Aus DER RABE RALF Dezember 2014/Januar 2015, Seite 12
Wir sollten die „Flüchtlinge“ als Neu-Berlinerinnen und Neu-Berliner wahrnehmen
In den letzten 15 Jahren sind circa zwei Millionen Menschen aus Berlin weggezogen. Aber ungefähr dieselbe Zahl ist neu nach Berlin gekommen: Sind das jetzt alles Berlinerinnen und Berliner?
Es kommen Menschen aus allen Teilen der Welt, manche aus der Nähe, manche aus der Ferne, und alle sind verschieden. Was wäre Berlin ohne dieses Kommen und Gehen? Ohne die vielen Neuen? Auf jeden Fall weniger bunt und weniger spannend.
War das immer so? War das nicht früher anders? Nein, es war immer so. 1920 schrieb Karl Scheffler seinen berühmten Satz, der zum geflügelten Wort geworden ist: „Berlin [ist] dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein.“ Mag sein, dass in Berlin diese fortwährende Veränderung besonders spürbar wird, trotzdem ist es für jede Stadt eigentlich der Normalfall: Die Straßen und Plätze, die meisten Gebäude und Parks bleiben, aber die Menschen kommen und gehen. Ohne Zuwanderung gäbe es auch keine Städte, der Zug vom Land in die Stadt – und von immer weiter her in die Stadt – läuft seit Jahrhunderten und das wird sich auch nicht ändern.
Stadt ist anders als Land und Dorf: „Stadtluft macht frei!“ war schon im Mittelalter ein Rechtsgrundsatz. Stadt verspricht Freiheit, deswegen kommen immer mehr Menschen in die Städte – auf der Suche nach persönlicher Freiheit. So ist es nicht überraschend, dass auch heute viele Menschen, die vor Unfreiheit, politischer Verfolgung, wirtschaftlicher Not und Unterdrückung fliehen, auf der Suche nach Freiheit zu uns nach Berlin kommen. Eigentlich haben sie dieselben Gründe wie wir oder wie sie unsere Eltern und Großeltern hatten. Sie sind ein Teil auch unserer Geschichte, weil sie uns daran erinnern.
Urbane Gesellschaft ist immer heterogen
Wie lange bleibt ein Mensch ein Flüchtling? Ein Vertriebener? Ein Fremder? Was wäre, wenn wir die Menschen einfach nehmen, wie sie sind, wenn wir sie ihren Weg gehen ließen? Eine urbane Gesellschaft ist immer heterogen. Und Fremdheit ist ein Wesensmerkmal von Stadt. Dort erwartet man das Fremde. Trifft man einen Bekannten, ist man überrascht.
Nur im engeren persönlichen Umfeld, am Wohn- und Arbeitsort, dem eigenen „Kiez“ ist dies anders. Viele Quartiere und Orte in der Stadt bleiben uns fremd, bieten aber auch die Freiheit des fremden Ortes, an dem man anders sein kann. Fremdes macht einem oft auch Angst, denn Fremdheit ist das Gegenteil von Vertrautheit. Das Unbekannte ist aber nur solange fremd, solange man nicht mit ihm vertraut wird. Dabei spielen Dauer und Nähe, Offenheit und Vertrauen die wichtigste Rolle. Eine Strategie des „Sich-Vertraut-Machens“ setzt natürlich voraus, das Fremde zu respektieren. Und dann kann man sich – oft beiläufig und, warum nicht, unverkrampft, manchmal gezielt – einander nähern, sich kennenlernen und …gegenseitig vertrauen. Aus Fremden werden so Nachbarn und oft Freunde. Man ist zwar anders, aber sich nicht mehr fremd und hat auch keine Angst mehr: Vielfalt und Veränderung bedingen einander. Beides sind Merkmale der Stadt, das eine gäbe es ohne das andere nicht. Beides für sich allein kann als Zumutung bis hin zur Bedrohung begriffen, zusammen aber sollte es immer als Chance gesehen werden.
Was hat das mit Stadtplanung zu tun? Wenn wir Stadt planen, müssen wir nicht nur an diejenigen denken, die schon da sind und die Stadt kennen, sondern auch an die Menschen, die neu ankommen und die Stadt noch nicht kennen! Wie muss sie aussehen, dass die Neuen sich zurechtfinden? Sich hineinfinden in die für sie fremde Stadt? Das Interessante ist, dass es immer wieder bestimmte Orte innerhalb einer Stadt gibt, wo die Hinzugezogenen sich treffen, niederlassen, heimisch werden: Ankunftsorte in der Stadt. Dort werden Kontakte zu Netzwerken geknüpft, ein persönlicher, beruflich-wirtschaftlicher und kultureller Austausch kommt in Gang, und Interessen finden zueinander. Dabei verändern sich auch diese Orte immer wieder. Dieser Prozess ist nie zu Ende, sondern ein Lebensprinzip (in) der Stadt. Diese Orte zu fördern und zu pflegen ist deshalb notwendig und sinnvoll zum Wohle aller Menschen in der Stadt.
Migration und Mobilität sind ähnliche Phänomene
Flüchtlinge werden derzeit als Problem gesehen, als ein Problem, das „gelöst“ werden muss. Ein Mensch, der aus einem Land in ein anderes geflüchtet ist, unterscheidet sich letztendlich aber kaum von anderen Menschen, die die heutigen Möglichkeiten der Mobilität nutzen. Migration und Mobilität bezeichnen ähnliche Phänomene mit unterschiedlicher Wertung: Migration ist eher negativ, Mobilität eher positiv besetzt. Migration wird eher im Kontext von Armut, Zwang, Not und Flucht und daraus folgenden Schwierigkeiten der Integration verwendet. Mobilität wird eher im Zusammenhang mit gut ausgebildeten bis hoch qualifizierten Kräften auf dem sogenannten globalen Markt verbunden. Das verstellt den Blick auf eine positive Wahrnehmung von Migration.
Zudem gibt es unterschiedliche Formen von Migration: lineare, auf längeres Bleiben gerichtete und zirkuläre, an den Ausgangsort zurückkehrende, sowie viele individuelle Mischformen (Pendeln, serielles Bleiben), orientiert an Lebens- und Arbeitsformen und -phasen. Die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Perspektiven und Bedürfnisse müssen wir in unsere Planungen miteinbeziehen.
Menschen mit Mobilitäts- und Migrationserfahrungen erwerben Kompetenzen für vielseitige Verortungen und Vernetzungen. Zugewanderte sind häufig hoch motiviert, sie wollen ihre Lebenssituation und -perspektive verbessern und sind bereit, dafür auch Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Viele machen sich selbständig unter Nutzung der mitgebrachten und sich erweiternden sozialen Netzwerke. Persönliche Netzwerke sind heute global, auch langfristig. Netzwerke dienen der sozialen, gesellschaftlichen Einbindung, auch an verschiedenen Orten und verbinden damit diese Orte. Aus persönlichen Beziehungen werden so auch Beziehungen zwischen den Orten, an denen die Menschen leben. Migration kann zum Aufbau und zur Entwicklung sozialer, globaler Netzwerke führen, die mehr sind als kurzfristige Kontakte, das heißt, die zu langfristigen Verbindungen werden können. Das kommt allen an den Netzwerken Beteiligten zu Gute: den Menschen in Berlin, die hier schon lange leben und auch denen, die gerade erst ankommen.
Kommen die Flüchtlinge in Berlin an, sollte ihre Flucht zu Ende sein. Nehmen wir die, die wir heute „Flüchtlinge“ nennen, als zu uns kommende Neu-Berlinerinnen und Neu-Berliner wahr, als neue Nachbarn, die mit uns gemeinsam an diesem Berlin arbeiten wollen – einem Berlin das immerfort wird und nie fertig sein wird!
Volkmar Nickol, Architekt
Arbeitskreis Stadt+Migration
Bündnis90/Die Grünen