Der Rindermond oder Vom Brunei-Prinzip zu den Nachhaltigen Niederlanden

Aus DER RABE RALF April 1997

Brunei ist ein Zwergstaat auf der Insel Borneo (Kalimantan). Die britische Kolonie wurde erst 1984 unabhängig. Brunei ist reich, denn es sitzt auf Erdöl, das es hauptsächlich nach Japan verkauft. Brunei ist autoritär; nachdem Wahlen eine Mehrheit für die malayische Partei ergaben, die für den Anschluß an Malaysia eintrat, wurde die Verfassung vom Sultan gleich wieder außer Kraft gesetzt. Brunei ist eine Dienstleistungsgesellschaft, die vom Konsum des Hofes im Takt gehalten wird. Der Lebensstandard ist relativ hoch; die schmutzigen und schlechtbezahlten Arbeiten werden von ausländischen Arbeitskräften ohne rechtlichen Status erledigt.

Das Territorium von Brunei ist etwa fünfmal so groß wie Berlin. In Australien besitzt der Sultan Land, das etwa eineinhalbmal so groß ist wie Brunei selbst. Dort befinden sich ausschließlich Rinderfarmen, die das Fleisch liefern, das von Bruneis Oberschicht verzehrt wird. Auch sonst importiert Brunei so ziemlich alles, was man konsumieren kann. Geld ist ja da.

Wer hat dein Hemd genäht?

Es ist einleuchtend, daß nicht alle Staaten so leben können wie Brunei. Man bräuchte sonst eine Parallelwelt, auf der all das wächst, was auf der „Brunei-Erde“ verzehrt wird. Einen riesigen Rindermond sozusagen, eineinhalb mal so groß wie die Erde. Trotzdem gibt es eine ganze Reihe von Staaten, die es genau so machen: alle nördlichen Industriestaaten. Dieser privilegierte Club konsumiert in großen Zügen die Flächen und die Arbeit der anderen. Die Europäische Union benutzt für ihre landwirtschaftliche Versorgung eine zusätzliche Fläche außerhalb ihres eigenen Staatsgebietes, die so groß ist wie die gesamte fruchtbare Landfläche von Venezuela, Kolumbien, Ekuador, Panama und Guayana zusammen. Das ist die Fläche, die notwendig ist, um den agrarischen Nettoimport der EU (Nahrungsmittelimporte minus -exporte) hervorzubringen.

Die Reichen essen vorzugsweise von Feldern der Armen. Sie durchpflügen großräumig deren Land auf der Suche nach mineralischen Rohstoffen und fossilen Energieträgern. Sie kaufen sich mit einem halben Stündchen Arbeit Dutzende Kulis in der Dritten Welt, die eine Woche lang schuften, um Radios oder Computer zu bauen, Kleidung zu nähen oder Spielzeug zu basteln.

In der ökonomischen Diskussion wird viel Scharfsinn darauf verwandt, diesen Tatbestand zu verschleiern. Gern wird darauf verwiesen, daß über die Hälfte des Welthandelsvolumens auf den Handel zwischen den Industriestaaten entfällt, gut doppelt so viel wie auf den Handel mit den Dritte-Welt-Ländern; Tendenz steigend. Allerdings arbeiten diese Statistiken mit Preisen und mit Prozentzahlen. Absolut gesehen nimmt der Handel zwischen Dritter Welt und nördlichen Industriestaaten immer noch zu, auch wenn er langsamer wächst als der „innernördliche“ Handel. Und tausend schlechtbezahlte Tonnen Erz oder Bananen sehen in der Bilanz „kleiner“ aus, während ein hochbezahlter Chip ein „riesiges“ Volumen darstellt.

Man kann es auch so sehen: Der Norden muß immer aufwendiger und arbeitsteiliger operieren, immer größere Stoffströme umwälzen, um noch weitere Natur- und Arbeitspotentiale des Südens zu sich zu lenken. Aber noch funktioniert es. Trotz ökologischer Krise und wachsender Verelendung ist der Transfer vom Süden in den Norden noch nicht rückläufig; er nimmt nur langsamer zu.

Weniger Kuchen essen?

Während die Weltprominenz 1992 in Rio tagte, schloß eine Arbeitsgruppe des niederländischen Umweltverbandes Milieudefensie eine Studie ab mit dem Titel Sustainable Netherlands – Aktionsplan für eine nachhaltige Entwicklung der Niederlande. Sie wollte herausfinden, was es konkret bedeuten würde, wenn ihr eigenes Land sich wirklich „nachhaltig“ verhielte.

Die Studie beruhte auf dem Konzept des Umweltraums: Wenn man sich die natürlichen Ressourcen der Welt als einen großen Kuchen vorstellt, der unter den Staaten und ihrer Bevölkerung verteilt wird, dann nehmen sich nach dem Brunei-Prinzip einige Staaten ziemlich große Stücke, so daß für viele andere wenig übrigbleibt. Die Frage ist nun: wenn die Niederlande sich nur ein so großes Stück vom Kuchen nähmen, wie es ihrem Anteil an der Weltbevölkerung entspricht – was würde das bedeuten?

Dazu braucht man zunächst eine Vorstellung, wie groß der Kuchen ist. Es soll ein nachhaltiger Kuchen sein, d.h. er soll keine Wechsel auf die Zukunft ziehen. Der Kuchen besteht aus vielen Zutaten, deren Menge begrenzt ist und die einander nicht beliebig ersetzen können. Ein sparsamer Umgang mit fossilen Energieträgern nützt z.B. nichts, wenn gleichzeitig die Bodenfläche so übernutzt wird, daß sie dauerhaft geschädigt bleibt. Der Kuchen muß in seinen einzelnen Bestandteilen nachhaltig sein.

Sustainable Netherlands wählte als Zeithorizont das Jahr 2010. Zwanzig Jahre schien ein in jeder Hinsicht realistischer Zeitraum. Für diesen Zeitpunkt wurden die Weltbevölkerung und der Zustand der natürlichen Ressourcen geschätzt. Es stellte sich heraus, daß der Kuchen des Jahres 2010 schon um einiges kleiner sein würde als heute. Das gerechte Stück vom Kuchen, das sich aus seiner geschätzten Größe und dem Anteil der Niederlande an der Weltbevölkerung ergab, nannten die AutorInnen nationalen Umweltraum. Davon ausgehend definierten sie Umwelträume für Energie, nicht erneuerbare Rohstoffe, Agrarproduktion, Waldnutzung und Wasser – jeweils die Menge, die mit vertretbaren Schadstoffemissionen, Abfällen und sonstigen Umweltbelastungen noch zu haben ist.

Da brauchbares Wasser nicht beliebig transportiert werden kann, berechneten die AutorInnen den nationalen Umweltraum für Wasser auf der Grundlage der Wassermenge in den Niederlanden. Den Umweltraum für Holz berechneten sie auf der Grundlage der Waldbestände von Europa und Asien. Die übrigen Umwelträume wurden so kalkuliert, daß die Niederlande sich – innerhalb der Grenzen ihres fairen Anteils – frei aus dem gesamten Weltmarkt versorgen konnten, egal ob die Rohstoffe in den Niederlanden oder in Europa vorkommen. Die Nutzung von Kernenergie wurde ausgeschlossen. Gentechnologie war ebenfalls nicht Grundlage der Schätzungen.

Dein Anteil, Mitbürger!

Was war das Ergebnis?

Im Jahre 2010 stehen, ökologische Sofortmaßnahmen und gleichmäßige Verteilung vorausgesetzt, jedem Menschen auf der Welt 2500 m² Ackerfläche zum Anbau von Nutzpflanzen zur Verfügung. Davon sind 1900 m² erforderlich, um die notwendigen Grundnahrungsmittel für eine gesunde Ernährung hervorzubringen; 600 m² stehen dann für weitere Verwendungsarten zur Verfügung. Zum Beispiel benötigen die Niederlande heute ca. 100 m² pro Kopf, um Baumwolle für Textilien anzubauen, und 320 m² für Genußmittel wie Kaffee, Tee, Kakao und Südfrüchte. Auf dem Rest – 180 m² pro Person -, könnten agrarische Rohstoffe für die Industrieproduktion angebaut werden, oder Ersatzprodukte für synthetische Rohstoffe, oder Viehfutter, oder Biomasse für die Energieproduktion. Viel ist das nicht.

Ferner stehen 2010, wenn es gleichverteilt zugeht, jedem Menschen weltweit 4400 m² Weidefläche zur Verfügung. Auch davon sind wiederum 1300 m² notwendig für persönliche Grundnahrungsmittel, in diesem Fall, um 30 g Fleisch und 2/3 Liter Milch pro Tag zu erzeugen. Auf der Restfläche kann man ebenfalls Vieh weiden lassen, sie für Naturschutzziele freilassen oder was immer. Da ein erheblicher Teil des weltweiten Weidelandes ökologisch sensible Flächen sind, sind die Möglichkeiten zur Biomasse-Produktion sehr begrenzt.

Jeder Erdbewohner könnte 2010 außerdem 0,4 Kubikmeter Holz pro Jahr verbrauchen. Das ist ein Drittel von dem, was Menschen in den Industriestaaten heute verbrauchen; die Hälfte davon für Papier und Karton, die andere für Bauholz, Möbel etc.

Kritischer sieht es im Energiebereich aus. Die Verbrauchsgrenzen ergaben sich weniger aus der Begrenztheit der Lagerstätten von Erdöl und Erdgas. Das größere Problem stellt die begrenzte Aufnahmefähigkeit der Erdatmosphäre für Kohlendioxid (CO2) dar, das bei der Verbrennung freigesetzt wird. CO2-Anhäufung in der Atmosphäre führt zum „Treibhauseffekt“. Die Nutzung von Sonnenenergie, Wind- und Wasserkraft und Erdwärme produziert kein CO2; auch nicht die Energiegewinnung durch Biomasse.

Sustainable Netherlands geht von einer maximal vertretbaren Erwärmung von 0,1°C pro Jahrzehnt aus – beim derzeitigen CO2-Ausstoß sind 0,3°C zu erwarten. Daraus ergibt sich: 1,7 Tonnen CO2-Emission pro Person und Jahr sind langfristig die Grenze. Die Niederlande pulvern heute aber sechseinhalbmal so viel in die Atmosphäre. Als Ziel bis 2010 wurde deshalb eine 60%ige Reduzierung der CO2-Emission angesetzt, bis 2030 müßte dann eine nochmalige Reduzierung um weitere 25% des heutigen Verbrauchs folgen, damit die vertretbaren 1,7 Tonnen erreicht werden.

Für die nichterneuerbaren Rohstoffe kam die Studie zu dem Schluß, daß bei Metallerzen kaum Alternativen zu einer weitestgehenden Wiederverwertung im Rahmen eines Kreislaufsystems bestünden – vor allem wegen des Energieaufwands für Förderung und Transport. Erdöl und Erdgas als Brennstoffe zu verfeuern, ist problematisch, da sie als Rohstoffe für chemische Erzeugnisse benötigt werden. Ein Ersatz von chemischen Fasern und Erzeugnissen durch Produkte aus agrarischen Rohstoffen ist nur eingeschränkt möglich, da die landwirtschaftliche Nutzfläche wie erwähnt begrenzt ist. Eine langfristig verantwortbare Nutzung muß daher auf alternative Energiequellen setzen und einen reduzierten Verbrauch von Erdölprodukten mit einem teilweisen Ersatz durch agrarische Rohstoffe kombinieren.

Nicht mal in Sack und Asche

Fazit: Die natürlichen Ressourcen der Erde würden auch im Jahr 2010 prinzipiell ausreichen, um die Grundbedürfnisse einer auf 7 Milliarden gewachsenen Weltbevölkerung zu decken. Die Niederlande könnten mit ihren eigenen agrarischen Ressourcen nur schlecht auskommen. Sie könnten aber innerhalb ihres gerechten Anteils am „Kuchen“, also unter maßvoller Nutzung von Flächen im Ausland, zufriedenstellend wirtschaften, ohne in eine Steinzeit-Produktion zurückzufallen. Konsum-Einschränkungen wären im Fleischverbrauch und bei der individuellen Mobilität notwendig. Die AutorInnen prägten die Faustregel „ein Liter Benzin pro Person und Tag“ und rechneten dem internationalen Umwelt-Jetset in Rio vor, eine Flugreise von 5.000 km käme für jede Person ca. einmal in zehn Jahren in Frage.

Die Einschränkungen im Energieverbrauch ließen sich zu einem erheblichen Teil über technologische Verbesserungen der Wärmenutzung und -dämmung realisieren, würden aber auch Einschränkungen bei der Industrie und damit bei den verfügbaren Konsumgütern erfordern. Wenn bei Produktionsprozessen, Wohnungsheizung, Kfz-Antrieben und elektrischen Hausgeräten der Stand der Technik angewendet würde, brächte dies eine Reduzierung der CO2-Emission um 26%. Eine Reihe struktureller Maßnahmen – Reduzierung des Kunstdüngerverbrauchs, der Auto- und Flugzeugstrecken, konsequentes Recycling, Verzicht auf Einwegverpackungen und einen erheblichen Teil der Werbepresse – würde weitere 24% Einsparung bringen, zusammen also 50% weniger CO2-Emission. Dies reicht also noch nicht aus und müßte um reale Schrumpfungsprozesse in besonders energieintensiven Industriezweigen (also auch beim Konsum dieser Güter) ergänzt werden: das wären insbesondere die Aluminium-, Stahl- und chemische Industrie und der in den Niederlanden allgegenwärtige Treibhaus-Anbau.

Die Umstellung auf dauerhafte Energiequellen, die langfristig den entscheidenden Beitrag zur CO2-Reduzierung liefern müßten, könnte bis 2010 nämlich kaum greifen: gerade einmal 10% des Energieverbrauchs könnten durch Alternativenergien gedeckt werden. Der Einsatz von passiver Sonnenenergie im Wohnungsbau beispielsweise kommt erst bei Neubauten zum Tragen.

Die nachhaltigen Niederlande 2010 wären also ein Land, wo die Lichter nicht ausgehen müßten. Es wären mehr Menschen in der Landwirtschaft tätig, es gäbe nur sehr wenig Wegwerf-Konsumgüter, aber durchaus eine industrielle Produktion für langlebige Güter. Modische Kleidung, gutes Essen, Fernsehen, Bücher, Kino und ab und zu eine Spritztour ins Grüne wären nicht verboten. Keineswegs müßten die Menschen, in Felle gehüllt, über unbeleuchtete Dorfstraßen schlurfen, um im Schein einer Kerze an harten Brotkanten zu nagen. Sie würden ganz „modern“ leben, vermutlich mit einer verkürzten Arbeitszeit an ihren Arbeitsstätten und mehr Eigenarbeit in der Freizeit. Ihr Wohnraum dürfte nicht zunehmen, müßte aber auch nicht kleiner werden. Sie würden weniger Fleisch essen, müßten auf elektrische Wäschetrockner, Klimaanlagen und Wasserbetten verzichten und öfter mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, aber sie könnten durchaus rauchen und Kaffee trinken.

Das war die entscheidende Botschaft: Die Industrieländer könnten sich nicht herausreden – nachhaltiges Wirtschaften war machbar, mit einer passablen Lebensqualität und ohne Verzicht auf kulturelle Errungenschaften.

In gewisser Weise war dies ein merkwürdiges Ergebnis. Ist der heutige verschwenderische Ressourcenverbrauch der Industrieländer nur ein Ergebnis von Gedankenlosigkeit und schlechter Technik?

Kein Job für Robin Hood

Die AutorInnen von Sustainable Netherlands waren sich im klaren, daß der von ihnen skizzierte Umbau drastische Folgen für eine ganze Reihe von Wirtschaftszweigen hätte. Das Agrobusiness und die Nahrungsmittelindustrie würden massiv schrumpfen; ebenso der Transportsektor, die Auto-, chemische, Elektro- und Metallindustrie. Andererseits würde der gesamte Reparatursektor einschließlich Handwerk einen Aufschwung nehmen. Die Kreislaufwirtschaft würde ganz neue Industriezweige hervorbringen, die mit Recycling oder mit der Entwicklung leicht wiederverwertbarer Geräte beschäftigt wären. Die Energiewirtschaft würde sich auf dauerhafte Energiequellen und Energieberatung verlegen können. Keineswegs wäre gesagt, daß sich mit dauerhaften (und natürlich teureren) Produkten nicht ebensogut Geld verdienen läßt – bei sinkendem Umsatz, aber höheren Profitraten.

Die sozialen Konsequenzen ließen die AutorInnen bewußt offen. Auch in den nachhaltigen Niederlanden würde es Arme und Reiche geben. Die Reichen würden sich mehr Konsumgüter, Energieverbrauch und Autokilometer kaufen können. Andere würden für sie mitsparen. Die nachhaltigen Niederlande könnten sehr wohl frauen- und ausländerdiskriminierend sein, mit viel unbezahlter Frauenarbeit und viel schmutziger Industrie- und Landarbeit für Schlechtqualifizierte und MigrantInnen. Da waren die AutorInnen ehrlich: Mehr soziale Gerechtigkeit läßt sich aus Ökologie nicht ableiten.

Sie ließen auch offen, mit welchen Instrumenten ihr Konzept durchzusetzen sei. Kreislaufwirtschaft, Energiesparmaßnahmen, Umstellung der Landwirtschaft lassen sich noch einigermaßen im Rahmen traditioneller Gesetzgebung durchsetzen. Darüber hinaus wären allerdings weitere staatliche Kompetenzen erforderlich, die über das heute Mögliche weit hinaus gehen. Die Niederlande müßten praktisch aus der EU und dem Freihandelsabkommen GATT austreten. Die Kontrolle der einheimischen Wirtschaft müßte sehr eng sein.

Verweisen wir das nicht vorschnell ins Reich des Unmöglichen. Auch der Sozialstaat hat den Kapitalismus tiefgreifend verändert, ohne ihn abzuschaffen. Wir können nicht ausschließen, daß wir Ähnliches tatsächlich erleben werden.

Die Rechnung ohne den Wirt gemacht

Und dennoch wären die nachhaltigen Niederlande nicht nachhaltig. Sie wären weiterhin Heimat von internationalen Konzernen, deren weltweite Operationen den globalen Umweltraum verwüsten, ohne in der nationalen Stoffstrombilanz überhaupt aufzutauchen. Sie wären auch weiter Teil eines militärischen und wirtschaftlichen Bündnissystems, das den Zustrom strategischer Rohstoffe und billiger Arbeit mit Mitteln der Intervention und des Wirtschaftskriegs sichert, die alles andere als nachhaltig sind. Die niederländische Gesellschaft hätte, gestützt auf ein paar Jahrhunderte internationaler Ausbeutung und den daraus erwachsenen Vorsprung an Technologie und Akkumulation, ihr Schäfchen ins Trockene gebracht. Sie würde die eigene Bedrohung durch Treibhauseffekt, Ozonloch und Rohstoffknappheit in den Griff bekommen und ihre Rolle in der internationalen Arbeitsteilung künftig nicht mehr über verschwenderische Stoff- und Energieströme absichern, sondern über technologische Dominanz und eine „entmaterialisierte“ Vorherrschaft.

Dies ist kein zusätzlicher Aspekt. Die nachhaltigen Niederlande kontrollieren zwar ihren Eigenverbrauch an globaler Natur, sie bauen aber nach wie vor auf dem Zustrom billiger internationaler Arbeit. Ihre intelligente, schlanke Produktionsweise würde mit Computern arbeiten, die in Zwölfstundentagen in Fernost für ein paar Gulden zusammengeschraubt werden – auch wenn das Material aus niederländischem Recycling stammt. Die ökologisch rationalisierte Landwirtschaft und Konsumgüterindustrie der Niederlande würde mit Maschinen und Treibstoffen betrieben, deren Herstellung bzw. Förderung auf Niedriglöhnen woanders beruht. Andernfalls würde die in den Niederlanden zur Verfügung stehende Arbeitskraft kaum für beides reichen: für die Erarbeitung einer ökologisch verantwortlichen Selbstversorgung und für die Aufrechterhaltung des Militärs, der High-Tech-Entwicklung, der Exportindustrie (Informations- und Biotechnik), der Dienstleisungsapparate für die internationalen Kontrollagenturen.

An Sustainable Netherlands wurde oft kritisiert, es sei nicht möglich. Das geht am Kern vorbei. Sicher wäre eine grundlegende Ausdehnung staatlicher Regulierung und Wirtschaftskontrolle notwendig. Aber das ist denkbar. Zweifellos wären die nachhaltigen Niederlande noch kein ökologisches Paradies. Aber gegenüber der heutigen Situation wäre die Veränderung massiv und ein Grund zum Aufatmen.

Hunger ist bohrender als Zukunftsangst

Das Unheimliche der nachhaltigen Zukunft liegt gerade in ihrer Möglichkeit – und in der Frage: wer atmet denn auf? Die Antwort ist einfach: die NiederländerInnen. Jedenfalls die Ober- und Mittelschicht, mit Ausnahme derer, die mit den abzuspeckenden Altindustrien verbunden sind. Für den Rest ist das Hemd näher als der Rock, sind Enteignung, Vergiftung, Vertreibung, Unterdrückung und Hunger von weit direkterer Bedeutung als Treibhauseffekt und Ozonloch. Für manche ihrer Probleme könnte der nachhaltige Norden etwas Entspannung bringen, etwa durch den verringerten Flächenverbrauch für den nördlichen Konsum. Am zerstörerischen Zugriff auf Umwelt, Leben und Arbeit würde sich aber nichts Prinzipielles ändern. Und in gewisser Weise gilt dies auch, wie wir noch sehen werden, für die Bevölkerung des Nordens selbst – für uns.

Es geht nicht nur um Natur, sondern auch um Arbeit. Es geht nicht nur um Verbrauch, sondern auch um Vorherrschaft. Die entscheidenden Weichenstellungen für die ökologische Zukunft fallen in diesem Bereich. Hier verzweigen sich die Wege zwischen der Systemabsicherung durch ökologische Modernisierung und einer tatsächlichen Veränderung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse.

Sustainable Netherlands ist ein Gedankenexperiment, das uns zum Kern der Sache führt, das die Größenordnung der ökologischen Krise vorstellbar macht und mit der Ausrede aufräumt, die Industriestaaten seien zur Untätigkeit verdammt. Die geringe Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtfragen und möglichen Trägern ökologischer Reformen hat sich dahingehend gerächt, daß der angestrebte breite Diskussionsprozeß in den Niederlanden weitgehend versandet ist. Trotzdem hat Sustainable Netherlands die Diskussion verändert, gerade auch wegen seiner Ambivalenz und relativen Ehrlichkeit.

Aber Brunei hört nicht auf, nur weil der Sultan Vegetarier wird.

Christoph Spehr

Asit Datta: Welthandel und Welthunger, München 1984.

Milieudefensie: Sustainable Netherlands – Aktionsplan für eine nachhaltige Entwicklung der Niederlande; Hrsg. Institut für sozial-ökologische Forschung, Frankfurt/Main 1993.

Lydia Potts: Weltmarkt für Arbeitskraft, Hamburg 1988.

Gekürzt und bearbeitet aus „Die Ökofalle“ (Promedia , Wien 1996).
Wir danken für die freundliche Genehmigung.


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