Mehr Stadt – mehr Land

Direktaustausch und gemeinschaftliche Nutzung statt Weltmarktproduktion

Aus DER RABE RALF Oktober 1995

Der Autor beschreibt in diesem Artikel die Situation in seinem Heimatland Schweiz; seine Analyse trifft aber mit nur wenigen Änderungen auch auf Deutschland und die anderen hochindustrialisierten Staaten des Nordens zu.

Wenn wir über das Verhältnis von Stadt und Land reden, dann reden wir von einer weltweiten Krise. Die weltweite Verstädterung („Urbanisierung“) hat genau so katastrophale Ergebnisse erbracht wie die Industrialisierung der Landwirtschaft.

Was die Schweiz betrifft, so begann in den sechziger Jahren eine Bewegung der Städter ins Grüne. Zwar zogen sie nicht aufs Land, sondern nur in Siedlungen mit etwas Grün darum herum, Rasen und Gebüschen – in die bekannten „gesunden“ Schlafsiedlungen. Gleichzeitig verödeten die alten Stadtkerne, die zu reinen Büro- und Shopping-Zonen geworden waren. Schließlich haben wir heute leblose Städte und eine zersiedelte Landschaft. Wer alles zugleich will, hat am Schluß nichts. Und die Spannung zwischen Stadt und Land ist weg.

Bauern als Landschaftsgärtner?

Die ganze Schweiz ist von der Siedlungsstruktur her eine Stadt; was an Landwirtschaft übrig ist, ist ökonomisch gesehen nur noch Garnitur, wie Geranien vor dem Bürofenster. Die Schweiz ist auch gegenüber der Welt eine Stadt, eine Großbank mit Naherholungsgebieten. Es käme billiger, alle Nahrungsmittel aus industriellen landwirtschaftlichen Zonen im Süden zu importieren und die Schweizer Bauern als Parkwächter einzusetzen. Heute wird schon vorgeschlagen, Eintritt für Waldspaziergänge zu verlangen, weil sich das mehr rentieren würde als die Nutzung des Holzes. Das Alpengebiet ist auf dem Weg zu einem Erlebnispark, mit Abstufungen vom hochtechnisierten Skigebiet bis zum Nationalpark.

Mit diesen Bemerkungen möchte ich unterstreichen, daß es, wenn wir heute in der Schweiz über das Verhältnis von Stadt und Land reden, rein wirtschaftlich gesehen nicht mehr um ein Verhältnis zwischen Nahrungsmittelproduzenten und -konsumenten geht. Daß wir noch Schweizer Käse essen, ist weltwirtschaftlich gesehen kurios, was z.B. in den Auseinandersetzungen um das Freihandelsabkommen GATT sichtbar geworden ist. Es sind andere Gründe – politische, naturschützerische, ideologische – die die Schweizer Landwirtschaft noch am Leben halten. Stichwort Direktzahlungen: 77% des bäuerlichen Einkommens kommen aus Subventionen. Bei jedem der Strukturanpassungsprogramme des Weltwährungsfonds IWF, die wir den Ländern des Südens und Ostens aufzwingen, wären sie das erste Opfer.

Das „Nichtsystem“ entwickeln!

Wenn wir wieder von einem sinnvollen Verhältnis von Stadt und Land reden wollen, dann kann das nur jenseits der heutigen wirtschaftlichen Randbedingungen geschehen. Dann muß das Leben in der Stadt – oder was davon übrig ist – sich genauso radikal verändern wie das auf dem Land. Das heißt nicht, daß es innerhalb kapitalistischer Bedingungen gar keine Bewegungsmöglichkeiten gäbe.

Ein Freund von mir hat mir vor einiger Zeit von einem Treffen mit zwei amerikanischen Marktwirtschaftsberaterinnen erzählt – beide knapp über zwanzig, mit einem Diplom in der Tasche -, die eine US-Behörde in die Ukraine geschickt hatte, um dort den Kapitalismus aufbauen zu helfen. Die beiden Frauen waren nach ihrer ersten Reise sehr pessimistisch – die Ukrainerinnen hätten kein Interesse an ihren Ratschlägen. Sie hätten alle Gärten, betrieben Tauschhandel und kämen so einigermaßen über die Runden. – Man hört heute nur Klagen, daß der Kapitalismus im Osten nicht vom Fleck kommt; ist es nicht aber viel bemerkenswerter, daß 40 Millionen Ukrainer ohne irgendein System – der Kommunismus ist zusammengebrochen, der Kapitalismus funktioniert noch nicht – seit 5 Jahren verhältnismäßig gut überleben konnten? Wäre es nicht interessanter, dieses „Nichtsystem“ zu entwickeln, statt sich von den großen ökonomischen Religionen faszinieren zu lassen?

Ich glaube, daß es innerhalb des Kapitalismus einen gewissen Spielraum für das Nichtsystem gibt, auch bei uns. Den Kern eines solchen Nichtsystems müßten Formen von Direktaustausch und Zusammenarbeit zwischen erneuerten Stadtstrukturen und echter Landwirtschaft bilden.

Welche Kuh gibt Ihre Milch?

Unsere heutigen Verteilungs- und Konsumverhältnisse beruhen darauf, daß wir zu jenen 20% der Weltbevölkerung gehören, die 80% der Ressourcen verbrauchen. Unsere Lebenshaltungskosten sind von Ausgaben für Miete, Versicherungen und Verkehr bestimmt. Für Lebensmittel geben wir vergleichsweise fast nichts aus – es spielt deshalb heute auch keine Rolle, wie umständlich sie verteilt und verarbeitet werden. Wenn wir z.B. den Weg eines Liters Milch verfolgen, so erleben wir eine kleine Schweizerreise, kommen in Kontakt mit Milchkannen, Tanks, Zentrifugen, Kesseln, Plastik, Kartons usw. Weil Energie billig ist und der Grundstoff sowieso, ist das alles völlig rationell. Im Vergleich zu importierten Bohnen aus Kenia ist es geradezu ökologisch vorbildlich.

Es gibt Leute, die aus diesen absurden Kreisläufen schon ausbrechen wollen, bevor sie zusammenbrechen. Nicht aus moralischen Gründen, sondern aus Freude am Echten. Zusammenleben mit Leuten, mit denen man wirklich etwas zu tun hat, ist spannender. Milch von Kühen, deren Betreuer und die man selbst persönlich kennt, schmeckt anders.

Den Anfang sehe ich in der Stadt. Es hat zwar eine weltweite Verstädterung stattgefunden, aber eine echte Urbanisierung (im positiven Sinne) steht noch aus. Die Kommunikation unter den unfreiwillig Verstädterten hat mit der Entwicklung nicht Schritt gehalten, wurde sogar zum Teil gezielt verhindert. Denn wer mit anderen in Verbindung steht, sich austauscht, kann politisch schlechter kontrolliert werden.

Einzelne Städter können mit Bauern kaum direkt in einen sinnvollen Austausch treten. Ein Bauer produziert im Schnitt und rein theoretisch Lebensmittel für 20 Menschen. Wenn alle zwanzig sich mit der Kanne in der einen und dem Korb in der andern Hand ihre Lebensmittel direkt beim Bauernhof holen, wird der Transportaufwand immens – sowohl bezüglich der Zeit als auch der Energie. Es würden Autokolonnen übers Land fahren, um Äpfeln und Eiern nachzujagen.

Die Sache wird aber interessant, wenn einige hundert Städter sich für die Lebensmittelversorgung zusammentun und mit einigen Bauernhöfen Direktbelieferungsabkommen schließen. Die Mengen wären groß genug, um sowohl Anbau als auch Transport in kostengünstiger Weise tätigen zu können. Noch günstiger wäre es natürlich, wenn diese Bauernbetriebe am gleichen Ort oder wenn es sogar ein einziger wäre. Ökologischer Anbau ist auf einem 120-Hektar-Betrieb leichter möglich als auf 30 Fünf-Hektar-Betrieben. Da rentieren sich Biogasanlagen, der Einsatz von Pferden, da kann Energie gespart werden.

Die Form dieses Direktaustausches muß diskutiert werden. Es ist eine Genossenschaft denkbar, die das übernimmt. Die Mitarbeit von Städtern zu gewissen Zeiten kann zu einem niedrigen Lohnasatz verrechnet oder als Preisermäßigung weitergegeben werden. Als eine einfache Möglichkeit sehe ich eine Direktbelieferung eines städtischen Restaurants mit saisonalen Produkten. Daran angegliedert sein könnte ein Lebensmittelladen für individuelle Bezieher.

Das Land lieben – aber wie?

Doch das Land ist nicht nur Untergrund für die Nahrungsmittelproduktion. Wie schon das Wohnen im Pseudo-Grünen und der Tourismus in immer entlegenere Dschungel zeigen, braucht jeder Mensch, gerade der Städter, einen Zugang zur Natur, zur „Anti-Stadt“. Paradoxerweise wird die Flucht ins Grüne umso dringlicher, je mehr das Leben in der Stadt stirbt. Gäbe es in Zürich ein echtes Stadtleben, so wäre der Bedarf an Wochenendhäuschen und Nepal-Trekkings weniger groß. Der erste Schritt zur Entlastung des Landes vom städtischen Erholungsdruck ist also: mehr Kommunikation, mehr Leben in der Stadt. In einem zweiten Schritt könnte ein sinnvoller Zugang zum Land darin bestehen, daß die Städter auf genau den Bauernbetrieben – sagen wir eine Woche pro Jahr – aushelfen, wo ihre Lebensmittel herkommen. Vor allem für Kinder könnten dabei diese Höfe (ich stelle sie mir immer relativ groß vor) so ausgebaut werden, daß sich dort ständig 20 bis 30 arbeitende oder spielende Gäste aufhalten könnten. Es kommt uns dabei gerade gelegen, daß die Landflucht viele Bauernhäuser und kleine Dörfer geleert hat und daß so eine Wiederbelebung auf dem Land möglich wäre. Umgekehrt kämen die Bauern durch einen solchen Austausch auch zu einem Stadthaus, zu einem Zugang zu der neu entstehenden Urbanität.

Dieses neue Verhältnis von Stadt und Land ist nicht als ein Verwaltungsakt zu verstehen, sondern „nur“ als ein langsames organisches Zusammenwachsen. Jenseits aller ökologischen Notwendigkeiten ist die Beziehung zum Land, zu Pflanzen und Tieren, eine elementare und erotische. Menschen und Land verhalten sich zueinander nicht wie beliebige Produktionsmittel und Produzenten, es geht um Geschichten, Kulturen und Gefühle.

Leben ohne dörfliche Enge

Das Verhältnis Stadt – Land, das sich auf diese Weise ergäbe, gleicht übrgens einem historischen Vorbild, nicht vom Inhalt, aber von der äußeren Form her: jenem der römischen familia zu ihrer villa in der campania. Oder auch dem von städtischen Klöstern zu ihren Landgütern. Das Gegenmodell dazu wäre das auf sich allein gestellte germanische Dorf, das aber angesichts der fortgeschrittenen Verstädterung keine Überlebenschance mehr hat. Wie uns die Satellitenschüsseln und die geparkten Mittelklassewagen in den sogenannten Dörfern zeigen, will dort auch niemand wirklich leben.

Auf der ganzen Welt will niemand zurück in die Enge des Dorfes, weder in der Schweiz noch in Afrika. Die letzten Versuche (etwa jener der Roten Khmer Mitte der siebziger Jahre in Kambodscha) sind brutal und katastrophal gescheitert. Leben auf dem Land ist heute nur noch im direkten Austausch mit der Stadt möglich. Gerade ein solcher Austausch garantiert, daß die Städte wieder städtischer werden können, daß wir – als Perspektive – die Einfamilienhaushalden wieder abreißen können, die rustici wieder als Scheunen nutzen können – weil jeder Städter „seine“ villa hat. Die Stadt wird städtischer, das Land ländlicher. Die Spannung ist wieder da, diesmal nicht als eine zwischen antagonistischen Klassen, sondern zwischen gleichberechtigten Mitgliedern im Innern von stadt-ländlichen Genossenschaften.

Nur eine solche „organische Regeneration“ erlaubt auch eine Lebensweise, die global tragbar ist. Nur gemeinschaftliche Nutzungen – in der Stadt und auf dem Land – garantieren ein gutes Leben weltweit auf hohem kulturellen Niveau mit verantwortbarem Ressoucenverbrauch.

P.M.

Der Autor ist Philologe und Gesellschaftstheoretiker und lebt in Zürich. Unter seinem Pseudonym P.M. hat er seit 1980 mehrere ”utopische” Buchtexte veröffentlicht, in denen er seine Alternativ-Entwürfe weiter ausführt. Das bekannteste ist:

P.M.: bolo’bolo
Paranoia City Verlag, Zürich
7. Aufl. 1995, DM 18,-


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