Die Aufhebung der Arbeit bei der SSM
Aus DER RABE RALF April 2000
Begriffe sind immer an historische Situationen gebunden, an soziale Verhältnisse, an Produktionsverhältnisse. Das gleiche Wort wechselt über die Jahrhunderte seine Bedeutung.
Wir von der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM)1 sprechen ganz bewußt von „Arbeit“. Dabei kommt das Wort vom mittelhochdeutschen „arebeit“ (Mühe) her und bedeutete im Althochdeutschen die Schufterei eines verwaisten, leibeigenen Kindes.
Was ist „Arbeit“?
Wir weichen nicht auf andere Wörter aus, obwohl sie im Deutschen durchaus zur Verfügung stehen. So gibt es nicht nur das englische „work“, das angeblich etwas Besseres bedeuten soll als „labour“, es gibt auch das deutsche „werken“, wovon nicht nur der Werkunterricht und die Werkkunstschulen zeugen, sondern auch die „Werktätigen“. Es gibt auch das Wort „schaffen“, das voller Kreativität ist. Nicht nur der Künstler „schafft“ das Werk, sondern Gott selbst „schuf Himmel und Erde“. In der Wirklichkeit geht es diesen Wörtern aber auch nicht besser als der „Arbeit“. Die „Werktätigen“ der DDR standen an den gleichen Fließbändern wie die „Arbeitnehmer“ im Westen, und wenn man in Mannheim zu Mercedes ans Band geht, so heißt das, man geht „beim Benz schaffe“. Und auch die englischen „worker“ vereinigten sich in der labour party.
Umgekehrt erlebte „Arbeit“ in den letzten Jahrzehnten gerade zu eine Inflation in Richtung Kunst, Kultur und Seele: Der Künstler „arbeitet“ an seiner Partitur, ich „arbeite“ an diesem Artikel, und wenn er mißlingt oder abgelehnt wird, leiste ich Trauer“arbeit“.
Wenn wir hier von Arbeit reden, meinen wir natürlich nicht die althochdeutsche Leibeigenschaft. Diese Bedeutung hat das Wort in seiner Geschichte abgestreift; heute bezeichnen wir so etwas ausdrücklich als „Zwangsarbeit“, womit ein direktes Gewaltverhältnis ausgedrückt ist, z.B. bei Kriegsgefangenen. Zu einem Teil hat die Arbeit allerdings ihren Zwangscharakter behalten; das unmittelbare Gewaltverhältnis wurde durch ein Verhältnis struktureller Gewalt abgelöst, durch eine „Kultur des Sich-Verkaufen-Müssens“.
Die SSK und die Arbeit
Als die SSK2 vor dreißig Jahren begann, mit ehemaligen Fürsorgezöglingen selbstverwaltete Firmen zu betreiben, beanspruchte sie für die vielfältigen Tätigkeiten den Begriff „Arbeit“. Dies war als bewußte Provokation der keynesianischen Arbeitsgesellschaft Helmut-Schmidtscher Prägung gedacht, die die meisten der SSK-Tätigkeiten genauso aus dem Kanon der Arbeit verbannt hatte, wie sie die meisten derjenigen, die zum SSK gekommen waren, aus dem Rechts- und Anspruchsverhältnis verstoßen hatte, das allein in einer Arbeitsgesellschaft dem Nicht-Besitzer von Produktionsmitteln oder Vermögen die vollen Bürgerrechte zuerkennt.
Der Vorwand für die Aussonderung bestand in der Behauptung, die Betreffenden seien zu alt, zu krank oder schlicht arbeitsunwillig. Ihnen und allen Kritikern des Systems pflegte man damals – heute fast vergessen – nach der Empfehlung „Geht doch rüber, wenn es euch hier nicht paßt!“ ein frisches „Geh arbeiten!“ zuzurufen.
In dem neuen sozialen Zusammenhang der SSK-Arbeit erlebten sich diese Menschen aber sehr wohl als arbeitsfähig und demonstrierten das neu gewonnene Selbstbewußtsein nach außen. Die ökonomischen Macher aber, die ihnen die übliche Arbeit und die damit verknüpften Rechte vorenthielten, standen da in ihrer nackten Unfähigkeit, die von ihnen propagierte Arbeitsgesellschaft wenigstens als solche funktionieren zu lassen, so erbärmlich sie auch sein mochte. Sie hatten ja nicht einmal Arbeit für die Leute. Wir hatten und haben für alle Arbeit – allerdings unter der Voraussetzung, daß wir die Verknüpfung von Gelderwerb und Arbeit auflösen. Wo alles Arbeit ist, ist gleichzeitig nichts mehr Arbeit. Das ist unser salomonischer, praktischer Beitrag zur Aufhebung der Arbeit.
Arbeit und Gesellschaft
Diese Diskussion wird auch von anderen geführt. Unter Feministinnen gibt es z.B. eine breite Diskussion über die Hausarbeit und deren Bezahlung. Unser Ansatz ist allerdings ein anderer. Bei uns geht es um die Menschen, die sich für den Prozeß der marktwirtschaftlichen Produktion als unbrauchbar erwiesen haben, den „Ausschuß aus der Produktion von angepaßten Arbeits- und Konsumsklaven“, wie wir 1970 geschrieben haben.3 Es sind Menschen, die nicht bereit oder in der Lage sind, in dem Modell von „aufgeschobener Belohnung“ (Konsum) zu funktionieren, in dem die Erwerbsarbeit organisiert ist. Anders gesagt, sie können Arbeit als nackte, abgetrennte Produktionssphäre nicht ertragen. Karl Polanyi hat dargestellt, wie jung unser Arbeitsmodell erst in der Welt ist, und wie weit es sich von allem entfernt hat, was man unter produktiver Tätigkeit versteht. In seinem Werk „The Great Transformation“4 hat er dafür den Begriff der „entbetteten Ökonomie“ geprägt, einer Wirtschaftsweise, die aus den gesellschaftlichen Bezügen herausgelöst ist.
Arbeiten bei der SSM
Mit Menschen zu leben und zu arbeiten, die aus dieser „abstrakten“ Art von Arbeit herausgefallen sind, erfordert, die produzierende Tätigkeit in neue/vergangene Bezüge zu bringen, sie mit den wichtigsten gesellschaftlichen Zielen möglichst direkt zu verbinden und sie darüber hinaus wenigstens teilweise auch unmittelbar als sinnvoll erfahrbar zu machen.
Man kann den Arbeitsbegriff bei der SSM einmal so beschreiben, wie er sich nach den Tätigkeiten darstellt. Dabei ist festzustellen, daß nicht nur das als Arbeit gilt, was Geld einbringt, konkret also Umzüge fahren oder Möbel verkaufen, sondern ebenso vieles andere, was für die Gruppe und für deren Ziele von Bedeutung ist: Essen kochen, ein Flugblatt schreiben, Kinder betreuen, Wohnraum instandbesetzen.
Hier ist schon festzustellen, daß die SSM weiter geht als die „alternativen Betriebe“, die versuchen, die Erwerbsarbeit selbstverwaltet zu organisieren. Es wird vielmehr die Arbeit selbst verändert, indem man ihre Bezüge ändert.
Anzumerken ist, daß die SSM auch ein Privatleben kennt, also eine Trennung von Arbeit und Freizeit. Die SSM ist keine Kommune. Es gibt separate Wohnungen, also auch den Privatbereich. Es wird ein für jeden gleicher Geldbeitrag ausgezahlt, wenngleich dieser auch gering ist.
Die von der SSM als „Arbeit“ bezeichneten Tätigkeiten lassen einen Kanon von gesellschaftlichen Werten erkennen, deren Erreichung und Verteidigung für die Mitglieder von großer Wichtigkeit ist. Da gibt es zunächst den unvermeidlichen Gelderwerb, weil etliche (beileibe nicht alle) benötigten Güter gekauft werden müssen. Hierher gehören teilweise Lebensmittel (man kann sie auch selbst erzeugen) oder elektrischer Strom (bisher noch). Wohnraum muß man nicht teuer mieten, man kann ihn auch besetzen und selbst errichten. Kleidung muß man nicht kaufen, wenn man gebrauchte trägt, man kann aber auch schneidern usw. Hier sieht man schon, daß Gelderwerb im Arbeitsmodell der SSM noch für nötig erachtet wird, aber nicht mehr die alles dominierende Stellung besitzt, den ihm die heutige Gesellschaft gemeinhin einräumt.
Dann gibt es einen – möglichst großen – Bereich der Selbstversorgung. Das geht vom Wohnraum über Möbel und Kleider zum Brennholz und umfaßt auch die meisten handwerklichen Tätigkeiten. Darüber hinaus gibt es einen breiten Sektor von Hilfe im Viertel, die teils getauscht, teils als Dienstleistung entlohnt, überwiegend aber als solidarische Unterstützung geleistet wird, weil der Geber die gemeinsamen Ziele unterstützt. Dann zählt auch das Engagement für andere Menschen dazu. Entweder als solidarische Unterstützung einzelner, oder auch als gesellschaftsveränderndes Wirken, indem die SSM Projekte vor Ort anstößt oder in ihnen mitwirkt. Stets geht es hierbei darum, daß Menschen die Gestaltung ihres Lebenszusammenhangs in die eigenen Hände nehmen, vom Kulturbunker bis zum Bau des gemeinsamen Hauses. Für diesen Bereich haben wir mit Gleichgesinnten jüngst das „Institut für Theorie und Praxis der Neuen Arbeit“ gegründet.
Wer nun wann schließlich was macht, wird in der täglichen Sitzung abgesprochen, wo auch allgemeine Gruppenbelange und individuelle Anliegen vorgetragen und diskutiert werden. Die Arbeiten wechseln. Niemand fährt eine ganze Woche Umzug, niemand kocht jeden Tag für die Gruppe, und niemand schreibt nur Artikel. Gerade die Variationsbreite wird als Bereicherung empfunden.
Die Zukunft der Vergangenheit
Mit der Ablösung des Arbeitsbegriffs von der Erwerbsarbeit haben sich in der SSK/SSM einige Wandlungen vollzogen, die zukunftsträchtig erscheinen und doch gleichzeitig an ganz alte Formen des Lebens und Wirtschaftens erinnern. Polanyi verweist darauf, daß erst die Einführung des Hungers die Menschen überhaupt in die Erwerbsarbeit gezwungen hat. Und er vergleicht die Verhältnisse im frühindustriellen England mit denen in den Kolonien. In älteren Gesellschaften war es anders: Jedem war „der Platz am Lagerfeuer, sein Anteil an den gemeinsamen Ressourcen … sicher, ganz gleich, welche Aufgabe er bei der Jagd, auf der Weide, beim Pflügen oder bei der Gartenarbeit erfüllt haben mochte“.5 Das heißt aber nicht, daß damals keiner zu arbeiten brauchte, im Gegenteil: „Rang und Status, gesetzlicher Zwang und Strafdrohung, öffentliches Lob und privater Ruf gewährleisten, daß der einzelne seinen Teil zur Produktion beiträgt.“6
Die Verhältnisse in der SSM sind – bezogen auf die Arbeit des einzelnen – eine Illustration des „Kraallandsystems der Kaffern oder der Kwakiutl“.5 Leistungen erhält ein SSM-Mitglied nicht aufgrund seiner Arbeit, sondern weil es Mitglied ist. Als solches aber ist es zu Arbeit verpflichtet. Das mag spitzfindig erscheinen, wenn man Arbeit als etwas versteht, was sich in Geld umsetzen und folglich darin bemessen läßt. Bei der SSM aber umfaßt sie alles, was der Gemeinschaft nützt, von der bitteren Existenzvorsorge über das, was das Leben erleichtert, bis zu dem, was einfach Freude macht, wie Blumen, eine Gartenbank oder ein schönes Essen. Die Notwendigkeit, Geld heranzuschaffen, trifft die Gemeinschaft, nicht den einzelnen. Ob die Tätigkeit, die einer ausübt, Geld abwirft, ist für deren Bewertung innerhalb der Gruppe zweitrangig. Von daher können auch Behinderte oder Alte gleichberechtigt mittun, und aus diesem Grund ist auch der Anteil am Einkommen, sei es Wohnraum, Essen, Kleidung oder Geld, für alle gleich. Verwirklichen läßt sich das freilich nur mit einer Form des Wirtschaftens, die nicht Selbstzweck ist und die strikt basisdemokratisch organisiert ist. Man darf nicht vergessen, daß die Menschen sich in der SSM zusammengeschlossen haben, um ihre Freiheit zu verteidigen oder wiederzuerlangen und für ein menschenwürdiges Dasein für sich und andere zu kämpfen. Man kann nicht Wirtschaft durch Wirtschaft aufheben.
Im Gegenteil. „Eingebettete Ökonomie“ – gemeinsam über Hausbesetzungen Lebensraum zu erkämpfen, durch Selbstversorgung den Bedarf an Geld zu senken und auch die verbleibende Geldarbeit durch das Auftreten als Gruppe weitestgehend selbst zu bestimmen – hat nur Erfolg, weil weder Geld noch Effizienz das Ziel sind, sondern nur Mittel zur Erreichung der erwähnten Ziele sind. Eingebettete Ökonomie ist keine besonders raffinierte Form des Geldverdienens, und die „Neue Arbeit“7 – zumindestens die der SSM – ist weder ein Konzept für lean management noch ein Modell für Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Mit unserem Konzept vertreten wir vielmehr sichtbar und praktisch unseren Anspruch auf eine menschenwürdige Zukunft für uns und für alle Menschen dieser Welt.
Rainer Kippe
1 Seit 1979 wohnen, arbeiten und leben ein Dutzend Erwachsene mit deren Kindern auf dem ehemals besetzten Gelände einer Fabrik in Köln-Mülheim.
2 Sozialpädogogische Sondermaßnahmen Köln, seit 1969. Ab 1975 Sozialistische Selbsthilfe Köln e.V. Die SSM war als SSK-Mülheim bis 1986 Teil des SSK.
3 Gothe/Kippe, Ausschuß – aus der Arbeit mit entflohenen Fürsorgezöglingen, Köln 1970
4 Karl Polanyi, The Great Transformation, Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, 4. Aufl., Frankfurt/Main 1978
5 ebenda S.136
6 ebenda S.137
7 Herrmann Cropp: New Work – Neue Arbeit, DER RABE RALF April 98
Der Autor lebt und arbeitet in der SSM in Köln. Text aus CONTRASTE 7-8/99