Aus DER RABE RALF Juli/August 1995
Obwohl in unserer Industriegesellschaft seit weit über 100 Jahren in vielen Bereichen ein exponentielles Wachstum zu beobachten ist – z.B. Zunahme der Geldmenge, Produktion von Konsumgütern, Verbrauch nichterneuerbarer Ressourcen, Freisetzung von CO2, Verschuldung des Staates usw. – ist in der Vorstellung der meisten Menschen derartiges Wachstum ein linearer Prozeß.
Wie extrem sich jedoch ein lineares Wachstum von exponentiellem Wachstum unterscheidet, wird schlagartig anhand des folgenden Beispiels deutlich:
Wenn ein Kind seine Spargroschen in ein Sparschwein steckt und jährlich 10 DM zusammenbekommt, so wächst das Guthaben in 10 Jahren linear auf 100,- DM an. Wenn es jedoch als Jugendlicher die 100,- DM zu 7% Zinsen auf der Bank anlegt, so verdoppelt sich das Geld alle 10 Jahre. Bedingt durch dieses exponentielle Wachstum steigt das Guthaben in 50 Jahren auf 1.600 DM!
In einem begrenzten Ökosystem wie der Erde ist ein dauerhaftes exponentielles Wachstum nicht möglich. Noch aber scheinen sich Politik und Wirtschaft zu weigern, dies anzuerkennen und sich darauf einzustellen.
Drei Arten von Wachstum
Wachstumsvorgänge können mit abnehmender, gleichbleibender oder zunehmender Geschwindigkeit ablaufen. Daher lassen sich – vereinfacht dargestellt – drei Arten von Wachstum unterscheiden: natürliches, lineares und exponentielles Wachstum.
Die meisten Wachstumsvorgänge in der Natur verlaufen nach einem einheitlichen Schema: Das anfänglich sehr schnelle Wachstum verlangsamt sich immer mehr, bis letztlich ein bestimmtes Ziel erreicht ist. Besonders anschaulich hierfür ist das Heranwachsen eines Menschen von der befruchteten Eizelle bis zum Erwachsenen. Am Anfang steht ein nahezu explosiver Wachstumsschub im Mutterleib. Während in den ersten Babyjahren die jährlichen Zuwachsraten noch ganz beträchtlich sind, lassen sie von Jahr zu Jahr nach, bis sie im Alter von 18 bis 20 zum Stillstand kommen.
Völlig anders als das natürliche Wachstum vollzieht sich lineares Wachstum. Veranschaulicht man sich die Konsequenzen eines dauerhaft linearen Wachstums durch die Vorstellung eines Hörsaales, in den pro Sekunde ein Zuhörer den Raum betritt (um z.B. einen Vortrag über die Grenzen des Wachstums zu hören), so wird leicht vorstellbar, wie schnell bei einem großen Andrang die Raumkapazität vollständig erschöpft sein kann.
Exponentielles Wachstum in der Natur…
Das exponentielle Wachstum hingegen ist durch fortwährende Verdopplungen in gleichbleibenden Zeitabständen charakterisiert. Dieser Prozeß erscheint anfänglich recht harmlos, ehe eine explosionsartige Zunahme erfolgt. Da alle lebenden Systeme – vom Virus über die Bakterien bis hin zu den Pflanzen und Tieren – mehr Nachkommen produzieren können als sterben und als sich selbst reproduzierende Systeme zur exponentiellen Vermehrung fähig sind, ist die Natur voll von derartigen „Zeitbomben“. Allerdings verhindert der Konkurrenzkampf um die begrenzt verfügbaren Ressourcen eine dauerhaft exponentielle Zunahme von Populationen. Dennoch gibt es auch in der Natur ein – zeitlich begrenztes – exponentielles Wachstum, das zu Katastrophen führen kann. Ein Beispiel ist die Entwicklung von Krebs. Bedingt durch zufällige Mutationen, zeigen ursprünglich „normale“ Körperzellen quasi einen Rückfall in „archaische Zustände“, indem sie zu einer unbegrenzten Vermehrung fähig werden. Sie wachsen oft über Jahre oder Jahrzehnte vor sich hin, ohne den Gesamtorganismus vorerst ernstlich zu gefährden, bis jedoch eine kritische Größe erreicht ist und dem beständigen Wachstum der Tod folgt. Auch das Wachstum der Erdbevölkerung [und vor allem das des Verbrauchs in den Industrieländern; d.R.] verläuft gegenwärtig noch nach diesem „tödlichen“ Verdopplungskonzept, wobei sich die Zeiten bis zur jeweils nächsten Verdopplung sogar noch verkürzen. Vieles spricht dafür, daß mit diesem überexponentiellen Wachstum die kritische Grenze bald erreicht und überschritten sein wird. Wenn es nicht gelingt, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, wächst die Gefahr einer Selbstzerstörung.
…und in der Wirtschaft
Viele Prozesse in unser Industriegesellschaft verlaufen derzeit exponentiell. Der Glaube an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum ist ein Fundament unseres Denkens, obwohl die Grenzen des Wachstums immer deutlicher werden. Die Brüchigkeit dieses Fundaments wird immer mehr offenbar, wenngleich der Glaube an ein „stabiles Wachstum“ (d.h. an ein dauerhaftes, also unbegrenztes Wachstum) bei den meisten „Entscheidungsträgern“ noch nicht erschüttert scheint.
In der Wirtschaftsentwicklung ist, bedingt durch das exponentielle Wirtschaftswachstum, ein historischer Wendepunkt erreicht: In der Vergangenheit war das von Menschen produzierte Kapital der begrenzende Faktor der Wirtschaftsentwicklung. Inzwischen ist jedoch das noch „verbliebene“ sogenannte natürliche Kapital (Rohstoffe, Wasser, Boden, Luft, Artenvielfalt) zum limitierenden Faktor geworden.
Dieser Übergang von einer von Menschen und dem von ihnen produzierten Kapital relativ leeren Welt zu einer von Menschen und anthropogenem Kapital relativ vollen Welt ist von den meisten Wirtschaftswissenschaftlern schlichtweg noch nicht wahrgenommen worden. Ein entscheidender Grund hierfür liegt in der trügerischen Beschleunigung des exponentiellen Wachstums. Setzt man eine mehr oder weniger konstante Wachstumsrate voraus, so wandelt sich letztlich in nur einer Verdopplungsperiode die Welt von einer „halb vollen“ zu einer „vollen“ Welt. (Der gleiche Zeitraum war anfangs nötig, um aus einer „zu einem Prozent vollen“ eine „zu 2 Prozent volle“ Welt werden zu lassen).
Immer dringender werden die Fragen:
Wie weit lassen sich die Grenzen des Wachstums noch ausdehnen? Wodurch ist der offensichtliche Wachstumszwang des heutigen Weltwirtschaftssystem bedingt? Läßt sich Wirtschaftswachstum mit nachhaltiger Entwicklung vereinbaren, das heißt, kann es ein nachhaltiges Wachstum überhaupt geben?
Reinhard Piechocki
Der Autor ist promovierter Mikrobiologe und arbeitet an der Naturschutzakademie Vilm.