Aus DER RABE RALF April/Mai 1998
Dem Ziel einer staatenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft haben sich nicht nur die Utopischen Sozialisten – Vorreiter der Revolution von 1848 – verschrieben. Zu ihnen zählen Claude Henri Saint-Simon (1760-1825), Robert Owen (1771-1858), Charles Fourier (1772-1837) und andere.
Die Bezeichnung utopisch stammt aus dem Werk ”Utopia” von Thomas Morus, erschienen 1516. In ihm werden sagenhafte Zustände auf einer Insel namens ”Nirgendwo” beschrieben: ”Nirgends ist das Volk tüchtiger, und nirgends ist der Staat glücklicher als in Utopien”. [1] Morus beschreibt die Utopie menschlichen Zusammenlebens fernab von Müßiggang, nahe einer klösterlichen Ordnung, jedoch basierend auf der Basis familiärer Wirtschaft und religiöser Toleranz.
Für den Kommunismus nach dem ”Manifest der Kommunistischen Partei” (1848) von Karl Marx und Friedrich Engels ist alles utopisch, was nicht die Arbeiterklasse als Zentrum der Veränderung auffaßt, auch wenn kommunistische Vorstellungen einen großen Einfluß auf nachfolgende sozialistische Bewegungen ausgeübt haben. Marx und Engels stellen 1847 fest, daß Sozialismus eine Bourgeoisiebewegung bedeute, Kommunismus dagegen eine Arbeiterbewegung. Letztere sei von der Unzulänglichkeit bloßer politischer Umwälzungen überzeugt und fordere eine gründliche Umgestaltung der Gesellschaft.
Allein nur der Appell der utopischen Sozialisten an alle Gesellschaftsmitglieder, vorzugsweise an die ”bürgerlichen Herzen und Geldsäcke” [2], und ihr Festhalten am Privateigentum setzt praktischen Versuchen enge Grenzen. Ihre Theorien beflügeln jedoch zahlreiche Kommunen vor allem in der Anfangsphase.
Für Charles Fourier ist das Wesen des Menschen von zentraler Bedeutung, denn „anders als die Philosophen des 18. Jahrhunderts ist es … nicht die Vernunft, die den Menschen bestimmt, sondern sind es die Leidenschaften. … In der Spannung zwischen Gruppenkonkurrenz und Gruppensolidarität wird sich die neue Gesellschaft zu immer höheren Stufen (Serien) entwickeln.” [2] Fourier setzt sich konsequent für die freie Liebe ein: ”Die Erweiterung der Privilegien der Frau ist die allgemeine Grundlage sozialen Fortschritts.” Bei Reinhard Feld ist ein praktisches Beispiel des Scheiterns seiner Theorien dargestellt: Die Brook Farm in der Nähe von Boston (USA) wird 1841 von einem ehemaligen Geistlichen gegründet. ”Basierend auf einem ‘System brüderlicher Kooperation’, wie es in ihrer Konstitution heißt” [3], löst die Farm sich jedoch 1847 mit der Umgestaltung nach Fourier in eine ”Phalanstère” (Neue Ordnung) auf. Trotzdem werden die Ideen Fouriers um 1840 mit etwa 40 Siedlungsexperimenten in den USA relativ oft in die Tat umgesetzt. Zu Fouriers Planungsgrundsätzen für seine Phalanstère gehört neben dem individuellen Wohnen ein hoher Anteil Kommunikationsflächen und halböffentlicher Räumlichkeiten.
Robert Owen gestaltet 1799 die heruntergekommene Spinnerei New Lanark samt Arbeiterdorf in eine der erfolgreichsten Fabriken seiner Zeit um. 1826 setzt er einen Modellversuch – die Gründung der ”New Harmony Community of Equality” – als erste großangelegte kommunistische Produktionsgenossenschaft in die Tat um. Dieser Versuch scheitert durch Mangel an Verantwortung der einzelnen Mitglieder gegenüber der Gemeinschaft, doch haben dort ”die erste Kinderkrippe, der erste Kindergarten, die erste Gewerbeschule, das erste Schulsystem, welches auf gemeinsamer Erziehung und Ausbildung von Jungen und Mädchen beruht, die erste sich selbstverwaltende Schule und die erste öffentliche Bibliothek … ihren Ursprung”. [2]
Fouriers Phalanstère ist als Ort der Selbstverwirklichung aller Gesellschaftsmitglieder geplant und soll im Unterschied zu Owen nicht Geburtsstätte eines „neuen moralischen Menschen“ sein. [4] Beiden – Fourier und Owen – schwebt die Wohnhauskommune vor. Jean Baptiste André Godin, Schüler von Fourier, verwirklicht mit der in ”Familistère” umbenannten Phalanstère 1859-85 in Guise sein architektonisches und pädagogisches Konzept und bringt die gemeinschaftlichen Ideen der utopischen Sozialisten in die Nähe der Gartenstadtbewegung.
Gustav Landauer (1870-1919), Anarchist, Revolutionär und Erzähler, ist der Meinung, daß „der Kapitalismus nur zu überwinden ist, indem man aus ihm austritt.” [2] Siedlungstheorien auf genossenschaftlicher Grundlage begeistern innerhalb Deutschlands (z.B. Franz Oppenheimers ”Freiland in Deutschland”) wie auch außerhalb (z.B. Theodor Hertzkas ”Idealgesellschaft an den Hängen des Mount Kenia” in Afrika).
Silvio Gesell entwirft eine zinslose Geldwirtschaft. Dieser Gedanke wird bis heute in verschiedenen Formen umgesetzt. Der bargeldlose Tausch ist vielerorts Grundlage der COOP-Bewegung und Arbeitslosen-Selbsthilfen von 1929-1936 in den USA. Die „Natural Development Association“ hat 1933 ca. 2000 Mitglieder und versorgt ca. 10.000 Personen. [2] Der Tausch „Arbeitskraft gegen Ware“ funktioniert längerfristig allerdings nur dann, wenn der Arbeitskraft von der Gesellschaft ein gewisser Wert zuerkannt wird und wenn das Bestreben der Notleidenden vorhanden ist, nicht nur ihrer Not zu entkommen, sondern über das Bestehende hinauszukommen.
Die Anarchisten, überall als ”Schreckgespenst einer Bewegung von terroristischen Bombenwerfern” [2] attackiert, haben ihre tiefen Wurzeln in der Bewegung der utopischen Sozialisten, sind ihnen gegenüber jedoch weniger leicht in eine Schublade zu ordnen, was ihrer undogmatischen und antiautoritären Linie entspricht: ”Ich bin deshalb nicht Kommunist, weil der Kommunismus alle Macht der Gesellschaft im Staat konzentriert und aufgehen läßt. … Ich wünsche die Organisierung der Gesellschaft und des kollektiven und sozialen Eigentums von unten nach oben auf dem Weg über die freie Assoziation und nicht von oben nach unten mit Hilfe irgendeiner Autorität, wer immer sie auch sei.” (Bakunin) [2]
Anarchistische Strömungen fließen z.B. in die 1900 gegründete Neue Gemeinschaft als ”Orden vom wahren Leben” und in die Siedlung am Monte Verità bei Ascona mit ein.
Die anarchistischen Kollektive im Spanischen Bürgerkrieg haben wahrhaft gelebt und waren vom Innern der Menschen getragen. Die zugespitzten politischen und ökonomischen Konflikte in Spanien 1936 überließen die Suche nach einer gesellschaftlichen Alternative nicht einer Subkultur, den Bohemiens oder den Lebenserneuerern irgendeiner Art; sie wurde von Landarbeitern ebenso gesucht wie von den Arbeitern und Angestellten in den spanischen Städten.” In den sich ohne Staatseinfluß massenhaft bildenden Kollektiven arbeiten während des Bürgerkrieges sechs bis acht Millionen Menschen. Über drei Jahre wurden mehr als 60% des Ackerbodens ohne „Herren“ bebaut, in den Betrieben und Fabriken fehlten die Bosse und die Staatsautorität von ehemals. [2]
Die spanischen Anarchosyndikalisten (autonome und autarke, sich selbstverwaltende Kommunen mit unterschiedlichen Kollektivauffassungen) halten in ihrer Sozialutopie das Gesellschaftsbild der sich ständig verändernden, sich den Bedürfnissen auf dem Lande oder in der Stadt anpassenden Strukturen wach. Der Staat soll geschwächt, ja abgeschafft werden und auf die Kollektivierung keinen Einfluß ausüben. Ein ”Familienlohn” sicherte die Existenzbedingungen der verschiedenen Bevölkerungsschichten, soziale Reformen ergriffen die gesamte Wirtschaft dieser Gebiete und ”das Regime der libertären Solidarität hat eine neue Zivilisation geschaffen.” [2] Die spanischen Kollektive werden schon bald nach ihrer Entstehung aus ihren eigenen Reihen – von Kommunisten und Stalinisten – und durch die Faschisten zerschlagen.
Ihr anarchistisches Erbe treten die ”sozialistischen Staaten“ nach dem Zweiten Weltkrieg nicht an. Sie beriefen sich auf die Vorstellungen von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1924) und schufen, drastisch formuliert, mit ”Vater Staat als einzigem Arbeitgeber, als monopolistischem Ausbeuter, … ein Beamten- und Bürokratieregime, … gegen das etwa das Königreich Preußen ein wahres Findelhaus wäre” (Erich Mühsam). [2] Der Zusammenbruch dieses größten Gemeinschaftsexperiments beruhte weniger auf der ständigen Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen System und einem gewissen Inseldasein aller sozialistischen Staaten, als auf der Beibehaltung von Hierarchien, Privilegien, Disziplinierung und selbst Ausbeutung. Subjektive Faktoren der Entfremdung, des Gefühls der persönlichen Bedeutungslosigkeit und die Unterdrückung von Versuchen, aus der Isolation und Apathie auszubrechen, spielten ebenso eine Rolle.
Jörg Wappler und Lutz Dimter
Literatur:
[1] Morus, Thomas: Utopia, Verlag Reclam jun., Leipzig1982
[2] Pätzold, Jan (Hrsg.): Die Geschichte alternativer Projekte von 1800 bis 1975, Verlag Klaus Guhl, Berlin 1980
[3] Morris, William: Wie wir leben und wie wir leben könnten, Dumont Buchverlag, Köln 1992
[4] Bollerey, Franziska: Architekturkonzeption der utopischen Sozialisten, Heinz Moos Verlag, München 1977
[5] Gradow, G. A.: Stadt und Lebensweise, Verlag für Bauwesen, Berlin 1970
Aus: „Wohngemeinschaften. Gedanken – Geschichte – Thesen“ von Lutz Dimter und Jörg Wappler, Diplomarbeit an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, Studiengang Architektur; Berlin 1996.