“Die Liebe ist die Verächterin aller Vorschriften…”

Interview mit Richard Schmid, Bundessprecher der GRÜNEN LIGA und Initiator der Kontaktstelle Anarchismus

Aus DER RABE RALF August 2000

Richard, vor einiger Zeit hast du in der Zeitung Alligator berichtet, dass dir die Leute raten, den Begriff „Anarchismus“ besser zu vermeiden. Woher kommen diese Befürchtungen?

Anarchismus kommt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich „Nicht-Herrschaft“, bezeichnet also herrschaftsfreie Verhältnisse. Der Begriff wurde Mitte des 19. Jahrhunderts populär, als sich der freiheitlich, „libertär“ eingestellte Teil der Arbeiterbewegung als Anarchisten bezeichnete.

„Anarchisten bekämpfen keine Menschen, sondern Institutionen.“ (Buenaventura Durruti)

Die Anarchisten wurden von den Herrschenden als Gefahr gesehen, und es wurden alle möglichen Maßnahmen ergriffen, sie zu behindern. Dazu gehörte auch die Verleumdung, dass alle Anarchisten Mörder und Bombenleger seien. Der Höhepunkt dieser Kampagne liegt nun zwar schon 100 Jahre zurück, das Vorurteil hat sich aber stark in den Köpfen festgesetzt.

„Keine Macht für niemand!“ (Ton, Steine, Scherben)

Die Aktiven der in der Weimarer Zeit noch sehr mitgliederstarken FAU1 wurden von den Nazis so gründlich vernichtet, dass es nach 1945 keinen nennenswerten Neuanfang gab. Besonders im Osten fürchtete man die linke Alternative zu den Kommunisten noch mehr als die Rechten und verleumdete munter weiter. Erst im Zuge der Studentenunruhen Ende der 60er Jahre erinnerte man sich an die Wurzeln und daran, dass fast alle anarchistischen Gesellschaftsvorstellungen streng pazifistisch sind.

Auf den entsprechenden Veranstaltungen sieht man viel mehr Jugendliche als ältere Menschen, die sich als AnarchistInnen bekennen. Mit deinen 50 Jahren gehörst du ja nicht mehr ganz zur Jugendbewegung. Bist du eine Ausnahme, ein Junggebliebener oder ein ewig Gestriger?

Für Südthüringen, wo ich wohne und arbeite, muss ich dir Recht geben; dort sind die meisten, die sich als Anarchisten einordnen, zwischen 16 und 20 Jahren alt. Zu einer kürzlich von uns veranstalteten Jugendtagung über Anarchie kamen aber zu den etwa 25 Jugendlichen schon ein knappes Dutzend Menschen in meinem Alter. Beim HerausgeberInnenkreis der „Graswurzelrevolution“2 sind zwei Drittel aus meiner Generation. Ich würde mich eher als hoffnungslosen Optimisten denn als ewig Gestrigen bezeichnen.

„Ich verabscheue den Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist, und weil ich mir nichts Menschenwürdiges ohne Freiheit vorstellen kann.“ (Michail Bakunin)

Die Zeiten ändern sich, doch auch AnarchistInnen von heute beziehen sich vorwiegend auf Schriften aus dem vorletzten Jahrhundert – von Proudhon, Bakunin oder Stirner. Ist Anarchismus überhaupt noch zeitgemäß?

Rudolf Rocker, einer der wichtigsten Anarchisten, zumal in deutscher Sprache, auf den sich viele beziehen, hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewirkt. Horst Stowasser vom Projekt A in Neustadt/Weinstraße, Murray Bookchin aus den USA und P.M. aus Zürich mögen als Beleg dafür stehen, dass auch heute viele Menschen an anarchistischen Projekten arbeiten und auch darüber schreiben.

Was ist Anarchismus für dich?

Anarchismus verbirgt sich für mich hinter Begriffen wie Selbstverwaltung, Selbsthilfegruppen, Selbstmächtigkeit. Es geht darum, bei erkannten Missständen nicht nach dem „starken Mann“, dem verantwortlichen Politiker oder Verwaltungsmenschen zu rufen, sondern selbst tätig zu werden. Für alle Dinge, die sich dann als zu schwergewichtig für einen einzelnen Menschen verweisen, sucht der Anarchist, wie ich ihn verstehe, Hilfe bei Gleichgesinnten. In diesem Prinzip der „gegenseitigen Hilfe“ liegt für mich der Schlüssel für eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Ich gehe davon aus, dass dieser Wille zur Hilfe genauso grundlegend in allen Menschen vorhanden ist wie der zur Zeit geförderte Aspekt der Konkurrenz.

Wo siehst du Verbindungen zwischen Anarchismus und Umweltarbeit, wie sie z.B. die Grüne Liga macht?

Umweltarbeit ist nicht unabhängig von den Gesellschaftsbedingungen, in deren Rahmen sie stattfindet. Am brutalsten wurde dies jüngst während des Krieges in Jugoslawien sichtbar. Kurz zusammengefasst heißt das: Solange es wichtiger ist, viel zu haben als gut zu leben, ist alle Arbeit für mehr Umwelt- und Naturschutz nahezu aussichtslos.

Gibt es so etwas wie einen Öko-Anarchismus?

Wenn Prinzip des Handelns die gegenseitige Hilfe ist, dann werden Entscheidungen viel eher so ausfallen, dass sie die Bezeichnung „Öko“ verdienen. Gleiches gilt für gewaltfreie Lösungswege – und so weiter…

„Verteil die Macht, damit sie keinen mächtig macht!“ (Losung in Paris 1968)

Die linke und alternative Bewegung in (West-)Deutschland hat sich in den letzten 30 Jahren anhand von Begriffsdefinitionen, Ideologiestreit und Politikschubladen ziemlich gespalten. Könnte es eine Antwort auf diese Erfahrung aus Sicht einer möglichen Grüne-Liga-Bundeskontaktstelle Anarchismus geben?

„Unter allen schönen Künsten ist die Lebenskunst die schönste und schwierigste.“ (Jules Romains)

Das ohnmächtige Reagieren auf die Definitionsmacht z.B. der bürgerlichen Zeitungen hat dazu geführt, dass die Erfahrungen und Ideen aus der libertären Ecke der Alternativen und Linken nicht genutzt werden konnten. Eine Bundeskontaktstelle der Grünen Liga in Verbindung mit dem Begriff Anarchismus würde zumindest zum Nachdenken anregen. Der kurze Schluss „Anarchie = Mord und Totschlag“ würde hier nicht funktionieren, da die Grüne Liga ja eindeutig anders „besetzt“ ist.

„Die Liebe ist die Verächterin aller Gesetze, aller Vorschriften … Wenn die Welt jemals Gleichheit und Einigkeit hervorbringen wird, wird es nicht mehr die Ehe, sondern nur noch die Liebe geben.“ (Emma Goldmann)

Ein weiteres wichtiges Stichwort heißt „direkte gewaltfreie Aktion“. Diese Form der politischen Arbeit innerhalb der Umweltbewegung zu erwägen sollte mindestens eine Diskussion wert sein.

Was wünschst du dir von der Umweltbewegung bei der Auseinandersetzung mit anarchistischen Ideen?

Offenheit, Lebendigkeit, Gelassenheit und langen Atem.

Danke für das Interview.

1 Freie Arbeiter Union, anarchistische Gewerkschaft

2 eine der größten und ältesten anarchistischen Monatszeitungen

Die Fragen stellte Oliver Pfannenstiel, Redakteur der Zeitschrift ALLIGATOR. Dort erschien der Beitrag im Juni 2000.


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