Wenn Menschen sich zusammenschließen…

Erfahrungen aus dem Zusammenschließen in politischen Gruppen

Aus DER RABE RALF Mai 2000

Mit dem folgenden Text wollen wir unsere Erfahrungen, die wir in politischen Gruppen gemacht haben, mit anderen teilen. Wir wollen, daß er veröffentlicht wird, weil wir glauben, daß viele Leute Schwierigkeiten haben, sich in arbeitsfähigen Gruppen zusammenzuschließen. Das wollen wir ändern.

In der Schule lernen wir nicht, mit Menschen zusammenzuarbeiten – von einigen Ausnahmen abgesehen. Die LehrerInnen geben den Stoff aus dem Lehrplan vor und die SchülerInnen machen, was ihnen gesagt wird. Eigenständiges, selbstverantwortliches Arbeiten gemeinsam mit anderen wir kaum verlangt und oft sogar unterbunden.

Ähnlich ist es in der Ausbildung, an der Uni oder auf der Arbeit. Immer wieder werden wir mit einem Chefverhältnis konfrontiert, oder wir arbeiten für uns allein. Viele haben nie gelernt, sich auf andere Menschen einzustellen und sich auf ihre Tätigkeiten einzulassen. Viele haben nie gemeinsam mit anderen etwas Eigenständiges entwickelt. Deshalb müssen wir erst lernen, in Gruppen von Gleichgestellten arbeiten zu können, das heißt in Gruppen, in denen Hierarchien weitestgehend überwunden sind.

Hierarchien

Die „äußeren Hierarchien“, die direkt sichtbar und in unserer Umgebung verankert sind, machen meist nur den kleineren Teil aus. Der größere und wichtigere Teil der Hierarchien liegt in unseren eigenen Köpfen. Vielleicht fühlen wir uns einem Menschen überlegen, weil er weiblich ist oder AusländerIn, noch nicht so lange dabei ist wie wir oder jünger ist, weil wir glauben, daß sie oder er dümmer ist oder noch nicht so viel Erfahrung hat, oder weil wir ihn oder sie einfach nicht leiden können. Wir fühlen uns vielleicht unterlegen, weil wir weiblich sind oder unsicher oder neu sind, oder weil wir uns dumm finden oder häßlich oder weil wir Angst haben, etwas falsch zu machen.

Voraussetzung für ein fruchtbares und uns selbst stärkendes gemeinsames Arbeiten in der Gruppe ist, daß wir das Gefühl haben, mit den Menschen der Gruppe auf einer Stufe zu sein, ihnen weder über- noch unterlegen zu sein. Unterschiedliche Menschen leisten einen unterschiedlichen Beitrag zum Erreichen eines Ziels. Das ist gut so. Das sollten wir nicht bewerten, denn dort fängt schon das uns antrainierte Denken in Hierarchien an, in unseren Köpfen zu wirken. Die Folge ist ein gestörtes Arbeitsverhältnis in der Gruppe. Um das zu verhindern, müssen wir unsere Aktivitäten und die der anderen so akzeptieren, wie sie gerade sind.

Das bedeutet aber keineswegs, keine Kritik an anderen zu üben. Gegenseitige Kritik ist immer sinnvoll und wichtig. Aber es sollte eine solidarische Kritik sein, die die andere und den anderen nicht abwertet. Damit stärken wir die Beteiligten und die Gruppe.

Wirkungen nach innen

Eine Gruppe, die sich für “bessere Verhältnisse” einsetzt, arbeitet immer auf zwei Ebenen. Die Wirkung nach außen, auf die Gesellschaft, und die Wirkung nach innen, auf die eigenen MitstreiterInnen in der Gruppe – beides ist nicht voneinander zu trennen.

Oft wird die Wirkung nach innen unterschätzt oder für unwichtig gehalten. Es ist leichter, sich mit gesellschaftlichen Verhältnissen auseinanderzusetzen als mit sich selbst und den Menschen in der unmittelbaren Umgebung. Aber beides – Gesellschaft und unmittelbare Umgebung – ist wichtig und sollte gemeinsam angegangen werden. Wenn Menschen gemeinsam etwas machen, wachsen sie, indem sie sich gegenseitig bereichern. Es werden Erfahrungen und Informationen, aber auch Gefühle und Stimmungen ausgetauscht, insbesondere während gemeinsamer Aktionen. Eine gegenseitige Verstärkung findet statt. Das ist eine wichtige Eigenschaft von hierarchiefreien Gruppen.

Wahrscheinlich ist die Fähigkeit,
sich in arbeitsfähigen Gruppen
zusammenzuschließen,
eine der wichtigsten Fähigkeiten
in der Auseinandersetzung für
„bessere Verhältnisse“

Eine Gruppe leistet zudem etwas, was für den Menschen unumgänglich ist: Sie gibt Halt. Die Menschen halten einander. Wer bei einer politischen Aktion das Gefühl hat, nicht getragen zu werden, wird sich bald fragen, ob es einen Sinn hat, weiter dabei zu sein. Die Art und Weise des Umgangs miteinander hat also Einfluß darauf, ob Aktivitäten als sinnvoll empfunden werden oder nicht.

Die meisten Menschen bekommen den Halt, den sie im Leben brauchen, durch den Sinn, der ihnen durch die gesellschaftlichen Normen vorgegeben wird (z.B. Anerkennung durch Leistung, Ersatzbefriedigung, Konsum). Wenn unser Ziel ist, zumindest einige herrschende Normen zu verändern, so bedeutet das auch einen Verlust an Halt für uns selbst, so daß es notwendig wird, etwas anderes zu finden, das uns diesen Halt gibt. Das können Gruppen sein mit Menschen, die sich gegenseitig unterstützen und Halt geben, die gemeinsame Aktivitäten organisieren oder gemeinsame Strukturen aufbauen zum Wohnen, Leben und Arbeiten und für gemeinsame Aktionen.

Aktivitäten bekommen ihren Sinn nicht durch irgendwelche Parolen. Sie werden erst durch die Menschen und die Art und Weise ihres Handelns sinnvoll. Leere Ideologien können keinen wirklichen Halt bieten, wenn sie nicht durch Menschen, ihre Beziehung zueinander und ihr gemeinsames Handeln gefüllt werden.

Die Protagonisten und Wächter der gegenwärtigen Verhältnisse haben eine starke Waffe gegen alle, die Widerstand leisten: ihnen Angst zu machen, ihnen den Halt zu nehmen. Strafandrohungen und Strafen oder auch „nur“ der mögliche Verlust des Arbeitsplatzes oder der gesellschaftlichen Stellung erzeugen einen enormen Druck zu angepaßtem Verhalten, der von vielen nur deshalb nicht mehr wahrgenommen wird, weil er schon verinnerlicht ist. So ist die gegenseitige Unterstützung innerhalb der Gruppe und der Halt, der dadurch erzeugt wird, von immenser Bedeutung, um sich nicht kleinkriegen zu lassen.

Innere Auseinandersetzungen

Wenn Menschen in näheren Kontakt treten, werden sie zwangsläufig mit den Problemen konfrontiert, die sie mit sich selbst oder anderen haben. Normalerweise werden diese Probleme verdrängt, indem das eigene Problem auf andere projiziert wird und sich feste Ablehnungs- und Herrschaftsstrukturen ausbilden. Bei Gruppen mit hierarchiefreiem Anspruch wird dies bald auffallen und notwendigerweise thematisiert werden müssen. Da diese Probleme innerhalb der Gruppe auftreten, muß die Gruppe sie auch austragen. Deshalb sind solche Gruppen auch immer Selbsterfahrungsgruppen.

Um die Konflikte zu bewältigen, sollte eine Gruppe immer den Rahmen und die Zeit bieten, sie offen und direkt ansprechen zu können. Es muß eine Konfliktregelung gefunden werden, die für alle tragbar ist und die Probleme konstruktiv angeht.

Grundsätzlich gilt: Konflikte sind normal und können für das innere Wachstum einer Gruppe und der beteiligten Personen genutzt werden.

Wenn die Konfliktbewältigung nicht oder nur oberflächlich geleistet wird, ist die Gruppe nicht mehr zufriedenstellend arbeitsfähig. Das Problem verschwindet nie von selbst, sondern wird bei der nächsten Gelegenheit wieder auftreten. Schlimmstenfalls zerbricht eine Gruppe daran – das kommt oft genug vor.

Wichtig ist, gelassen zu bleiben, wenn Probleme in der Gruppe auftreten, und sich davon nicht umreißen zu lassen. Oft scheint es nicht mehr weitergehen zu können, aber das spiegelt nur die eigene Konfliktschwäche wieder. Es gibt immer einen Ausweg.

Grobe Ausfälle von einzelnen sollten ernstgenommen werden, aber nicht sofort dazu führen, daß Mauern aufgebaut werden. Es ist besser, nicht gleich alles in Frage zu stellen, sondern ruhig mal die eigene Schmerzgrenze zu überschreiten und die Spannungen zu ertragen. An diesen Punkten beginnt oft das eigene Wachstum.

Wirkung nach außen

Organisatorisch kann eine Gruppe, die ihre inneren Probleme bearbeitet hat, besser funktionieren und mehr leisten als andere. Perspektivisch sind hierarchiefrei arbeitende Gruppen die sinnvollste Alternative zu der zerstörerischen, unterdrückenden Organisationsform der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse.

Die Gesellschaftsmaschine ist nicht in der Lage, die sozialen und ökologischen Probleme, die sie sich selbst geschaffen hat, zu lösen. Damit eine Perspektive für bessere Verhältnisse Bestand haben kann, braucht es Menschen, die hierarchiefrei in Gruppen zusammenarbeiten und dabei testen, was für Organisationsformen es gibt, die das herrschende System ersetzen können. Damit ist eine solche Gruppe nicht nur ein sinnvolles Mittel im Kampf gegen zerstörerische Verhältnisse, sondern zugleich bereits ein erster Schritt in eine herrschaftsfreie Gesellschaft.

Luther Blissett


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