Aus DER RABE RALF Juni 1995
Das Wort „Wachstum“ gehört zu den Begriffen unserer Alltagssprache, mit denen sich scheinbar von Natur aus die Vorstellung von etwas Gutem, Wertvollem, Lebensbejahendem und daher Anzustrebendem verbindet. Wie wohltuend klingt in unseren Ohren die Assoziation „Wachsen und Gedeihen“, und wie bedrohlich wirkt das Gegenteil, “ Schrumpfen und Vergehen“.
Für die Menschen war in der Vergangenheit der Begriff vom Wachstum jedoch immer untrennbar verbunden mit der Vorstellung von einem anzustrebenden Ziel, d.h. von einer naturgegebenen Begrenzung, die nicht überschritten werden darf, soll das Wachstum nicht zur Bedrohung oder gar Katastrophe werden.
Diese natürliche und ursprüngliche Angst vor unbegrenztem und zerstörendem Wachstum scheint uns Menschen der „zivilisierten Welt“ abhanden gekommen zu sein.
Wachstum – unser Leitbild
Wachstum ist zur Leitvorstellung für unser Wirtschaftsleben und letztlich zu einem Wert an sich, zu einem höchsten Gut und zu einem uneingeschränkt zu bejahenden Selbstzweck geworden.
So hat in der Politik offensichtlich immer nur der eine Chance auf den Sieg, der am glaubwürdigsten für die kommende Legislaturperiode weiteres Wachstum um jährlich einige Prozent verspricht. Was sollte daran verwerflich sein? Keine Ansicht über unser Wirtschaftssystem ist doch verbreiteter als die Überzeugung: Ohne Wachstum kein Abbau der Arbeitslosigkeit, ohne Wachstum kein Geld für den Umweltschutz, ohne Wachstum keine Mittel für den Kampf gegen Armut und Hunger.
Wenn aber von prozentualem Wachstum die Rede ist, so haben die meisten Menschen die falsche Vorstellung von einem linearen Prozeß, als würde eine Größe in gleichen Zeitabständen um den gleichen Betrag zunehmen. Beim prozentualen, d.h. exponentiellen Wachstum wird dagegen eine Größe in bestimmten Zeitabständen immer wieder verdoppelt.
Exponentiell vermehrt sich seit mehreren Jahrhunderten die Weltbevölkerung. Exponentiell hat die weltweite Gesamtproduktion der Industrie in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Mit den ständig zunehmenden Verbrauch an Ressourcen ging auch die steigende Belastung der Umwelt mit Schadstoffen einher, wie die exponentielle Zunahme der Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre seit mehr als einhundert Jahren zeigt. Die Erde ist jedoch ein begrenztes Ökosystem, das ein unbegrenztes Wachstum an Menschen, Industrieprodukten oder Schadstoffen nicht verkraftet.
Das Konzept der „Nachhaltigkeit“, das seit der Umweltkonferenz von Rio 1992 weltweit diskutiert wird, soll den Ausweg aus der Misere weisen.
Nachhaltigkeit – Leitbild der Zukunft
Der Begriff „Sustainability“ läßt sich im Deutschen am treffendsten wiedergeben mit dem Begriff „Aufrechterhaltbarkeit“, obgleich sich hierzulande aus historischen Gründen der deutsche Begriff „Nachhaltigkeit“ durchgesetzt hat. Als „nachhaltig“ im Sinne von dauerhaft aufrechterhaltbar wird der Zustand eines (biologischen oder wirtschaftlichen) Systems bezeichnet, das im Rahmen der gegebenen Umwelt unbegrenzt existenzfähig bleibt. Menschliches Handeln wird daher dann als nachhaltig bezeichnet, wenn es praktisch unbegrenzt und ohne Schaden für die Natur fortgesetzt werden kann.
Das aus dem Englischen stammende Wort „sustainable“ ist anfänglich – je nach Willkür der Übersetzer – im Deutschen mit „naturverträglich“, „naturerhaltend“, „natürlich“, „dauerhaft“, „langfristig durchhaltbar“, „aufrechterhaltbar“, „zukunftssicher“, „tragfähig“ oder eben auch „nachhaltig“ wiedergegeben worden.
In der stark anwachsenden Zahl an Veröffentlichungen über den notwendigen Umbau unseres Gesellschaftssystems nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit ist es zu einer geradezu beängstigenden Ansammlung von Definitionen über das gekommen, was unter „nachhaltiger Entwicklung“ zu verstehen sei. In einer vor zwei Jahren veröffentlichen englischen Studie wurden in der internationalen Literatur über 70 unterschiedliche Definition festgestellt. Dieser ungenaue Umgang mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ birgt die Gefahr, daß dieser zur unverbindlichen Leerformel verkommt. Man spricht inzwischen nicht nur über „Nachhaltigkeit“ und „nachhaltige Nutzung“ sondern auch von „nachhaltiger Gesellschaft“ und „nachhaltigem Wachstum“ und suggeriert damit, dies alles sei im Grunde dasselbe.
Unsere gegenwärtig praktizierte Wirtschafts- und Lebensweise ist nicht nachhaltig, weil wir die begrenzt verfügbaren Ressourcen (z.B. Kohle, Erdöl, Bodenschätze) verschwenden und die erneuerbaren Ressourcen (Wasser, Boden, Luft, Artenvielfalt) über Gebühr nutzen und mißbrauchen, so daß letztlich die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört werden. Unsere Zivilisation ist gefährdet, weil wir die Erde an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben haben.
Das Prinzip der „Nachhaltigkeit“ als notwendige Leitvorstellung für wirtschaftliche Entwicklung ist erstmalig 1987 von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung im sogenannten Brundtland-Bericht formuliert wurden. Allerdings ist dort mehr als eine Begriffsbestimmung zu finden. Am häufigsten wird die folgende Definition zitiert: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Chancen künftiger Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können, aufs Spiel zu setzen“.
Diese Begriffsdefinition von Nachhaltigkeit wird heute gern und nahezu beliebig auf alle Entwicklungen angewandt, die irgendwie als umweltfreundlich eingestuft werden. Die Brundtland-Definition beschreibt Nachhaltigkeit als eine
allgemein ethische Zielsetzung. Aber aus einer derart allgemeinen Forderung lassen sich noch keine faßbaren Postulate ableiten. Dies wird erst möglich, wenn man die Ökosysteme und ihre Funktionsweise berücksichtigt.
Der Wirtschaftsexperte Hermann Daly hat dies versucht. Er formulierte drei Postulate für Nachhaltigkeit bezüglich der materiellen Durchsatzmengen und den Energiedurchsatz:
- Postulat für erneuerbare Ressourcen: Die Nutzungsrate erneuerbarer Ressourcen darf deren Erneuerungsrate nicht überschreiten.
- Postulat für Abfälle und Emissionen: Die Rate der Schadstoffemission darf die Kapazität zur Schadstoffaufnahme der Umwelt nicht übersteigen.
- Postulat für nicht erneuerbare Ressourcen: Die Nutzungsrate sich erschöpfender Rohstoffe darf die Rate des Aufbaus sich regenerierender Rohstoffquellen nicht übersteigen.
Begibt man sich mit diesen Definitionen und Postulaten von Nachhaltigkeit auf die „wirklich“ ökonomische Ebene, dann wird eine bisher unüberbrückbare Diskrepanz deutlich:
Bisher läßt sich das Konzept der Nachhaltigkeit mit der Logik der Wirtschaft nicht vereinbaren. Wirtschaft ist auf Gewinn, d.h. auf die Maximierung von in Geld gemessenen Größen aus. Bisher ist der Wert für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen nicht meßbar, weil den komplexen „Leistungen“ der Umwelt kein sinnvoller Preis zugeordnet werden kann.
Spricht man heute in der Wirtschaft von Nachhaltigkeit, so bewegt man sich auf einer rein ökologisch-ethischen Ebene. Der ökologisch-ethische Nachhaltigkeitsbegriff ist eine ökonomische Leerformel geblieben. Dies mag einer der Gründe dafür sein, daß so lax und sogar verfälschend mit Begriffen umgegangen wird – z.B. mit der Wortschöpfung „nachhaltiges Wachstum“.
„Nachhaltiges Wachstum“?
Das aus dem Griechischen stammende Wort Oxymoron läßt sich im Deutschen wörtlich übersetzen mit „das Scharfdumme“. Damit ist die unsinnige Zusammenstellung zweier sich völlig widersprechender Begriffe gemeint. Auf den ersten Blick erkennt man nicht sofort, warum es sich bei dem Begriff vom „nachhaltigen Wachstum“ um ein solches Oxymoron handelt.
Hierbei wird vergessen oder verdrängt, daß es ein dauerhaftes Wachstum in einem begrenzten Ökosystem nicht geben kann. Nachhaltigkeit (im Sinne von ewigwährend) und Wachstum schließen sich daher aus.
Auch der Brundtland-Bericht, der so entscheidend zur Formulierung des Konzeptes der Nachhaltigkeit beigetragen hat, sagt, daß zur Deckung von Grundbedürfnissen eine neue Periode wirtschaftlichen Wachstums für Nationen erforderlich ist, in denen die Mehrheit der Bevölkerung arm ist. Der Brundtland-Bericht geht 1987 von einer 5-10fachen Zunahme der weltweiten Industrieproduktion aus. Zwei Jahre später wird diese Forderung eines langfristig tragfähigen Wachstums durch den Generalsekretär der Brundtland-Kommission aufs neue betont: Eine „5fache bis 10fache Steigerung wirtschaftlicher Aktivität in den nächsten 50 Jahren“ würde erforderlich sein, um zu einer langfristigen Tragfähigkeit zu gelangen. Dem steht jedoch die Tatsache entgegen, daß das Teilsystem Wirtschaft im Verhältnis zum globalen Ökosystem, von dem es unumkehrbar abhängt, inzwischen so groß geworden ist, daß die Erneuerungs- und Anpassungsfähigkeit des Ökosystems weit überdehnt worden ist und daher das vom Brundtland-Bericht geforderte Wachstum die Tragfähigkeit des natürlichen Ökosystems auf eine lebensgefährliche Weise überziehen würde. Im Brundtland-Bericht sind vier notwendige Bedingungen für das Erreichen einer nachhaltigen Entwicklung formuliert worden. Drei davon sind völlig einsichtig, nämlich:
- mit weniger mehr produzieren (z.B. durch Effizienzsteigerung und technologische Verbesserung sowie Recycling);
- Verlangsamung des Bevölkerungswachstums;
- Umverteilung des Überkonsums zugunsten der Armen.
Im Gegensatz zu diesen drei präzisen Forderungen ist die 4. notwendige Bedingung sehr unscharf gelassen worden, nämlich die Forderung nach wirtschaftlichem Wachstum. Ohne jeden Zweifel erfordert die Erfüllung der Grundbedürfnisse in den armen Ländern ein quantitatives Wachstum. Um so notwendiger ist daher eine Wachstumsbeschränkung in den reichen Ländern. Tinbergen und Hueting (1992) beschreiben die Situation am radikalsten: Es darf kein weiteres Produktionswachstum in den reichen Ländern geben, will man zu einer nachhaltigen Entwicklung kommen, um die fundamentalen Ziele zu erreichen: Abbau der Armut und Aufhalten der Zerstörung der für das irdische Leben entscheidenden Ökosysteme.
Reinhard Piechocki
Der Autor ist promovierter Mikrobiologe und arbeitet an der Naturschutzakademie Vilm.