Die Abwicklung des Nordens: Den Zugriff auf den Süden zurückdrängen statt Herrschaftsstrukturen nachhaltig zu modernisieren

Aus DER RABE RALF Oktober/November 1998

Hubert Weinzierl, der Vorsitzende des BUND, beschrieb die umweltpolitische Bilanz der 80er Jahre mit den Worten: „Passiert ist nichts.“ Natürlich gab es in den 70er und 80er Jahren eine Vielzahl von Umweltgesetzen und -verordnungen, auf lokaler, Bundes- und internationaler Ebene. Aber es hat keine grundsätzlichen Veränderungen gegeben: nichts, das am Mechanismus des zerstörerischen Wachstumsmodells irgendetwas korrigiert hätte; im Gegenteil.

Nach den bisherigen Ausführungen* dürfte klar sein, daß auch gar nichts passieren kann. Jedenfalls nicht in diesem Sinne. Die Diskussion um nachhaltige Entwicklung hat die skeptische Erfahrung der Umweltbewegung verdrängt und täuscht eine Offenheit vor, die so nicht besteht. Die komplizierten Verfahren der wissenschaftlichen Ausführung, öffentlichen Diskussion, Anhörung und Verbändebeteiligung sorgen dafür, daß nur das geschieht, was zu den kapitalistischen Strukturen und den sie tragenden Interessen paßt. Das ist zum einen die ”liebevolle Ausgestaltung” des herrschenden ökologischen Irrsinns: der „intelligente Stau“ durch neue High-Tech-Verkehrsleitsysteme oder die „intelligente Verschmutzung“ durch computergestütztes Umweltmonitoring und Biotop-Planung, die für die optimale Verteilung des Drecks sorgen. Das ist zum anderen die Umgestaltung der Naturverhältnisse in Richtung einer noch ungleicheren Verteilung von Kosten und Nutzen. Die globale ”Verschlankung” und Flexibilisierung der Produktion wirkt zusammen mit der Kündigung von sozialen Ansprüchen – dem Umweltsparen, das die ökologischen Bedürfnisse des globalen Produktionssektors langfristig absichern soll.

Auf allgemeine Einsicht braucht nicht spekuliert zu werden, solange im bestehenden Gesellschaftssystem gilt: die Kosten der Umweltkrise fallen nach „unten“, die Gewinne steigen nach „oben“. Die Herrschaftsverhältnisse und die soziale Ungleichheit werden durch die Umweltkrise nicht außer Kraft gesetzt.

Gespaltene Welt…

Dabei funktioniert das System der Spaltung in Privilegierte und ”Benutzte” in ganz ähnlicher Weise auf internationaler, auf gesellschaftlicher und auf persönlicher Ebene. – Auf internationaler Ebene üben die nördlichen Industrieländer ihre Herrschaft über den Süden mittels technisch-ökonomischer Abhängigkeitsmittel aus: militärische Überlegenheit, überlegene Exportwirtschaft, höchstentwickelte Technologien und finanzpolitische Überlegenheit (als direkte Kreditgeber, als indirekte Tributempfänger durch hochdotierte Währungen, als Kontrolleure der internationalen Institutionen wie Weltbank, GATT und WTO). Was sie dafür von den Ländern des Südens nehmen, ist deren konkrete und abstrakte Natur: Naturprodukte, Flächen und Arbeitskraft.

Unter den Bedingungen der ökologischen Krise nimmt die Ungleichheit zu. Die Überbeanspruchung der natürlichen Produktivität und die Katastrophen falscher Natursteuerung treffen „die unten“ am meisten, während „die oben“ sich technologisch besser schützen und obendrein noch ihre ökologischen Reparaturtechnologien und Patente verkaufen können.

…gespaltene Gesellschaft…

Das gilt genauso auf nationaler Ebene. Der Teil der Gesellschaft, der in den Weltmarktsektor eingebunden ist, verfügt über Geld, Informationssysteme, Medien und das Gewaltmonopol. Was er dafür vom „Rest“ bekommt, ist dessen Arbeit, Leben und Eigentum. Es ist die schlecht oder nicht bezahlte Arbeit, die körperliche und soziale Reproduktion des Lebens, es sind das Land und die Flächen, die Kreativität und Flexibilität, die nötig sind, um den Alltag zu organisieren, oder die billig verkauft werden an die Apparate, die Gewinne daraus machen. Auch dieser Austauschkreislauf bringt unter den Bedingungen der ökologischen Krise nur ”die unten“ in Schwierigkeiten. Wer Geld und Kontrolle hat, kann sich Gesundheit und Freiräume kaufen. Die Krise der Reproduktion, d.h. der unglaubliche Verschleiß, den die ökologische Krise allen Menschen auferlegt, die den Alltag managen, sich mit sozialen oder „naturnäheren“ Dingen beschäftigen und dafür verantwortlich fühlen oder versuchen, unter diesen kranken Bedingungen noch etwas Kreatives zu machen – diese Krise macht ”die unten“ noch abhängiger. Die allgemeine Luftschadstoff-Konzentration trifft den ökologischen Landbau härter als die Treibhaustomaten und Import-Nahrungsmittel. Die sozial-ökologische Krise setzt den autonomen Basisprojekten mehr zu als den Glaspalästen des Weltmarktsektors: ohne Zugang zu Informationen und Geld wird es immer schwieriger, politisch etwas zu bewegen; und die Sorge um Einkommen, Gesundheit und Altersversorgung ist keineswegs irrationale Panik.

…gespaltene Persönlichkeit

Der Kreislauf funktioniert auch auf der persönlichen Ebene und führt unter den gegebenen Bedingungen eher zu einer noch stärkeren Selbst-Vermarktung und Zurichtung als zur Entwicklung von „postmaterialistischen Werten“ und ”neuer Entschleunigungs-Ethik“. Die herrschenden Verhältnisse tragen die Spaltung in uns selbst hinein. Jeder, der sich schon einmal um einen Job beworben hat, hat das erlebt. Ein Teil unserer Person nimmt teil an der Sphäre der formalen Arbeit (oder bemüht sich darum) und diszipliniert den anderen Teil. Unsere ”strategische Hälfte” verkauft unsere Persönlichkeit auf dem Markt und erlangt damit Teilhabe an der Kontrolle und ein Stück patriarchale Autonomie. Sie liefert. Unsere spontane, ungeordnete, direkte Seite dagegen, das Körperliche und das Unüberlegte, ist dafür zuständig, all das zu produzieren, wodurch unsere strategische Seite auf dem Markt liefern kann – und es ist diese körperlich-spontane Seite, die durch die Umweltkrise noch mehr in Schwierigkeiten gerät.

Das Spannungsverhältnis zwischen Selbstdisziplinierung und dem, was wir mal unsere „Körperlichkeit“, mal unsere „Seele“ nennen, gab es auch früher schon. Wir würden sonst überhaupt nichts zustande bringen. Aber heute ist dieses Verhältnis zur autoritären Einseitigkeit, zum Herrschaftsverhältnis erstarrt. Wir müssen uns zur berechenbaren und lieferbaren Ware machen und für deren gleichbleibende Qualität und jederzeitige Verfügbarkeit garantieren, unsere lebendigen Ansprüche aber niederkämpfen. Die vollständige Verfügbarkeit von Natur und Arbeit, einer der Wesenszüge des Kapitalismus, macht vor uns selbst nicht halt. Auch hier greifen die Kosten der ökologischen Krise „unten“ an, während sich die Bewegungsfreiheit „oben“ erhöht. Unser körperlich-seelisches Funktionieren wird immer unsicherer, während wir Experten im Anhäufen von Mitteln werden, mit denen wir trotzdem Leistung erzielen. Dazu gehören die Tabletten, die anderen Drogen, die Fitness-Studios; aber auch der ganze New-Age-Stoff, mit dem man sich einredet, es hätte einen kosmischen Sinn, sich morgens zur Arbeit zu schleppen, auf dem Heimweg freundlich und beim Einkaufen bescheiden zu sein. Der Zwang und die Möglichkeiten, sich selbst zuzurichten, nehmen unter den Bedingungen der ökologischen Krise zu, während die Ansprüche unserer körperlich-kreativ-spontanen Seite mit immer mehr Gefahren verbunden sind. Ob es das Bedürfnis nach einem Sonnenbad ist (Hautkrebs), nach Sex (Aids) oder nach Faulheit und Widerspruch (Karriereknick) – die Notwendigkeit nimmt zu, uns zu zügeln, einzuschränken, zu kontrollieren, und damit steigt auch die Abhängigkeit von Geld, Information, Prestige, von den Erfolgen unserer ”strategischen Persönlichkeitshälfte”.

Galeerenruderer, Aufseher, Patron – alle in einem Boot?

Egal auf welcher Ebene: im Rahmen der Herrschaftsverhältnisse fallen ökologische Kosten nach „unten“, Gewine steigen nach „oben“. Deshalb gibt es keine gemeinsamen Interessen aller Beteiligten an einem Ausweg aus der ökologischen Krise. Deshalb gibt die ökologische Krise allein keinen Anlaß, der das Gesellschaftssystem des Nordens zu grundlegenden Reformen seiner wesentlichen Kreisläufe zwingen würde. Deshalb ist es ein Irrtum, die ökologische Krise müßte nur allen richtig bewußt gemacht werden und dies werde dann von selbst Änderungen im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nach sich ziehen. Deshalb ist es auch ein Irrtum zu glauben, es werde im Rahmen dieses Systems Lösungen geben, die über ein Vermeiden der schlimmsten und für alle katastrophalen Wirkungen hinausgehen.

Effektivierung und Umweltsparen bringt auch ökologisch nichts. Es gibt keinen Weg, den Sog der Naturvermarktung zu begrenzen, solange die Herrschaftsverhältnisse so sind wie sie sind. Die bloße Zuspitzung der ökologischen Probleme kann von der herrschenden Ordnung gut verdaut werden. Sie wird sogar benutzt, die Herrschaftsverhältnisse zu rechtfertigen und auszubauen.

Herrschaft abbauen statt ökologisch modernisieren

Deshalb geht es darum, die beschriebenen Kreisläufe zu unterbrechen. Nicht die einzelnen ökologischen Probleme, sondern die Herrschaftsverhältnisse müssen zum Ansatzpunkt gemacht werden. Nur darüber gibt es Veränderungen. Die Lösung liegt in der Zurückdrängung von Herrschaft, nicht in ihrer Modernisierung. Der Zugriff und die Kontrolle des Nordens auf den Süden müssen begrenzt und verringert, nicht „ökologisiert“ und erweitert werden. Dies gilt gleichermaßen, ob es um den geographischen Süden geht, um den „gesellschaftlichen Süden” oder um unseren „inneren Süden”. Der Zusammenhang zwischen den drei Ebenen ist uns instinktiv klar: die rassistischen Schimpfwörter gegen den faulen, unnützen, wahnsinnigen, unersättlichen Süden, die Stammtischparolen, die Zoten – in allen drei Verhältnissen dasselbe Prinzip der Herabwürdigung. Es ist viel geschrieben worden über das Vorrücken einer „Dritten Welt“ inmitten der „Ersten“; aber genauso rückt eine „Dritte Welt“ in uns selbst vor, ausgebeutet und abgehängt, vernachlässigt und rebellierend. Dies ist kein metaphorischer Zusammenhang, sondern ein realer. Es ist der Zusammenhang des herrschenden ökonomischen Systems, der alle Verhältnisse spaltet: hier Teilhabe am hochformalisierten, verfügenden Sektor – dort Abhängigkeit, Ausgrenzung, Abtretung von Natur und Arbeit. Mag die Grenze auch kompliziert sein, vielfach gebrochen, quer durch die Gesellschaften und durch uns selbst, sie ist bestimmbar. Sie trennt den „formellen“ Sektor und den unterdrückten „Rest“.

Wenn vom Süden die Rede ist, gilt auch die alte Grundregel: Durch Entwicklungshilfe wird nichts besser. Auch „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist meist nur eine nonchalante Formulierung für die Einübung in die Verhältnisse, um sie so zu belassen, wie sie sind. Sie ist als Antwort ebenso unbrauchbar wie die Empfehlung, angesichts des widerlichen Drucks in einem leistungsorientierten Schulsystem (das zur widerstandslosen Ausführung künftiger sinnloser Tätigkeiten heranbildet) sollten die SchülerInnen doch Hausaufgaben-Selbsthilfegruppen bilden, mit Limonade und Keksen. Es trifft irgendwie nicht den Kern der Sache. Internationalistische und entwicklungspolitische Gruppen haben demgegenüber immer das Recht zur Sezession betont, zur Autonomie. Und sie haben daraus abgeleitet, daß die Aufgabe hier nicht in Hilfe liegt, sondern im flankierenden Eingreifen, um die Instrumente des militärischen und ökonomischen Zugriffs zu behindern, mit denen die Autonomieversuche des Südens gebrochen werden sollen. Das ist der Dreh- und Angelpunkt.

Das Konzept der Abwicklung

Es geht um die Abwicklung des Nordens als Herrschaftssystem und Gesellschaftsordnung, um die schrittweise Zurückdrängung der Instrumente des Zugriffs. Es geht um die Unabhängigkeit des “Südens” und um die Entmachtung des “Nordens”, von der weltpolitischen über die gesellschaftliche bis zur persönlichen Ebene. Das ist das entscheidende Kriterium, um die Kreisläufe zu unterbrechen und Spielräume für eine andere Entwickung zu gewinnen. Es ist auch das einzige Kriterium dafür, ob Maßnahmen und Aktionen in die Richtung gehen, etwas zu verändern und zu bewirken, oder ob sie nur der Ausgestaltung des Bestehenden dienen. Wenn Nachhaltigkeit die Gestaltung der ökologischen Krise im Interesse des sozialen Programms des Kapitalismus ist, dann ist Abwicklung die Zurückdrängung dieses sozialen Programms, im Interesse der Erhaltung der Umwelt und der sozialen Befreiung.

Natürlich ist dies eine antikapitalistische Politik; aber das besagt nicht allzuviel. Abwicklung des Nordens ist etwas Konkretes. Sie richtet sich auf die Hauptinstrumente des Zugriffs und der Kontrolle. Sie plant nicht eine vorgestellte Zukunft, sondern geht davon aus, daß die Zurückdrängung Spielräume für eine andere Entwicklungslogik schafft. Sie setzt nicht eine vorgefertigte Utopie, sondern läßt Raum für vielfältige Modelle, die sich aus den jeweiligen subjektiven Vorstellungen entwickeln werden. Sie versucht zu berücksichtigen, daß ein abrupter Crash weder möglich noch wünschenswert ist, aber eine positive Weiternutzung der bestehenden Apparate auch nicht funktioniert: so gibt es Aufgaben der Entsorgung, der schrittweisen Zurückführung, der Umgewöhnung und Altlastensanierung – eben der Abwicklung. Sie appelliert nicht an eine asketische oder heroische Moral, sondern konzentriert sich auf die Hauptpunkte, die eine Veränderung der Entwicklungsrichtung schaffen und an direkten Interessen anknüpfen. Sie umfaßt fünf Prinzipien:

  1. Interventionen unterbinden
  2. Den Weltmarktsektor zurückdrängen
  3. Die Privilegierung der formalen Erwerbsarbeit beenden
  4. Direkte Aneignung von Räumen und Organisationsformen
  5. Maßnahmen zur direkten Überlebenssicherung

Was beinhalten diese Prinzipien?

Christoph Spehr

Literatur:

Christa Müller: Ökokapitalismus. Die blinden Flecken der Nachhaltigkeits-Debatte, in: FORUM entwicklungspolitischer Aktionsgruppen 201, Bremen 1996.

James O’Connor: Kein Ausweg? Die Ökonomie der 90er Jahre, in: Prokla 88, Berlin 1992

Aus: Christoph Spehr, ”Die Ökofalle –

Nachhaltigkeit und Krise”, Promedia

Verlag, Wien 1996, 240 S., 34,- DM.


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