die Autos, die auf dem Bürgersteig stehen, einfach übersteigt, das heißt, rauf auf den Kofferraum, dann aufs Dach, auf die Motorhaube und mit einem eleganten Sprung wieder nach unten. Das ist dazu gedacht, den BürgerInnen bildlich zu zeigen, dass der Mensch über dem Auto steht.“
Auch wenn Hartmann penibel darlegt, wie man ein Kraftfahrzeug übersteigt, ohne Schäden zu hinterlassen, hat ihn die Ausübung dieser Praxis wiederholt vor Gericht gebracht. Die Würde des Autos ist unantastbar.
Der Aktivist beschreibt aber auch andere Methoden einer bipedischen Selbstermächtigung. Dazu zählen etwa das „Streetwalking“ (Gehen auf der Autostraße), die Überquerung von Kreuzungen in der Diagonalen oder die gemütliche, mitten auf der Straße eingenommene Brotzeit. Vor Letzterem sei ausdrücklich gewarnt, denn die Toleranz der zur Arbeit eilenden Autoraser ist seit den „Klimaklebern“ auf besonders niedrigem Niveau.
Auf William Blakes Spuren
Der walisische Schriftsteller Iain Sinclair ist ebenfalls ein renitenter Zufußgeher. Er geht sogar so weit, das Gehen als „letzten radikalen Akt“ zu bezeichnen, als „eine Möglichkeit, an Orte zu gelangen, an denen einen keiner haben will“. Sinclair stößt auf seinen meilenweiten Streifzügen in und um London überall auf Mauern, Sackgassen und künstlich gezogene Grenzen: „Neue Einhegungen, Bauzäune in olympischem Blau und Stacheldraht gekrönt von Überwachungskameras haben den östlichen Stadtrand großflächig abgeriegelt.“
Der Autor ruft William Blake an, den Dichter eines mystischen, offenen London. Verglichen mit dessen 200 Jahre alten Visionen gleicht die heutige Millionenstadt einem Labyrinth aus virtuellen Werbeflächen und konkretem Beton, steingewordener Klassentrennung und digitaler Kommunikationsverhinderung. Die sich modern und fluid gebende „Smart City“ ist in Wirklichkeit so verschlossen wie die ehrwürdig-verrosteten Riegel im Tower of London. Dennoch glaubt Sinclair, dass Blakes Wege auch heute noch begangen werden können. Die Grundlinien dieser Spuren verlaufen aber quer zu den von Stadt- und Verkehrsplanern gezogenen Fußgängerpferchen. Oft muss man Absperrungen ignorieren und Privatgelände entweihen, blind rückwärtslaufen oder sehend nach unten steigen.
Die Kunst, sich zu verlaufen
Sinclair ist ein später Schüler des französischen Philosophen und Aktionskünstlers Guy Debord. Dieser begründete die poetische Wissenschaft der „Psychogeografie“. Die Wirkung des geografisch-architektonischen Milieus auf das Individuum sollte nicht nur erforscht werden, den Psychogeografen ging es um die Entwicklung von alternativen Möglichkeiten der Stadtentdeckung. Bereits die Surrealisten, deren Schüler wiederum Debord war, wollten neue Erfahrungsräume betreten und praktizierten die Methoden des absichtslosen Flanierens und des absichtsvollen Verlaufens. Darauf aufbauend entwickelte Debord sein Konzept eines ziellosen Umherschweifens („Dérive“). Während die Psychogeografie in ihrem beobachtenden Teil die deprimierende Entdeckung machte, dass die Stadtbewohner im Laufe ihres Lebens immer die gleichen Wege gehen, wollte sie in ihrem praktischen Teil dazu anregen, gewohnte Wege zu verlassen und für die sich dabei ergebenden bewusstseinserweiternden Eindrücke offen zu sein.
Dass dies nicht ganz einfach ist, kann jeder schnell in einem Selbstversuch feststellen. Auch unsere Beine scheinen ein Gedächtnis zu haben und führen uns stets im Alltagskreis herum. Sie müssen ihre fleischgewordenen Gewohnheiten erst einmal verlernen.
Höflicher Hausfriedensbruch
Der Mensch ist evolutionsgeschichtlich gesehen nicht nur ein Zweibeiner, sondern auch ein Wanderer. Selbst wenn es die Mehrheit unserer „Stacheldrahtnationalisten“ (Henning Eichberg) nicht wahrhaben will: Wir waren über den längsten Zeitraum unserer Existenz allesamt staatenlose Nomaden. Zwar wurden die meisten von uns irgendwann sesshaft und sperrten sich freiwillig selbst ein, aber der Wandertrieb schwelte weiter.
Nicht nur in den Städten fällt es uns zunehmend schwer, unserem natürlichen Bewegungsdrang nachzugehen. Wie der englische Illustrator und Autor Nick Hayes in seinen bisher leider nicht übersetzten Büchern „The Book of Trespass“ (2020) und „The Trespasser’s Companion“ (2022) erklärt, ist uns ein Großteil des ländlichen Raums heute ebenfalls verschlossen. „Trespass“ bedeutet so viel wie Hausfriedensbruch. In Großbritannien musste Hayes die Erfahrung machen, dass man dort weder Flüsse durchschwimmen noch Wälder durchstreifen kann, ohne irgendwann auf ein „Privatbesitz“-Schild oder einen Lord mit Schrotflinte zu stoßen. Er hat ausgerechnet, dass 92 Prozent des Landes und 97 Prozent der Flüsse und Kanäle der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind.
Hayes will sogar einen Zusammenhang zwischen Privatbesitz und der Einteilung von Menschen nach „Rasse“, Klasse, Geschlecht, Gesundheit und Einkommen erkennen. Wenn die zu diesen Spaltungen fähige Gewalt ihre Macht aus dem Eigentum zieht, dann sind, so Hayes, „die Zäune, die England teilen, nicht nur Symbole der Teilung der Menschen, sondern der eigentliche Grund dafür“. Hayes geht allerdings nicht so weit, die Abschaffung des Eigentums an Grund und Boden zu fordern. Er plädiert nur für uneingeschränkte Zu- und Durchgangsrechte, für jederzeit mögliche Begegnungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und Orten. Er will beileibe nicht, dass irgendwelche vagabundierenden Massen Lady Carfax das Picknick vermasseln oder Bauer Maggot den Rübenacker zertrampeln. Er bittet darum, den Rasen nur in aller Vorsicht zu betreten, Müll ist stets mitzunehmen. Hausfriedensbruch soll – da ist Hayes ganz Brite – immer schön höflich bleiben.
Johann Thun
Weitere Informationen:
www.carwalker.de
www.foghornhayes.com (engl.)
www.righttoroam.org.uk (engl.)