Aus DER RABE RALF Oktober/November 2014, Seite 15
Durch Atomreaktoren nahe der Kampfzone droht zweites Tschernobyl
Kein Thema ist in den Medien momentan präsenter als der Konflikt um die Ukraine. Dabei wird von Machtkämpfen zwischen dem Westen und Russland, zwischen Nato und Putin, berichtet. Die Bilder von Militärmanövern auf beiden Seiten und von den Kämpfen in den Regionen Donezk und Lugansk haben alle vor Augen. Doch woran in diesem Konflikt nur selten, wenn überhaupt, gedacht wird ist, dass die Bevölkerung nicht nur durch die Kampfhandlungen bedroht wird, sondern dass auch nukleare Anlagen nahe der Kampfzone eine erhebliche Gefahr für alles Leben in der Umgebung darstellen.
Gefahr einer Kernschmelze
Im Süden der Ukraine, nur 200 Kilometer vom Kampfgebiet entfernt, befindet sich beispielsweise das Atomkraftwerk Saporoschje, dessen Reaktoren aus den achtziger Jahren nicht gegen einen Beschuss geschützt sind. „Es gibt in der Region viele panzerbrechende Waffen, die diese Hülle durchschlagen können“, sagt Tobias Münchmeier, Atomexperte von Greenpeace. Man möchte sich gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn einer der Reaktoren, sei es aus Absicht oder aus Versehen, von einer Rakete getroffen würde. Die Großstadt Saporoschje mit 750.000 Einwohnern befindet sich in unmittelbarer Nähe.
Doch es hätte auch schon verheerende Folgen, wenn die Stromversorgung des Atomkraftwerks Saporoschje unterbrochen würde, weil dies durch den Ausfall der Kühlung zur Kernschmelze führen kann, wie Fukushima gezeigt hat. Außerdem gibt Sergej Boschko, Chef der ukrainischen Atomaufsicht zu, dass die Reaktoren nicht gegen Flugabstürze gesichert seien, erst recht nicht gegen Raketen, welche beide Seiten im Krieg einsetzen. „AKW sind nicht für Kriege ausgelegt, sondern für den Frieden.“ Die ukrainische Atomaufsicht bestätigt, dass die meisten der ukrainischen Atomkraftwerke sogar aus Altersgründen schon abgeschaltet sein müssten.
Laut einer Greenpeace-Studie hält die 1,20 Meter dicke Betonhülle der Reaktoren einem Beschuss panzerbrechender Waffen nicht stand. Den Absturz kleinerer Flugzeuge soll sie allerdings überstehen. Michael Sailer, Atomexperte vom Ökoinstitut Darmstadt, fordert, die Reaktoren herunterzufahren, da sich die Kämpfe jederzeit ausweiten könnten. Außerdem gibt es die Gefahr von Anschlägen auf die Reaktoren. Oleg Makarenko, der Sicherheitschef des Atomkraftwerks, sagt: „Sabotageakte halten sich nicht an Himmelsrichtungen. Man könnte denken, dass sie vor allem in der Nähe der Kampfgebiete vorkommen, aber das muss nicht sein. Sie können überall passieren. Die Möglichkeit schließen wir nicht aus.“ Neben einem Beschuss ist auch die Möglichkeit denkbar, dass Separatisten das Atomkraftwerk erobern.
Wie ist es eigentlich zu dieser Situation gekommen? Der Ukraine-Konflikt schwelt schon seit längerer Zeit. Angefangen hatte alles mit den Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew gegen den prorussischen Kurs des damaligen Präsidenten Janukowytsch. Dieser wurde am 22. Februar abgesetzt, worauf der prowestliche Übergangspräsident Jazenjuk ins Amt kam. Daraufhin entschied sich die Bevölkerung der ukrainischen Halbinsel Krim in einem Referendum, der russischen Föderation beizutreten, was dann auch geschah. Dabei kritisieren die westlichen Staaten, Putin habe diesen Volksentscheid inszeniert, um die Krim zu annektieren – was gegen das Völkerrecht verstoße. Anschließend entwickelten sich auch in der Ostukraine Bestrebungen, als sogenannte Volksrepubliken der russischen Föderation beizutreten. Seitdem liefern sich die Separatisten, welche vermutlich von Russland unterstützt werden, immer erbittertere Kämpfe mit ukrainischen Truppen, welche versuchen, das Land zusammenzuhalten.
NATO-Experten geben Ratschläge
Das Atomkraftwerk Saporoschje ist die größte Atomanlage Europas. Insgesamt befinden sich in der Ukraine 15 Reaktoren an vier Standorten. Sie decken die Hälfte des ukrainischen Strombedarfs. Dazu kommen noch mehr als 100 Spezialbehälter mit abgebrannten Brennelementen, welche im Freien vor sich hin strahlen.
Die ukrainische Regierung hat für die Sicherung der Anlagen die NATO um Hilfe gebeten, die daraufhin im April erstmals Experten zum Schutz der Atomkraftwerke und der Energieinfrastruktur entsandte. Diese Experten „empfehlen unter anderem zusätzliche Sicherheitstests, um alle aktuell drohenden Szenarien zu erfassen, allen voran die Eroberung eines Atomkraftwerks oder aber Kampfhandlungen in unmittelbarer Umgebung der Reaktoren. Viel Aufmerksamkeit haben sie auch der Frage gewidmet, wie die zentralen und lokalen Behörden zusammenarbeiten, wenn die Kämpfe plötzlich in die Nähe eines Atomkraftwerks rücken.“ So steht es in einem geheimen Papier, welches die NATO der ukrainischen Regierung schon im Mai vorgelegt haben soll.
Auf der ganzen Welt schlagen Umweltschützer Alarm. Bisher wurde das Problem von Atomkraftwerken im Kriegsgebiet politisch verdrängt und verniedlicht, doch der Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17 im Juli hat gezeigt: Gegen Raketen gibt es keine Sicherheit. Laut „Schweiz Magazin“ (schweizmagazin.ch) wurde das Kraftwerk Saporoschje im Mai von rechten bewaffneten Männern angegriffen. Diese konnten zwar bisher durch die ukrainische Polizei gestoppt werden, aber bei einem Beschuss durch Raketen wäre auch die Polizei machtlos.
Lage ist angespannt
Die Zufahrtsstraße zum Atomkraftwerk ist gesperrt, alle Fahrzeuge werden kontrolliert. Dies zeigt, dass die Situation angespannt ist und die Behörden sich durchaus Sorgen machen. „Atomkraftwerke und Krieg sind nicht miteinander vereinbar. Ein Krieg mit konventionellen Waffen in einem Gebiet mit Atomkraftwerken wird früher oder später unweigerlich zu einem ‚nuklearen‘ Krieg“, sagt Boschkos Kollege Nikolai Steinberg, Vorstandsmitglied der ukrainischen Atomaufsicht.
Der Pressesprecher Sergej Tschimtschew fühlt sich hingegen noch sicher: „Das Reaktorgebäude ist sogar gegen Flugzeugabsturz gesichert. Selbst wenn die Kämpfe näher kommen sollten und Minen, Granaten oder gar Raketen auf das Reaktorgelände treffen, müssten wir schlimmstenfalls das Kraftwerk herunterfahren“, meint er.
Eine sehr naive Einschätzung der Lage. Schließlich ist die Ukraine das erste Land mit mehr als einem Atomkraftwerk, in dem schon seit mehreren Wochen ein Krieg mit schweren und modernen Waffen geführt wird. Es gibt also überhaupt keine Erfahrungen bezüglich der Gefahren, die von Atomkraftwerken in einem Kriegsgebiet ausgehen. Außerdem besitzen sowohl die ukrainischen Streitkräfte als auch die Separatisten Waffen, die bis zu fünf Meter Beton durchdringen können. Des Weiteren sind Kriege unberechenbar, Fronten ändern sich und Kampfzonen weiten sich aus.
Olexi Passiynk vom „Internationalen Ökologischen Zentrum der Ukraine“ fasst zusammen: „Da gibt es die ganze Infrastruktur mit frischen und abgebrannten Brennelementen, die permanent gekühlt werden müssen. Und wenn die Kühlung zerstört wird, erhitzen sich die Brennelemente, sie schmelzen und Radioaktivität tritt aus. Also: Niemand kann garantieren, dass nichts passiert.“
Wenn der Krieg in der Ukraine nicht gestoppt wird, scheint also ein zweites Tschernobyl unausweichlich. Deswegen muss schnellstmöglich eine friedliche Lösung in dem schwelenden Konflikt gefunden werden. Nur so kann verhindert werden, dass noch ein weiterer Teil der Ukraine komplett zerstört und für die nächsten Jahrmillionen unbewohnbar wird.
Veit Ulrich
Weitere Informationen:
www.sonnenseite.com/?pageID=18&article:oid=a29445
www.tagesschau.de/wirtschaft/atomkraftwerk-ukraine-100.html