Rezensionen

Aus DER RABE RALF Oktober/November 2023, Seiten 22/23, 26/27

Bürgerräte reichen nicht

War Karl Marx ein verhinderter Ökologe? Ja, sagt Kohei Saito, aber so einfach ist es nicht

In Japan verkaufte sich ein Buch, das einen ökologischen Kommunismus als Zukunftsprojekt propagiert, über eine halbe Million Mal. Auch in den europäischen Städten sind die Versammlungsräume überfüllt, wenn der japanische Philosophieprofessor Kohei Saito seinen in viele Sprachen übersetzten Bestseller vorstellt: „Systemsturz: Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“. Als der auch zeitweise an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Saito Anfang September das Buch in Berlin vorstellte, waren die Plätze schnell ausgebucht. Tausende verfolgten die Ausführungen des Autors digital. Darunter viele aus der Klimabewegung, die bisher Karl Marx und seine Theorien vielleicht eher mit einem umweltschädlichen Produktivismus als mit ökologischen Perspektiven in Verbindung gebracht haben.

Ökonomie und Naturwissenschaften

Ganz falsch, sagt Kohei Saito. In Wirklichkeit sei Marx ein Degrowth-Kommunist. Dem vor 140 Jahren verstorbenen Theoretiker sei es nicht um fortgesetztes Wachstum gegangen, sondern um das Gegenteil davon. Dabei stützt sich Saito auf die schon längere bekannte Tatsache, dass Marx, nachdem der erste Band seines Hauptwerks „Das Kapital“ veröffentlicht war, sich wieder in die Bibliothek begab und dort auch zahlreiche zeitgenössische Schriften von Naturwissenschaftlern gelesen hat. Vor allem mit den Schriften des Chemikers Justus von Liebig beschäftigte sich Marx sehr viel, wie aus den schriftlichen Aufzeichnungen hervorgeht, die er sich bei der Lektüre machte. Aus diesen Exzerpten zitiert Kohei Saito in dem Buch ausführlich.

Weniger bekannt ist, dass auch der Biologe Carl Nikolaus Fraas, ein Zeitgenosse von Marx, von diesem ausgiebig gelesen wurde. Saito vertritt die These, dass sich der späte Marx durch diese Lektüre eine ökologische Perspektive verschaffte, die es ihm unmöglich gemacht habe, die weiteren „Kapital“-Bände in der geplanten Form zu veröffentlichen. Doch bevor er die neuen Erkenntnisse in sein Werk einbauen konnte, sei er gestorben. Friedrich Engels habe die ökologische Wende seines Freundes und Mitstreiters Marx ignoriert, als er dann den zweiten und vor allem den dritten Band des „Kapitals“ zusammenstellte. Deshalb sei Marx heute als Freund der größtmöglichen Entwicklung der Produktivkräfte bekannt und nicht als Degrowth-Kommunist, als den ihn Saito uns nun vorstellt.

Mehrmals erwähnt Saito, dass er der erste sei, der Marx dieses Etikett verpasst habe. Hier wird man den Eindruck nicht los, dass sich der Autor – mit Marx im Hintergrund – besonders in den Mittelpunkt stellt. Dem Buchverkauf ist das auf jeden Fall förderlich. Was aber auch positiv gesehen werden kann, denn die Lektüre führt auch dazu, dass sich vor allem jüngere KlimaaktivistInnen gründlicher mit Marx beschäftigten, die vorher wenig mit ihm anfangen konnten. Sie sollten auf jeden Fall nicht versäumen, auch die Texte von Marx zu lesen, die Kohei Saito kritisiert oder verwirft. Dann können sie selbst nachvollziehen, ob Marx nun zum Wachstumskritiker wurde oder ob das nur eine steile, unbegründete These ist.

Industrialisierung ist Voraussetzung

Richtig und auch schon länger bekannt ist auf jeden Fall, dass Marx sich im letzten Lebensabschnitt mit Fragen von Natur und Umwelt intensiv befasst hat. Dass er aber bereits zu Antworten gekommen sein soll, die – wie der Degrowth-Kommunismus – erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, muss doch bezweifelt werden. Hier geht der Autor – wenig wissenschaftlich – davon aus, dass Modelle, die als Ausweg für eine hoch entwickelte Industriegesellschaft diskutiert werden, schon im Frühkapitalismus ihre Bedeutung gehabt haben sollen. Welche Wirtschaft sollte aber in einer Zeit geschrumpft werden, als der Kapitalismus noch in den Anfängen stand? Und welche Bedeutung hätten solche Degrowth-Konzepte in der frühen Sowjetunion haben können, wo die Industrialisierung auch ein wichtiger Schritt aus der Verarmung war?

Kohei Saito zitiert berechtigterweise den Brief von Marx an die russische Sozialrevolutionärin Wera Sassulitsch, in der er klarstellte, dass die russische Mir, eine Art Dorfgemeinschaft, auf dem Weg zum Sozialismus eine wichtige Rolle spielen könnte. Das bedeutet aber nicht, dass auf die gesamte Industrialisierung hätte verzichtet werden können. Eine rein agrarische Gesellschaft wäre aus einer bloßen Subsistenzwirtschaft wohl nicht herausgekommen. Erst in einer Gesellschaft, in der die unmittelbaren Grundbedürfnisse befriedigt sind, kann sinnvoll über einen Degrowth-Weg diskutiert werden. 

Gute Analyse, viele Ideen, keine Strategie

Ein großer Pluspunkt von Kohei Saito ist, dass er seine Thesen, anders als Karl Marx, in einer leicht verständlichen Sprache erläutert. Das Buch kann auch gut von Menschen gelesen werden, die noch nie einen Marx-Text durchgearbeitet haben.

Saito begründet auch sehr gut, warum es keinen grünen Kapitalismus geben kann. Seine Kritik am sogenannten Akzelerationismus, der linken Technikbegeisterung, ist ebenfalls sehr gelungen.

Das Problem des Buches liegt darin, dass die konkreten Schritte beim Weg aus dem Kapitalismus, wie sie im letzten Teil beschrieben werden, sehr beliebig wirken. Saito begründet nicht, was seine Forderungen nach Bürgerräten, wie in Irland oder Frankreich praktiziert, oder die Ausrufung des Klimanotstands in Barcelona mit der von ihm angestrebten Gesellschaft zu tun haben sollen. Das spricht natürlich überhaupt nicht gegen diese Forderungen. Sie könnten Übergangsforderungen sein, durch die größere Bevölkerungsteile merken, dass der Kapitalismus keine Lösung ist, auch kein grüner und „regulierter“ Kapitalismus. Doch was im Buch fehlt, ist eine Strategie und Taktik, um zu verhindern, dass die Bürgerräte, wie in Frankreich geschehen, einfach ignoriert werden oder dass das im Buch hoch gelobte Modell Barcelona nach dem nächsten Wahlerfolg konservativer Parteien wieder abgewickelt wird. Es gibt eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der im vorderen Teil des Buches begründeten Möglichkeit für eine ganz andere Gesellschaft und den reformerischen Vorschlägen im hinteren Teil.

Breite Organisierung nicht vorgesehen

Ein Schwachpunkt ist auch, dass die Lohnabhängigen im Buch nur eine untergeordnete Rolle spielen. Zwar finden sich in Saitos „fünf Säulen des Degrowth-Kommunismus“ sinnvolle Forderungen nach Verkürzung der Arbeitszeit, demokratischer Kontrolle des Produktionsprozesses im Betrieb und einer Gebrauchswertwirtschaft, die sich an den Grundbedürfnissen der Menschen orientiert. Doch wie sich die Lohnabhängigen organisieren können, um diese Forderungen durchzusetzen, die ja mit Sicherheit auf starke Gegenwehr stoßen werden, liest man nirgends.

Vielleicht liegt das auch daran, dass sich Saito mehrmals positiv auf den Ökosozialisten André Gorz bezieht, der in den 1970er Jahren mit dem Bestseller „Abschied vom Proletariat“ bekannt wurde und auch bei den frühen Grünen viel Beachtung fand. Doch ein Degrowth-Kommunismus müsste gerade nicht Abschied vom Proletariat nehmen, sondern im Gegenteil eine transnationale Organisierung der ArbeiterInnen propagieren. Davon liest man bei Saito ebenso wenig wie darüber, wie man mit den militanten Verteidigern des Kapitalismus im Allgemeinen und der fossilen Produktionsweise im Besonderen umgehen soll.

Dennoch bietet das Buch die Chance, dass sich viele junge Menschen gerade aus der Klimabewegung mit Marx und seinen Ideen beschäftigten. Wie der Weg in die Zukunft aussieht, wird dann von ihnen in den konkreten Kämpfen zu entscheiden sein.

Peter Nowak

Kohei Saito: Systemsturz
Der Sieg der Natur über den Kapitalismus
Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig
DTV, München 2023
320 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-423-28369-4


„Ein toter Bär ist ein toter Bär“

Wie deklarierter Schutz zu legalisierter Wilderei wird

In unserer Zeit wird sehr viel über den Schutz der Natur, der Tiere und der Biodiversität gesprochen. Umweltstiftungen werden gegründet, Freiwillige nehmen an Naturschutzaktionen teil, Gesetze zum Schutz von Arten und Lebensräumen werden beschlossen. Gewöhnliche Menschen bekommen den Eindruck, dass der Natur wunderbar geholfen ist und kein Ökologieproblem mehr unbeachtet bleibt. Es gibt jedoch erstaunlich große Lücken bei diesem Schutz. Eine davon ist die Eisbärenjagd.

Eine Geschichte …

Wer das Buch „Eisbären, geliebt und verraten“ von Morten Jørgensen in die Hand nimmt, wird vermuten: Das ist entweder ein wissenschaftliches, sehr schwer lesbares Werk oder ein dramatischer Roman. Umso erstaunlicher ist das, was man vorfindet: Das Buch gehört in Teilen zu beiden Genres, jeweils das Beste davon nehmend. Es erzählt die spannende, dramatische Geschichte eines Verhältnisses zwischen Tier und Mensch, eine Geschichte von Liebe und Verrat.

Morten Jørgensen ist Reiseveranstalter, Expeditionsleiter, Dozent, Autor, Fotograf und Naturschützer. Er hat sich seit 25 Jahren auf Expeditionen mit kleinen Schiffen in den Polarregionen spezialisiert. Jørgensen setzt sich dafür ein, den Schutz der Eisbären zu verbessern, indem er die Öffentlichkeit über das Versagen des derzeitigen Managementsystems informiert, das die Art zum Aussterben bringt.

Das Buch hat acht Kapitel, eine Einleitung und einen Epilog. Jedes Kapitel belichtet ein besonderes Thema: Biologie der Eisbären, Bedrohungen für Eisbären, Jagd als die wichtigste Bedrohung, Manipulation mit Statistiken zu Eisbären-Populationen. Weitere Kapitel sind den Strategien von Anrainerstaaten, der Frage der Inuit-Identität sowie den Perspektiven und möglichen Lösungen gewidmet. Das auf jeder Doppelseite vorhandene Bild drückt das Geliebtsein aus, der Text auf der Seite daneben spricht dagegen vom Verratenwerden. Der Kontrast zwischen beidem ist der rote Faden des Buches. Eine Besonderheit ist, dass ungefähr die Hälfte der Fotos farbig und die andere Hälfte schwarz-weiß ist, was sehr beeindruckend den Wechsel von Polartag und Polarnacht kennzeichnet.

… von Liebe …

Seit mehreren Jahrtausenden war der Eisbär sehr beliebt und respektiert. In der Mythologie der Inuit spielt „Nanuq“, so das Inuktitut-Wort für Eisbär, eine bedeutende Rolle. Bis heute ziert der Eisbär das Wappen Grönlands und auch andere Wappen und Flaggen nordischer Städte und Regionen, wie Norilsk in Russland oder Hammerfest in Norwegen.

Die grönländischen Inuit nennen den Eisbären Angalatooq, großer Wanderer, wegen der extremen Distanzen, die die Tiere auf der Nahrungssuche zurücklegen, oft tausende Kilometer im Jahr. In der animistischen Tradition der Inuit wird der Eisbär aufgrund seiner Intelligenz, Kraft, Furchtlosigkeit und Ausdauer als das stärkste Totemtier verehrt. In Ostgrönland wird er auch Tornassuk genannt, Herr der helfenden Geister.

Auch in unserer Kultur sind Eisbären beliebt. In Literatur und Film, vor allem für Kinder, kommen immer wieder Eisbären vor. Die Beliebtheit von Fernsehsendungen und Fotobüchern über Eisbären ist seit Jahren ungebrochen. Und vor der Außenanlage mit den Eisbären im Zoo stehen immer Dutzende Besucher. Umso verstörender wirkt der Verrat.

… und Verrat

Mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Schusswaffen und der Kommerzialisierung der Jagd hat das Ausmaß der Eisbärenjagd enorm zugenommen. Schon in 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde klar, dass der Eisbär zu verschwinden droht. Es gab nur einen Grund dafür – die Jagd.

1956 erließ die Sowjetunion ein Verbot der Eisbärenjagd auf ihrem Gebiet. 1972 verabschiedeten die USA den „Marine Mammal Protection Act“, der nicht nur die Jagd auf Meeressäuger, sondern auch auf Eisbären untersagte. Ein Jahr später verbot Norwegen die Eisbärenjagd, außer zu „besonderen Zwecken“. Kanada jedoch ging einen ganz anderen Weg und erlaubte 1970 die Trophäenjagd. Zwischen 1973 und 1977 unterzeichneten alle diese Länder sowie Dänemark (für Grönland) ein Abkommen zum Schutz der Eisbären.

Trotzdem werden Eisbären weiter gejagt. Seit 1973 wurden jährlich fast tausend Eisbären absichtlich und größtenteils legal getötet, das sind fast drei Eisbären pro Tag. Nach den obengenannten „Schutzmaßnahmen“ stieg die Zahl der getöteten Eisbären wieder um etwa 30 Prozent an.

Der Verrat an den Eisbären vollzieht sich unterschiedlich von Land zu Land. In Russland und Norwegen ist die Eisbärenjagd weiterhin verboten, die USA und Grönland haben Quoten für eine „nachhaltige Jagd“ eingeführt. Gleichzeitig ist Norwegen einer der größten Importeure von Eisbärfellen und fördert damit die Eisbärenjagd. Auch Dänemark erlaubt die Einfuhr von Eisbärenkörperteilen. In Russland nehmen die Bestrebungen zu, die Eisbärenjagd wieder zu erlauben, unterstützt von parteiischen Wissenschaftlern aus den USA.

Für die allermeisten getöteten Eisbären ist jedoch Kanada verantwortlich. Als einziges der Länder hat Kanada die Jagd nicht eingeschränkt, sondern sogar eine auf Trophäenjagd basierende nationale Industrie aufgebaut. Das dazu geschaffene komplexe System bürokratischer Institutionen soll die Eisbärenjagd angeblich regulieren und kontrollieren. In Kanada gibt es eine lange Tradition der Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, die bereit sind, die geforderten Zahlen zu liefern. Die kommerzielle Jagd mithilfe verfälschter Daten ist das schlimmste, was den Eisbären angetan wird.

In Ländern, in denen die Eisbärenjagd erlaubt ist, wird sie sehr schlau begründet und legalisiert. Die Eisbären werden in 19 Teilpopulationen untergliedert, obwohl sie Tausende von Kilometern wandern und damit nur eine einzige Eisbärenpopulation bilden. Der Begriff „nachhaltige Jagd“ ist eine weitere Manipulation. Die Jagdquoten basieren auf unrealistischen Populationszahlen und Reproduktionsraten. Das erinnert an den Aphorismus, der Benjamin Disraeli zugeschrieben wurde: „Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken.“ Die Jagdquoten werden damit begründet, dass die Eisbärenjagd für die Inuit überlebensnotwendig sei. Deshalb wird ihnen hier ein besonderes Privileg zuerkannt. Dabei leben fast alle Inuit heute ein modernes Leben, kaufen im Lebensmittelhandel ein, wohnen in Häusern, nutzen das Internet. Eisbären sind für sie keine Nahrungsquelle. Die Eisbärenjagd ist rein kommerziell.

Die einzig mögliche Lösung

Sollte diese Geschichte keinen guten Ausgang haben, wäre sie eine Tragödie. Der Autor aber sieht sie optimistisch: Wenn wir die Eisbären retten wollen, ist das immer noch möglich. Dafür ist eine Reihe von wirksamen Schutzmaßnahmen nötig. Die wichtigste ist das vollständige Verbot der Eisbärenjagd und der Einfuhr von Eisbärfellen.

Auch jeder von uns kann etwas dafür tun: sich mit der Gesamtwirkung der von Menschen verursachten Bedrohungen auseinandersetzen, sich an Debatten beteiligen und vieles mehr. Wichtig ist auch zu verstehen, dass niemand das Privileg haben darf, Tiere einer bedrohten Art zu töten. Doch die wichtigste Botschaft des Buches ist: Lieben Sie die Natur und respektieren Sie sie, lassen Sie kein Aussterben von Tierarten zu! Denn: „Wenn sie einmal weg sind, sind sie weg.“

Maiia Davletkhanova

Morten Jørgensen:
Eisbären, geliebt und verraten
Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Glaubitz
Natur+Text, Rangsdorf 2023
208 Seiten, 24,90 Euro
ISBN 978-87-973965-2-0 


Meiningen erwandern

Ein Wanderführer für die thüringische Stadt und ihre Umgebung hält einige Überraschungen bereit

Thüringen ist seit geraumer Zeit vor allem für die dortige besonders extremistische AfD-Sektion in den Medien. Doch es gibt auch das andere, gerechte und weltoffene Thüringen mit einer langen freiheitlich-widerständischen Tradition – und mit einer wunderbaren Landschaft. Gerade die im Süden Thüringens gelegene Stadt Meiningen mit ihrer Umgebung wie Welkershausen und dem Weißbachtal – gut vier Stunden Bahnfahrt von Berlin entfernt – ist für Naturbegeisterte ein interessantes Ausflugsziel.

Der 2006 gegründete Wanderverein Bakuninhütte hat nun einen praktischen Wanderführer für Meiningen und sein Umland veröffentlicht. Das Büchlein beinhaltet 25 Wandertouren, mit Karten versehen und reichlich bebildert durch über 100 farbige Fotos, die zum Erkunden der Landschaft einladen. Zwei Touren führen auch an der Hütte selbst vorbei.

Friedrich Schiller und Ludwig Bechstein

Neben allgemeinen Angaben zu Schwierigkeitsgrad, Länge der Tour, Wegprofil und Markierungen am Weg gibt es auch Hinweise auf die anzutreffende Flora und Fauna, sodass botanisch Interessierte ebenso auf ihre Kosten kommen. Immer wieder zeigt sich aber auch eine ideengeschichtliche und politische Ebene, wenn man etwa liest, dass die Tour beim Turnerdenkmal am Hexenberg vorbeiführt, oder man sich auf die Spuren Friedrich Schillers oder Ludwig Bechsteins, des Sammlers von Volksmärchen und Sagen, begibt. Natürlich sind auch diverse Naturdenkmäler der Region aufgeführt. Die Beschreibungen der Touren sind im Schnitt vier Seiten lang – inklusive einzelner Alternativwege, sodass sich einige Wanderungen variieren lassen.

Besonders die fünfte Tour, der „Bechstein-Rundwanderweg“, der sich auch als Spaziergang eignet, und die achte Tour, die an der Bakuninhütte vorbeiführt, haben mir persönlich Lust auf einen Ausflug nach Meiningen gemacht.

Gut aufbereitet und schön gestaltet

Die in den 1920er Jahren errichtete Bakuninhütte – zu DDR-Zeiten kurzerhand in „Touristenstation August Bebel“ und zu Ehren eines kommunistischen Politikers und Naturschützers in „Karl-Kneschke-Hütte“ umbenannt – ist das einzige überlieferte Kulturdenkmal des deutschen Anarchosyndikalismus. Die Geschichte der Hütte ist mit Namen wie Erich Mühsam, Augustin Souchy und Fritz Scherer verbunden – und natürlich mit Michail Bakunin, dem Marx-Antipoden und Begründer des kollektivistischen Anarchismus. Die Initiative Wanderverein Bakuninhütte e.V. hat auch sehenswerte Ausstellungen über „Mühsam in Meiningen“ oder „Meininger Arbeiterfamilien auf utopischen Pfaden“ angefertigt, die ausgeliehen werden können.

Der Anhang der Broschüre widmet sich der Geschichte und Bedeutung der Hütte und dem mit ihr verbundenen Naturlehrpfad „Hohe Maas“. Ein Serviceteil mit wichtigen Adressen ergänzt den schön gestalteten Wanderführer.

Für wanderfreudige Menschen liegt hier ein gut aufbereiteter und ansprechender Führer für Meiningen vor. Zudem unterstützt man mit dem Kauf eine wichtige Initiative in Thüringen.

Maurice Schuhmann 

Wanderverein Bakuninhütte:
Wanderbares Meiningen
25 Touren rund um die Theaterstadt
Verlag Grünes Herz, Ilmenau 2023
136 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-86636-393-9
 

Weitere Informationen: www.bakuninhuette.de


Anarchy in Germany

Im „Anarchistischen Lesebuch“ begegnen uns aufmüpfige Vorfahren und Punks mit Backenbart

Gustav Heinemann war der wohl am wenigsten peinliche Bundespräsident der BRD. Legendär ist sein Ausspruch: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!“

Bei einer Rede 1970 sagte das machtlose Staatsoberhaupt: „Traditionen sind keineswegs das Privileg konservativer Kräfte. Noch weniger gehören sie in die alleinige Erbpacht von Reaktionären, obgleich diese am lautstärksten von ihnen reden.“

Ob Heinemann, der sich wie kein anderer bürgerlicher Politiker für die Wiederentdeckung der demokratischen Traditionen in Deutschland verdient gemacht hat, auch die libertär-anarchistische Geschichte des Landes zum nationalen Erbe gezählt hätte? Diese Tradition erreichte um das Revolutionsjahr 1848 einen frühen Höhepunkt und kann jetzt in Olaf Brieses wunderbarer Anthologie neu entdeckt werden.

Ehrbare Traditionen

Bis heute ist der Deutsche im Ausland als pflichtbewusst, diszipliniert und obrigkeitshörig bekannt. Bekannt ist ebenfalls, dass er es mit diesen Tugenden in seiner Geschichte mehrmals stark übertrieben hat. Die dadurch angerichteten Katastrophen haben auch hierzulande vergessen lassen, dass es bedeutende Ausnahmen gab.

Nehmen wir als Beispiel den 1. Mai. Dieser wurde zwar erst von den Nazis zum gesetzlichen Feiertag erklärt, geht aber auf den „Haymarket Riot“ zurück, einen mehrtägigen Arbeiteraufstand mit blutigem Ausgang, der am 1. Mai 1886 in Chicago begann. Fast alle damals verhafteten und zum Tod verurteilten „Anführer“ waren deutschstämmige Anarchisten. Ihrer wird jedes Jahr gedacht. Wenn der brave Bürgersmann und die brave Bürgersfrau also am 1. Mai der Arbeit fernbleiben dürfen, sollten sie ihr Glas zu Ehren der anarchistischen Altvorderen erheben.

Weit seltener wird einem Mann wie August Reinsdorf die Ehre des Gedenkens zuteil, jenem freiheitsbewegten Pulverkopf, dem es 1883 bei der Einweihung des Niederwalddenkmals am Rhein nicht gelang, die von oben verordnete deutsche Einheit mithilfe von Dynamit zu korrigieren. Anstelle von Kaiser und Fürsten musste er vorerst allein sein Leben lassen. Millionen sollten ihm aber, auf Wunsch des Vaterlandes, noch folgen.

Der deutsche Anarchismus war bei Weitem nicht nur eine Sache von Exilanten, auch beschränkte er sich keineswegs auf die von Reinsdorf praktizierte „Propaganda der Tat“. Olaf Briese hat volle zwei Bände mit Zeugnissen aus dem Revolutionsumfeld der Jahre 1848/49 füllen können. Allein der Textkorpus weist darauf hin, dass sowohl Reinsdorf als auch die Haymarket-Märtyrer aus einer reichen Tradition schöpfen konnten, die schon Jahrzehnte zurückreichte.

Konspiratives Treffen

Viele der hier versammelten Texte sind witzig und frech, rebellisch und aufmüpfig. Sie sprechen auch heute mit einer erstaunlichen Frische und Klarheit zu uns, in einem Deutsch, dass man von Georg Büchner oder aus dem Volkslied kennt. Philosophische Höhenflüge in verquasten Endlossätzen findet man wenig, dafür Gedanken und Sprüche, die, wie in einem guten Punksong, direkt in die Fresse gehen. Es ist, als wäre man unvermittelt bei einem Geheimtreffen der frühen deutschen Anarchisten dabei:

Später Abend im Wirtshaus. Es wurde bereits reichlich getrunken. Auf dem Tisch steht eine Öllampe. Draußen hört man Gendarmen patrouillieren. Emil Weller flüstert: „Schlimm genug, daß die Sklaverei noch dort herrscht, daß die Geldmänner noch mächtig sind. Auch die Bewohner freier Staaten sind nicht glücklich, weil sie die ganze Freiheit noch nicht erlangt, weil sie noch an Banden der Knechtschaft, des Geldes, leben, weil sie noch Herren und Dienende haben.“ Max Stirner fällt ihm ins Wort, vor Erregung rutscht ihm die Brille auf die Nasenspitze. Er proklamiert: „Der Mensch ist keine Treibhauspflanze, setzen wir ihn daher aus dem Treibhaus des Staates in die frische freie Natur; erst dann wird er sich frei und gesetzmäßig entwickeln können.“ Jetzt haut Louise Dittmar auf den Tisch und ruft: „Ich will! Das ist mein Ideal, meine Bestimmung, meine Berechtigung, meine Beglaubigung! Und je mehr ich begehre, um so mehr lebe ich, um so menschlicher bin ich, um so mehr bin ich berechtigt zu fordern.“ Plötzlich stehen alle auf und singen lauthals: „Emancipirt, emancipirt euch Alle! / Das ist der Weg, der Euch zum Himmel führt! / Wißt ihr es nicht, daß vor dem Sündenfalle / Die ganze Schöpfung war emancipirt?“ Das Lied dringt bis zur Straße. Gendarmen stürmen die Kneipe. Die Sänger sind verschwunden.

Inspirieren, motivieren, mobilisieren

Einmal angefangen, kann man gar nicht mehr aufhören, in Brieses Textsammlung zu blättern. Allerorts stößt man auf anregende Gedanken bekannter und völlig unbekannter Autoren. Der Teil, der sich der deutschen Proudhon-Rezeption widmet, ist besonders hervorzuheben, liegt hier doch ein bisher wenig erforschtes Zeugnis des deutsch-französischen Kulturkontaktes auf den Spuren des „Vaters des Anarchismus“ vor.

Der Herausgeber nennt sein Werk ein „Lesebuch“ und einen „Reader“, vielleicht wäre auch „Anthologie“ oder der etwas altbackene Begriff „Blütenlese“ eine passende Gattungsbezeichnung. Aber egal, wie man die Sammlung nennt, Briese hat eine hervorragende Auswahl getroffen und die einzelnen Texte nach klug ausgewählten Stichworten sortiert. Ein ganzer Chor von freiheitlichen Stimmen hallt uns hier entgegen.

Das Lesebuch will bewusst keine wissenschaftliche Studie sein, Einleitungen und Fußnoten sind äußerst knapp gehalten. Die Zielgruppe geht über das akademische Milieu hinaus. Es soll nicht belehrt werden, man wird zu einem Gespräch eingeladen.

Herausgeber und Verlag haben ein Stück freiheitliche Tradition gegenwärtig gemacht. Es liegt nun an der Leserschaft zu entscheiden, ob hier nur tote Dokumente oder lebende Gedanken vorliegen. Wie Briese schreibt, können die Texte im besten Fall auch heute noch „inspirieren, motivieren und mobilisieren“.

Dem Rezensenten gefällt allein die Buchdeckelgestaltung der Bände nicht so richtig, aber das kann er auch für sich behalten.

Johann Thun

Olaf Briese (Hrsg.):
Anarchistisches Lesebuch
Zeugnisse aus dem Revolutionsumfeld 1848/49
Band 1: Vormärz – 1822 bis 1847
Band 2: Revolution und Reaktion – 1848 bis 1853
Edition AV, Bodenburg 2023
282/306 Seiten, je 24,50 Euro
ISBN 978-3-86841-299-4
ISBN 978-3-86841-300-7
 

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