Kommunikation und Massenmedien

Aus DER RABE RALF Mai 1995

Zum Spektakulärsten, was die moderne Gesellschaft hervorgebracht hat, gehört die Möglichkeit, fast unmittelbar über Dinge unterrichtet zu sein, die irgendwo auf dem Globus geschehen.

Lange Zeit hat mich diese Möglichkeit fasziniert – scheint sie doch keine größeren Umweltschäden zu verursachen. Ich spreche jetzt insbesondere vom Radio, da wir kein Fernsehen und auch keine Zeitungen und Zeitschriften im Haus haben.

Was ist wirklich wichtig?

Im Verhältnis zur Zahl der vom Rundfunk erreichten Menschen ist der materielle Energieaufwand unendlich gering – es wird also kaum Wasser verschmutzt oder Luft verunreinigt.

Wir wissen andererseits kaum etwas über die Wirkungen der uns durchdringenden Radiowellen. Wie oft in unserem System wird eine Frage nicht behandelt, weil die Machtverhältnisse es nicht nötig machen, sie überhaupt zu stellen.

Außerdem kann im verfügbaren Frequenzbereich nur eine begrenzte Anzahl von Sendern untergebracht werden – der Stärkere setzt sich durch. Das Radio kann daher nur über bestehende Machtverhältnisse informieren. ”Wes Brot ich eß, des Lied ich sing”, stimmte im Mittelalter so wie es für die heutigen Radiostationen stimmt.

Für lange Zeit habe ich Radiosendungen als Informationsquelle für sehr notwendig gehalten. Mit der Zeit aber wurde mir klar, daß im Grunde genommen immer dieselben Dinge verbreitet werden: Tarifverhandlung, Streikdrohung, Regierungserklärungen, Aussprachen darüber, Börsenkurse, ein Konflikt hier, eine Flugzeugentführung da, eine Geiselbefreiung dort…

Wesentliches bereitet sich weiträumig vor. Wir brauchen es nicht in Sekundenschnelle zu erfahren.

Wenn wir uns täglich auf alle offiziell gesiebten und veröffentlichten Nachrichten stürzen, nehmen wir notwendigerweise auch die 99% unwesentlichen Mitteilungen auf. Unser Kopf sollte aber für Wesentliches frei bleiben. Ein kleiner Junge soll seinen Vater einmal gefragt haben, wie es komme, daß jeden Tag immer genau so viel geschehe, daß davon die Zeitung  voll werde.

Die Frage ist gut gestellt.

Um nicht mißverstanden zu werden: Für den reibungslosen Verlauf der Dinge in der Massengesellschaft sind die Massenmedien sicherlich nötig. Sogar die Werbung erfüllt eine eminent wichtige Funktion. Für jemand, der versucht, eine alternative Lebensweise zu finden, verlieren sie aber bald an Bedeutung.

Wissen und Verantwortung

Was aber sind Alternativen zu den Massenmedien?

Die ”Massen” als solche haben in unserer Gesellschaft keine Zukunft. Ich möchte aber auch die ”Medien” als solche in Frage stellen.

”Medien” sind der Wortbedeutung nach ”Mittler”. Sie stehen zwischen Sender und Empfänger. Schon das Buch ist ein Medium – ein anonymes Medium, da es sich von einem Sender an viele Empfänger richtet, wobei sich alle untereinander nicht kennen. Zu einer Rückkopplung kommt es im Regelfall nicht. Schon das Buch ermöglicht also keine geschlossene Kommunikation. Dem Sender fehlt die Kontrolle darüber, ob der Empfänger ihn in der richtigen Weise verstanden hat. Mehr noch, ihm fehlt die Kontrolle darüber, ob der Empfänger das Übermittelte im beabsichtigten Sinne weiterverwendet. Und hier wird es kritisch: schon beim Buch fehlt die Vermittlung der Verantwortung, die mit jeder Vermittlung von Wissen einhergehen muß.

Genaugenommen beruht der gesamte technische Fortschritt auf der schriftlichen, verantwortungsfreien Vermittlung von Wissen.

Eine Alternative dazu findet sich in sogenannten primitiven Gesellschaftsformen: Die Eingeweihten vermitteln ihr Wissen an einzelne ausgesuchte Schüler – die Vermittlung wird in dem Augenblick abgebrochen, wo die Schüler sich einer weiteren Vermittlung unaufgeschlossen oder unwürdig erweisen. In den gleichen Gesellschaften werden die Fähigkeiten des täglichen Lebens auf natürliche Weise an die Kinder weitergegeben: ohne Noten, Schulen, Hochschulen.

Natürlich läßt sich auf diese Weise nur ein begrenztes Wissen weitergeben, obwohl durch das System der Großfamilienverbände dieses insgesamt doch sehr umfangreich werden kann. Eine der unseren vergleichbare Technologie läßt sich auf diese Weise aber wohl kaum entwickeln. Und genau das wollten die Indianer auch verhindern.

Der gesamte technische Fortschritt beruht auf der schriftlichen, verantwortungsfreien Vermittlung von Wissen.

Gedanken

Mit jedem Gedanken verändern wir uns selbst. Grob kann man Gedanken in zwei Kategorien einteilen: Gedanken, die wir denken, und Gedanken, die uns kommen. Also praktisch Senden und Empfangen, wobei ”Sender” und ”Empfänger” durchaus nicht immer bekannt sind.

”Empfangen” bedeutet – wie ”Senden” – etwas aktives: wir machen uns den fremden Gedanken zu eigen, wir erschaffen ihn in uns neu.

Gedanken, die ein Gesprächspartner entwickelt, die wir in einem Brief erhalten, die wir Zeitung, Rundfunk und Fernsehen entnehmen, werden in dem Maße, indem wir sie aufnehmen, in uns wirksam. Wir haben also größtes Interesse, darauf zu achten, was wir in uns aufnehmen.

Da wir unmöglich alles aufnehmen können, was heutzutage auf uns einstürmt, nehmen wir in jedem Fall so etwas wie eine ”persönliche Zensur” vor. Wer aber bestimmt die Richtlinien dieser Zensur – sind wir es selbst?

Auf die Auswahl unserer Gesprächspartner haben wir einen gewissen Einfluß, ebenso auf die Auswahl aus den Massenmedien wie Radio, Presse, Fernsehen. Aber schon diese liefern uns ”kostenlos” die Werbung mit ins Haus. Ihr gegenüber müssen wir eine bewußte Haltung einnehmen, ebenso wie zu all den Plakaten, die von überallher auf uns einhämmern.

Mit viel Mühe haben wir in der Kindheit das Lesen erlernt. Heute ist es auch nötig, das Nichtlesen zu lernen, das bewußte Nicht-Lesen. Es ist ein Akt der gewaltlosen Selbstverteidigung.

Sehr viel tieferen Einfluß übt der Kontakt mit anderen Menschen auf uns aus. Und auch die Umwelt gehört zu unserem Umgang. Mehr, als wir glauben, werden unsere Gedanken von dem beeinflußt, was uns an lebender Natur umgibt. Das wird uns nur dann so wenig bewußt, wenn wenig Leben um uns ist – Beton ist tot.

Woher kommt ein Gedanke, der ”uns kommt”? Es ist nicht üblich, eine Frage wie diese zu stellen. Nichts drängt uns, dieser Frage nachzugehen – und doch würde uns dies in eine unbekannte, neue Welt führen. Wer sich der Grenzen alles Materiellen bewußt ist, wird notwendigerweise versuchen, die Grenzen des Geistigen zu erweitern, wird in neue Bereiche vorstoßen – und dabei feststellen, daß es die ältesten sind, in denen Menschen je zu Hause waren.

Gisbert Bölling: Einfach anders leben, Der Grüne Zweig 55, Verl. Werner Pieper, 36 S. A4.


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