„Wir denken, dass es möglich ist…“

Was den lakandonischen Urwald mit dem Wendland verbindet

Aus DER RABE RALF Oktober 2001

“Wenn es nach der Verfassung ginge, müsstest du Entscheidungen treffen können; dein Wort sollte Gewicht haben. Aber sie ignorieren es.”(1) Was Subcomandante Marcos, Sprecher der zapatistischen Guerilla EZLN, im Januar 2001 an einem geheimen Ort im lakandonischen Urwald einem Journalisten ins Mikrofon sagte, gilt für die Situation hier bei uns nicht weniger als für Mexiko. Wer von uns ist denn schon gefragt worden, ob wir dem Weiterbetrieb der Atomanlagen für mindestens 35 Jahre zustimmen? Und hätte es einen Krieg im Kosovo, einen Bundeswehr-Einsatz in Mazedonien gegeben, wenn all unsere Stimmen dazu gehört und ernst genommen worden wären?

Von einer Guerilla erwartet man gemeinhin, dass sie anstrebt, die Macht zu übernehmen und dann die Dinge nach ihren eigenen Vorstellungen neu zu ordnen. Um mit einem Bild von Brecht zu sprechen: das Wasserrad dreht sich, es sind immer mal andere Herren oben – “aber für das Wasser unten heißt das leider nur, dass es das Rad halt ewig treibt.”(2) Die Visionen der EZLN unterscheiden sich in dieser Hinsicht vom herkömmlichen Bild. An anderer Stelle im selben Interview sagt Marcos: “Wir denken, dass es möglich ist, eine andere Form der Politik, eine andere Form der Organisation zu finden. Wir könnten eine politische Gruppierung aufbauen, die die Bürgerinnen und Bürger organisiert, ohne die Macht zu wollen. Das mag für viele Leute schwer denkbar sein. – Es geht darum, die Machtbeziehungen umzuwälzen, die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten. … Es geht dabei um mehr als die parlamentarische Demokratie.”

Was aber könnten das für Formen sein? Wie können sich Menschen innerhalb einer Gesellschaft organisieren, ohne die Entscheidungsbefugnis an einige wenige abzugeben? Kann es demokratische Formen geben, bei denen nicht die Mehrheit, sondern alle gemeinsam entscheiden?

Den Anderen ernst nehmen

Tatsächlich gibt es schon lange Erfahrungen mit solchen demokratischen Formen. Heide Göttner-Abendroth hat an dieser Stelle beschrieben, wie in matriarchalen Gesellschaften Entscheidungen getroffen wurden und werden.(3) Dabei wurden alle Einzelnen gehört und ernst genommen, wenn es darum ging, in einem Clan eine Entscheidung zu treffen. Und wenn VertreterInnen verschiedener Clans zusammen kamen, um Dinge von allgemeinem Interesse zu entscheiden, dann wurde nicht abgestimmt, sondern wiederum ein Konsens gesucht. Dabei vertraten die SprecherInnen nicht ihre persönliche Meinung, sondern den Konsens derer, die sie entsandt hatten.

Eine solche Form der Entscheidungsfindung erfordert andere Fähigkeiten und Verhaltensmuster, als sie in unserer Gesellschaft für gewöhnlich eingeübt werden. Statt möglichst eloquent zu reden und unsere eigene Position so verlockend wie möglich darzustellen, müssen wir hier besonders gut zuhören und die Positionen der anderen zu verstehen suchen. Statt immer mehr Menschen für unsere Position zu gewinnen und uns beruhigt zurückzulehnen, wenn wir eine Mehrheit auf unsere Seite gebracht haben, müssen wir die Menschen mit ihren eigenen Positionen ernst nehmen und gemeinsam nach einer Lösung suchen, die allen gerecht wird. Konsensfindung braucht eine eigene Gesprächskultur – eine Kultur des Zuhörens und Mitfühlens, eine Kultur des gegenseitigen Respekts und der gemeinsamen Verantwortung für eine gute Lösung.

Gemeinsam und doch selbstbestimmt: X-tausendmal quer

Dass eine solche Gesprächskultur nicht mit den alten matriarchalen Kulturen untergegangen ist, sondern sich auch heute relativ schnell wieder erlernen lässt, diese Erfahrung konnten viele Menschen bei den Aktionen gegen die Castor-Transporte nach Gorleben in diesem Frühjahr machen. Bei den Blockaden der Kampagne X-tausendmal quer(4) erlebten viele zum ersten Mal, wie eine große Menge von Menschen nicht zur willenlosen Masse wurde, sondern zu einer Vielzahl selbstbestimmt und doch gemeinsam handelnder Individuen.

In der Kampagne X-tausendmal quer hatten sich im Vorfeld Menschen zusammengefunden, die die Strukturen für eine große gewaltfreie Blockade aufbauten. Neben den üblichen Aufgaben, vom Anmelden der Versammlung über Pressearbeit und Infotisch bis hin zum Aufstellen der Klohäuschen, gab es dabei auch eine Gruppe, die sich speziell um die Organisation basisdemokratischer Entscheidungsstrukturen kümmerte. Die erste Berührung hatten die ankommenden AktionsteilnehmerInnen mit dieser Gruppe bei der “Bezugsgruppenfindung”. Über mehrere Tage hinweg gab es immer wieder Einführungen für Neuankömmlinge, bei denen auch gleich neue Bezugsgruppen gebildet wurden. Dabei wurde erklärt, welche Bedeutung die Bezugsgruppen bei der Entscheidungsfindung haben: sie sind das Pendant zum “Clan” in den matriarchalen Gesellschaften, die soziale Einheit, die uns Sicherheit und Geborgenheit gibt, in der Vertrauen entstehen kann, in der wir aufeinander achten und von unseren Bedürfnissen und Grenzen wissen.

Als wir zwei Tage vor Ankunft des Castors mit der konkreten Aktionsplanung begannen, waren einige hundert Leute vor Ort, in Bezugsgruppen organisiert, die meisten ganz unerfahren mit der Art der Entscheidungsfindung, die wir hier gemeinsam praktizieren wollten. Und es kamen ständig neue Leute an, die erst noch in das Modell eingeführt werden mussten. So vollzog sich dann das Lernen gleich im Tun: sobald sich eine neue Bezugsgruppe gegründet hatte, erfuhr sie den aktuellen Stand der Diskussionen und den Termin des nächsten SprecherInnenrates. Dort konnte sie dann in den Entscheidungsprozess einsteigen. Neu hinzukommende Gruppen respektierten die bis dahin getroffenen Entscheidungen.

Eine wichtige Entscheidungsfrage war die, wie denn die vielen hundert Menschen (am Montag waren es 600, am Dienstag dann bei einer erneuten Blockade 1500) trotz der massiven Polizeipräsenz gemeinsam auf das einige Kilometer entfernte Gleis gelangen sollten. Dabei stellten sich zwei Probleme: zum einen brauchte es zum Entwickeln einer brauchbaren Strategie eine Menge Ortskenntnis, die nicht so schnell alle erlangen konnten. Zum anderen hätte ein offenes Besprechen der Strategie dazu geführt, dass auch die Polizei vorher genau gewusst hätte, wie der Plan aussieht. Gelöst wurden diese Probleme mit Hilfe einer Kleingruppe, die sich schon im Vorfeld zu einer “Ideenwerkstatt” zusammengefunden und sich ortskundig gemacht hatte. Diese Gruppe schlug nun eine konkrete Strategie vor, um auf das Castor-Gleis zu gelangen: die Fächerstrategie, bei der sich alle Gruppen beim Zusammentreffen mit Polizeiketten nach einem vorher festgelegten Plan so auffächern sollten, dass die Ketten ohne Anwendung von Gewalt einfach umgangen oder durchdrungen werden konnten. Die einzelnen Bezugsgruppen berieten diese Strategie und stimmten ihr zu. Sie gaben außerdem der “Ideenwerkstatt” das Mandat, den Weg zum Blockadeort auszusuchen, so dass entsprechende Details bis zum Schluss auch vor der Polizei verborgen werden konnten. Die Entscheidung über den Weg war nicht zentral und konnte deshalb gut einer Kleingruppe überlassen werden – dagegen wurden die Entscheidungen über den Ort und Zeitpunkt der Blockade von allen gemeinsam getroffen.

Die Moderation des Entscheidungsprozesses im SprecherInnenrat übernahm eine Gruppe, die sich auf diese Aufgabe besonders vorbereitet hatte. Über der Arbeit dieser Gruppe könnte als Leitgedanke der Eingangs zitierte Satz von Subcomandante Marcos stehen: “Wir könnten eine politische Gruppierung aufbauen, die die Bürgerinnen und Bürger organisiert, ohne die Macht zu wollen.”

Es ging darum, den Menschen bei der Selbstorganisation Hilfestellung zu leisten und den Entscheidungsprozess voranzubringen – ohne aber selbst Einfluss auf das Ergebnis der Entscheidung nehmen zu wollen. Die Moderationsgruppe machte es sich deshalb zur Regel, die Gesprächsleitung strikt vom Vorbringen eigener Positionen zu trennen. Wenn die Gruppe selber, die sich ebenfalls als Bezugsgruppe verstand, in einzelnen Situationen eine eigene Position einbringen wollte, dann tat sie dies durch eine SprecherIn, die oder der nicht zugleich moderierte.

Die Einzelnen haben Gewicht

Eine Nagelprobe für dieses Modell der Entscheidungsfindung gab es am Tag vor dem Straßentransport der sechs Castor-Behälter. Ein paar hundert Menschen hatten sich im wendländischen Laase versammelt und wollten von dort aus am nächsten Morgen die Castor-Straße blockieren. Eigentlich war alles ganz klar: die Fächerstrategie zum Überwinden von Polizeiketten hatte sich bewährt, die Ideenwerkstatt hatte auch hier einen gangbaren Weg ausgemacht. Aber dann kamen die SprecherInnen aus ihren Bezugsgruppen zurück und brachten Bedenken mit. Viele waren bei der Blockade des Castor-Gleises von sächsischen Polizisten verletzt worden oder hatten Übergriffe mit angesehen. Innenminister Schily hatte eine “robustere” Gangart angekündigt und eine Verstärkung um weitere dreitausend PolizistInnen angeordnet. Andererseits hatte es viele gute Aktionen gegeben, der Transport hatte für die 50 Kilometer von Lüneburg bis Dannenberg eineinhalb Tage gebraucht. Viele fanden es unsinnig, sich jetzt in die “letzte Schlacht um den Castor” zu stürzen – und darauf lief es ihrer Meinung nach hinaus, wenn die Menschen noch einmal entschlossen auf die Strecke gehen würden. Eine Blockade könnte wohl gelingen, aber es würde mit Sicherheit viele Verletzte geben.

Die Angst der Einzelnen war in diesem Fall ein sinnvolles Warnsignal, und nur eine Entscheidungsform, in der die Einzelnen mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen ernst genommen werden, konnte dieser Situation gerecht werden. In diesem Moment zeigte sich deutlich: hier ist keine Masse, die einigen wenigen EntscheidungsträgerInnen nachläuft oder spontan ihre eigene, für die Einzelnen nicht mehr kontrollierbare Dynamik entwickelt. Hier waren Leute zusammen gekommen, die gemeinsam und basisdemokratisch miteinander entschieden. Sie entschieden sich für eine ruhige Aktion, für ein langsames Zugehen auf die Straße, soweit das möglich war. Und als am nächsten Morgen aus den umliegenden Wäldern noch mal viele hundert Menschen zu der Aktion dazu stießen, hielten auch sie sich an den Konsens, der im Dorf am Vorabend gefunden worden war. Am Morgen trennte nur noch eine einzige Polizeikette etwa 2000 Menschen von der Straße, über die die Castoren fuhren. Diesmal wurde die Kette nicht überwunden – weil es so ausgemacht war.

Viele haben aus den Aktionen im März Mut gewonnen für zukünftige Aktionen. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sich Menschen basisdemokratisch und gleichberechtigt organisieren können. Sie haben erlebt, dass selbst große Aktionen so gestaltet sein können, dass die Einzelnen mit ihren Ängsten und Bedürfnissen zählen. Und diese Erfahrung lässt sich durchaus auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft? Dazu können auch von denen, die bei den Aktionen von X-tausendmal quer dabei waren, jetzt viele sagen: “Wir denken, dass es möglich ist!”

Ulrike Laubenthal

(1) Quelle: www.ezln.org, Übersetzung durch die Autorin

(2) Bertolt Brecht, Ballade vom Wasserrad

(3) DER RABE RALF April/Mai 01, S. 20

(4) Kontakt: s.u.

Der nächste Castor-Transport nach Gorleben findet voraussichtlich im November statt. Dann wird es auch wieder eine große Sitzblockade mit basisdemokratischen Strukturen geben, an deren Organisation X-tausendmal quer beteiligt ist.

X-tausendmal quer, Artilleriestr. 6, 27283 Verden/Aller, Tel. 04231/9575-66, Fax -65, info@x1000malquer.de, www.x1000malquer.de


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