Gemeinschaftliche Siedlungsgenossenschaften

Aus DER RABE RALF Juli/August 1998

Mit den Anfängen der industriellen Revolution im frühen 19. Jahrhundert kommt es durch immer einseitigere Spezialisierungen in Fabriken und Großbetrieben zu einer wachsenden Verschiebung des Gleichgewichts im alltäglichen Leben der Menschen und damit zu sozialen und gesundheitlichen Defiziten. In der Folgezeit schließen sich deshalb immer mehr Menschen in Gruppen zur wirtschaftlichen Selbsthilfe (Gemeinwirtschaften, Genossenschaften, Gewerkschaften) zusammen, um die Ausbeutung und Entfremdung in der Industrieproduktion durch gemeinsames Handeln und gegenseitige Unterstützung zu ersetzen.

Erwähnenswert ist aber auch das in den Anfängen der Industrialisierung teilweise vorhandene soziale Engagement einiger Fabrikbesitzer und Wohnungsunternehmer für die Verbesserung der Lebensumstände unterprivilegierter Schichten.

In Deutschland gelingt es 1846 dem königlich-preußischen Landbaumeister C.W. Hoffmann, trotz Interessenlosigkeit des Magistrats von Berlin und des Architektenvereins, den ”Verein zur Verbesserung der Arbeiterwohnungen” zu bilden, der das Ziel hat, entgegen der zu dieser Zeit beginnenden ”Massierung von Menschen in Kasernen” das Familienleben in von der Größe her annehmbaren, hygienischen Häusern zu fördern, die nach einer Amotisationszeit ins Eigentum der Mieter übergehen. Hoffmanns erklärtes Ziel war die ”Verwandlung eigentumsloser Arbeiter in arbeitende Eigentümer”. [1]

Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften

Victor Aimé Huber, damals Professor an der Berliner Universität, fordert in einer Schrift zur ”Selbsthilfe der arbeitenden Klassen durch Wirtschaftsvereinigungen und innere Ansiedlungen” grundlegende Reformen im Arbeiterwohnungswesen. In genossenschaftlichen Siedlungen zu etwa 100 Häusern mit höchstens vier in sich abgeschlossenen Wohnungen unter einem Dach sollen sich außerdem ein größeres Zentralgebäude mit Versammlungsräumen, Schule, Bibliothek, Krankenzimmer mit Apotheke, Waschhaus, Badeanstalt, Backhaus und Vorratsräume für alle Lebensbedürfnisse befinden. Mieter- und Baugenossenschaften sollen der finanziellen, materiellen und sozialen Hilfestellung dienen.

1878-92 errichtet der Bauunternehmer R. Loest in Halle/Saale zwei Wohnhausanlagen auf genossenschaftlicher Basis. Ein sogenannter Dreispännertyp mit nur 10 Metern Haustiefe wird so aneinandergereiht, daß die Häuser sowohl gut belichtet und belüftet als auch gut bewirtschaftet werden können. Zur Hinterseite des Hauses angelegte Ställe grenzen an einen 5 Meter breiten, gepflasterten Abfuhrweg, der Höfe und Gärten wirtschaftlich erschließt. Die Miete einer Wohnung beträgt 150 Mark jährlich.

Zur Jahrhundertwende werden genossenschaftliche Bau- und Wohnvereine bereits vom Staat gefördert (in Preußen ab 1895). Angesichts der Mißstände in den Mietskasernen beginnen zunehmend Architekten, Baustadträte und andere die Gestalt der Wohnung und die Prinzipien des Städtebaus im Sinne der Gemeinnützigkeit zu reformieren. Dabei steht neben der Wirtschaftlichkeit die Orientierung auf eine offene, geräumige Bebauung mit klaren Wohngrundrissen im Vordergrund. Die Wohnreformer erkennen, daß es auf die inneren Gesinnungswerte im sozialverantwortlichen Bauen ankommt, die sie entweder im traditionellen Bauen wiederfinden oder in der Moderne entdecken. Die Extreme dieser beiden Wege, verfälschte Tradition wie auch radikale Technisierung, werden zu Kennzeichen im Bauwesen dieser Zeit. [2]

Gartenstädte

1898 gibt Ebenezer Howard den Anstoß zur Gartenstadtbewegung, woraufhin 1903 die First Garden City in Letchworth (England) entsteht. Dabei bezieht er sich auf reformerische Ideen der utopischen Sozialisten, die er in seinen Gartenstädten erstmalig miteinander verbindet. Die deutsche Gartenstadtgesellschaft wird 1902 gegründet, die erste deutsche Gartenstadt, Hellerau, entsteht ab 1909 in Dresden. Letztere entspringt dem Konzept der Gründer Karl Schmidt und Dr. Wolf Dohrn, sowohl durch eine Reform der Wohnung als auch des Bildungswesens (Musik, Rhythmik, Gymnastik) eine harmonische, ganzheitliche Ausbildung von Körper und Seele in der Gemeinschaft anzustreben. Hellerau besaß einen eigenen wirtschaftlichen und kulturellen Kern. Durch Gemeinschaftsbauten wurde eine Stadtzelle geschaffen, die ein Eigenleben aufweist, andererseits an den kulturellen und wirtschaftlichen Einrichtungen Dresdens teilhat. [1]

Heimstätten und Wohnfürsorge

Nach dem ersten Weltkrieg bilden sich eine Vielzahl von Heimstätten (Wohnungsfürsorgeunternehmen), die sich zur Aufgabe machen, Siedlungen für Kapitalschwächere in geschlossenen selbstversorgerischen Gruppen zu schaffen. In gemeinnütziger Weise betreuen sie den Kleinwohnungsbau wirtschaftlich, technisch und finanziell (z.B. Heimstätte Dünne [3]). Als Mitte der 20er Jahre durch die Weltwirtschaftskrise die Wohnungsnot dennoch nicht abnimmt, kommt es zu einem qualitativen Höhepunkt in der Entstehung von gemeinnützigen Bau- und Wohnungsgesellschaften. Den Gewerkschaften, die bis zum Ersten Weltkrieg fast nur die Arbeiterbewegung umfassen, schließen sich in der Weimarer Republik auch Angestellte und Beamte an. Durch die vielfältigen weltanschaulichen Ansichten und Tätigkeitsfelder entsteht eine Vielzahl gruppenorientierter, gewerkschaftlicher Unternehmen. Da weder Privatwirtschaft noch Sozialisierungsmaßnahmen des Staates in Gang kommen, entwickelt sich ein regelrechter ”Wildwuchs” von Selbsthilfebewegungen im Wohnungsbaubereich. Es kommt zur Gründung von sehr geschlossenen Gruppen, die aufgrund tragender Gemeinsamkeiten in der Gemeinschaft wohnen. Zum erstenmal in der Baugenossenschaftsgeschichte konnten mittellose Arbeiter und Arbeitslose mitmachen; sie brachten ihren Anteil als “Muskelhypothek” ein. Oft griff man zu Ersatzbaustoffen, wie selbstgepreßten Ziegeln oder Lehm. [4]

Vielfalt der Formen – Neues Bauen

Andererseits bilden sich bauspezifische Produktionsunternehmen aus arbeitslosen Bauarbeitern, Ingenieuren und Architekten. Beide Gruppen schließen sich verstärkt in den 20er Jahren aus Ermangelung allumfassender Erfahrungen unter anderem im Verband sozialer Baubetriebe oder in Wohnungsfürsorgegesellschaften zusammen. Diese vertikale Verbundbildung soll dem Wohl der Allgemeinheit dienen und nicht seinen Beschäftigten besondere Vorteile bieten. Hauptziel ist die Hebung der Lebenshaltung der Menschen durch Senkung ihrer Ausgaben für Mieten und Steuern über die Regulierung der Baumarktpreise. Dieser Verbund ist nicht landübergreifend, sondern geht auf die vielfältig vorhandenen Richtungsverbände ein, was die Vielfalt von Unternehmungs- und Verbundtypen fördert. Unter den gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen entsteht eine politische Konkurrenz, die nicht selten zum Aufeinanderprallen unterschiedlichster Architekturen und damit zur Belebung des Stadtbildes führt. Diese Vielfalt der Organisationen war materielle Basis für das Leitbild des Neuen Bauens in den 20er Jahren: Man wohnt in einer sozial und oft auch politisch übereinstimmenden Gemeinschaft. Ihr Anliegen ist die Strukturierung der eintönigen Stadt, die Politisierung des Alltags und greifbare Reformen, die zwischen der Realität und einer “besseren Gesellschaft” vermitteln. Durch Namensgebungen (Neuland, Freiheit, Zukunft, Hoffnung usw.), eigene Gestaltung und Ästhetik sowie gemeinsame Vereins- und Festkulturen werden die Siedlungen, zum Teil bis heute, für Bewohner wie Außenstehende etwas Besonderes. [4]

Viele Gewerkschaften und Wohnsiedlungen besaßen ein Volks- oder Gemeinschaftshaus. Grund dafür war die Notwendigkeit eigener Versammlungsräume und der Wunsch nach einer Gegen- oder Alternativkultur. Oft soll sich im zentralen Gemeinschaftsbau auch die sozio-kulturelle Bedeutung als Kommunikatioszentrum baulich-ästhetisch ausdrücken.

Moderner Wohnungsbau – keine Lösung

Diese Vielzahl gemeinschaftlicher Bewegung kann nach dem 2. Weltkrieg trotz ähnlicher Voraussetzungen nicht mehr erreicht werden, obwohl es weiterführende Bemühungen auf diesem Weg durchaus gibt. Le Corbusier bringt in seiner 1946 gebauten Unité d’ habitation á Marseille alle seine Auffassungen zur Lösung der Probleme des modernen Wohnungsbaus zum Ausdruck. Sein Ziel sind vielfältige Wohngemeinschaften in der Stadt. In einem 20geschossigen Wohnblock faßt er verschiedene Wohntypen für Einzelpersonen, Ehepaare und Familien mit Kindern zusammen. Integriert sind Kindergarten, Gymasium, Schwimmbad und eine Geschäftsstraße. Zweck dabei ist, im Zentrum der Stadt einer Gruppe von Menschen in einer Gemeinschaft an einem Ort alle Lebensbedürfnisse zu geben. Nach Corbusier gewinnt das Hochhaus wichtigen Naturraum in der Stadt zurück und soll durch die Stützen, auf die es gebaut ist, einen zusätzlichen halböffentlichen Lebensraum bieten. Außerdem wird der gesamte Wohnblock nach den Regeln des Goldenen Schnitts und den von Corbusier aufgestellten Modulor-Reihen proportioniert. Dieses Bauprinzip, das später in der Stadtarchitektur oft angewandt wird, verwirklicht gemeinschaftliches Wohnen aber nur in den seltenen Fällen, in denen die Menschen auf “von oben” geplante nachbarschaftliche Beziehungen und Seßhaftigkeit eingehen.

Jörg Wappler und Lutz Dimter

Literatur:

[1] Spörhase, Rolf: Wohnungs-Unternehmungen im Wandel der Zeit, Verlag Br. Sachse, Hamburg, 1947

[2] Ehmig, Paul: Das deutsche Haus, Bd. 2, Verlag Ernst Wasmuth, Berlin, 1916

[3] Bodelschwingh, G.: Ein alter Baumeister und was wir von ihm gelernt haben, Selbstverlag der Heimstätte, Dünne, 1924

[4] Novy, K./ Prinz, M.: Illustrierte Geschichte der Gemeinwirtschaft, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Berlin/Bonn, 1985

Aus: „Wohngemeinschaften. Gedanken – Geschichte – Thesen“ von Lutz Dimter und Jörg Wappler, Diplomarbeit an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, Studiengang Architektur; Berlin 1996.


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