Rezensionen

Aus DER RABE RALF Dezember 2023 / Januar 2024, Seiten 21, 22, 26, 27

Die Welt von morgen

Wenn wir mit uns selbst ins Reine kommen, kann es auch Frieden mit der Natur geben

Eine Welt, in der die Menschen Frieden mit der Natur geschlossen haben. Wo alle mit anpacken und zusammen- statt gegeneinander arbeiten. Eine Welt, in der man das Wiederentstehen der Landschaft sieht. Wo das Artensterben ein Ende findet und die Rückkehr der Wildnis in die Städte akzeptiert wird. Eine Welt, in der ganzheitliche Bildung und persönliche Entfaltung im Fokus liegen. Wie groß die Kluft zwischen unserer Realität und der Welt von „Zukunftsbilder 2045“ ist, wird einem bewusst, wenn man sich die Städte und das Leben der Menschen heute anschaut. In dem Sachbuch mit dem Untertitel „Eine Reise in die Welt von morgen“ ist des Öfteren von Pessimismus und Hoffnungslosigkeit die Rede, wenn über unsere jetzige Zeit gesprochen wird.

Auch Flüsse haben Rechte

Im Buch begleiten wir die Journalistin Liliana Morgentau auf eine Reise durch 16 Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Im Jahr 2045 haben sich die Städte in vielerlei Hinsicht verändert. Liliana trifft in den jeweiligen Städten wichtige Persönlichkeiten, die auf irgendeine Weise zu dem Entwicklungsprozess etwas beigetragen haben. Die utopische Welt von 2045 ist voller außergewöhnlicher Fortschritte, die die Klimakrise weit zurückgedrängt haben. Die Menschen sehen sich nicht mehr als die Herrscher der Welt, sondern als deren Hüter.

In der Welt, die die vier Autorinnen und Autoren erschaffen haben, herrscht das System der Biokratie. Nicht nur Menschen haben Ansprüche und Rechte, sondern auch Lebewesen – das können Tiere sein oder die gesamte Natur. Flüsse haben beispielsweise das Recht auf natürliche Artenvielfalt und Schutz vor Vergiftung. Der Schutz der globalen Gemeingüter wie Meere oder Wälder liegt in der Verantwortung der UNO. Der soziale Fortschritt hat dazu geführt, dass die Menschenrechtscharta überarbeitet wurde, wobei die Rechte der Natur und nichtmenschlicher Wesen in die Charta aufgenommen wurden.

Liliana Morgentau begegnet Menschen, die durch Biophilie, die leidenschaftliche Liebe zum Leben und zum Lebendigen, Wichtiges zu der Entwicklung beigetragen haben. „Pflanzen beugen Depressionen vor und verbessern unser seelisches Wohlbefinden“, erläutert ein Vertreter der Biophilie.

Architektur, die gesund macht

Was für uns wie eine Utopie erscheint, ist in „Zukunftsbilder 2045“ Wirklichkeit. Die Menschheit ist so weit fortgeschritten, dass die Architektur gesundheitsfördernd ist und aus lokal verfügbaren Materialien besteht. Ein wichtiger Bestandteil der neuen Architektur ist das Bauen mit Bäumen und generell mit Pflanzen. Mehrmals wird erwähnt, wie das Bauen mit Pilzen ab 2027 zum Standard wurde. Die Bedürfnisse der Menschen wurden gut studiert, sodass darauf geachtet werden kann, welche Materialien welche Wirkung auf sie haben. Dabei werden sowohl die physischen als auch die psychischen Aspekte und Folgen unter die Lupe genommen. „Das Wahrnehmen von natürlichen Materialien wie Holz, Lehm oder Stein steigert unser Wohlbefinden. Das wirkt positiv auf unser Immunsystem, Blutdruck und unsere Laune.“ Fast immer seien die Stoffe, die für die Natur gut sind, auch gut für die Menschen.

Auch von „Häusern des Lernens“ ist die Rede. Kaum vorstellbar, aber Lernhäuser – nicht mehr Schulen genannt – gibt es für Menschen aller Altersgruppen. Ob klein oder groß, alle haben das Recht, ihr Wissen zu erweitern. Menschen können freiwillig kommen und allein oder in Gruppen lernen. Allein schon die Beschreibung der Ausstattung wirkt wohltuend. Die Atmosphäre ist nicht mehr kalt und demotivierend, wie man es aus den meisten Schulen der heutigen Zeit kennt, und lässt den Leser sich in so eine Schule wünschen.

Burnouts und Depressionen

Liliana Morgentaus vorletzte Station ist Leipzig. Hier trifft sie eine Psychologin, mit der sie ein tiefes Gespräch über das Konzept der drei Trennungen von Otto Scharmer führt. Die erste Abspaltung ist demnach unsere Verbindung zu uns selbst. Auch hier ist die Welt von „Zukunftsbilder 2045“ uns einen großen Schritt voraus. Denn hier sind die Menschen mit sich selbst, ihren Mitmenschen und der Natur im Reinen.

Die Psychologin merkt an, wir seien für die Transformation noch nicht so weit gewesen, weil die Mehrheit unserer jetzigen Gesellschaft mit sich selbst nicht im Reinen sei. Wir hätten uns zu wenig mit unserem seelischen Befinden auseinandergesetzt. „Wir waren nicht mehr in Verbindung mit unseren tiefsten Verletzungen, enttäuschten Hoffnungen, mit Ängsten, Einsamkeit, Wut oder Trauer.“ Die Folgen sollten uns gerade in der Corona-Zeit aufgefallen sein, nämlich Burnouts und Depressionen.

Tatsächlich setzen sich in unserer Gesellschaft viele nicht mit ihrem Inneren auseinander, weil ihnen das schlicht und einfach Angst einjagt. Viel zu wenige lassen sich behandeln. Die meisten haben verlernt, mit ihrem Körper und ihren Gefühlen umzugehen. Sie haben Angst vor Ablehnung, Ausgrenzung und Zurückweisung, weil es in unserer Gesellschaft noch nicht normal ist, sich Hilfe zu holen oder Unsicherheit zuzugeben. Beim Versuch, professionell zu wirken, leiden viele unter Überarbeitung, Krankheiten und Depressionen.

Wie die Psychologin erklärt, liegt es in der Natur des Menschen, in unbekannten Situationen Angst und Stress zu empfinden. In solchen Fällen zeigen sich drei Kurzschlussreaktionen: Flucht, Kampf oder Erstarrung. Bedenkt man nun, dass Klimawandel und Artensterben den meisten Menschen Angst machen, wird das Ausmaß des Problems erst richtig deutlich. Denn vor dem Klimawandel können wir nicht wegrennen oder uns auf eine Insel flüchten. „Um die Klimakatastrophe abzuwenden, brauchten wir Intelligenz, Kreativität, Vorstellungskraft, eine forschende mutige Haltung und Liebe zum Leben.“ Allerdings werden diese Fähigkeiten bei Angst blockiert. Wer also mit sich und seinem Umfeld im Reinen ist, kann bessere Entscheidungen treffen.

Die Menschen stehen sich selbst im Weg

Als ferne Utopie erscheint einem das Buch nicht wegen der Bilder, sondern einzig wegen des Verhaltens der Menschen. Denn Menschen von einer Idee zu überzeugen ist der erste und schwierigste Schritt. Das Unglaubwürdige an der Erzählung ist der Zusammenhalt der Menschen. Die beschriebenen Fortschritte wären schon erreichbar, allerdings wären dazu viele Menschen nötig, die bereit sind, Altes hinter sich zu lassen und Neues zu wagen.

Bewundernswert und faszinierend an dem Buch ist die Darstellung der Städte. Die Vorher-Bilder aus unserer jetzigen Zeit kommen einem trist und leblos vor, wenn man sie mit den bearbeiteten Bildern vergleicht, die das Jahr 2045 darstellen. Das Buch ist sehr lehrreich und beim Lesen nimmt man eine Menge mit. Nicht nur das Wissen wird erweitert, auch die Denkweise ändert sich. Das Buch ist für eine breite Leserschaft gedacht, das bezeugt auch der Schreibstil.

Es wäre möglich, so eine Welt aufzubauen, denn die Ressourcen und Techniken haben wir bereits. Allerdings stehen sich die Menschen selbst im Weg. Das hindert sie daran, ihr Potenzial auszuschöpfen und ein besseres Leben zu führen.

Shirin Shanibaqi

Stella Schaller, Lino Zeddies, Ute Scheub, Sebastian Vollmar (Hrsg.):
Zukunftsbilder 2045
Eine Reise in die Welt von morgen
Oekom Verlag, München 2023
174 Seiten, 33 Euro
ISBN 978-3-96238-386-2


Fachgerecht und zeitgemäß

Umfangreiches Baumpflegewissen verständlich erklärt

Nur zu gut kennen viele von uns die Bilder verstümmelter Überreste ehemals eindrucksvoller Bäume in unseren Parks und Straßen und den Ärger, den man bei ihrem Anblick verspürt. Richtig durchgeführt von Privatfirmen oder Grünflächenämtern muss Baumpflege jedoch nicht so aussehen, dienen die Maßnahmen doch oft der Verkehrssicherungspflicht und natürlich auch der Sicherheit der Parkbesucher. Geschnitten wird also hauptsächlich wegen Sicherheitsbedenken oder auch nur aus Gründen der Ästhetik. In der Natur tut dies schließlich auch niemand und einige Bäume werden trotzdem Hunderte von Jahren alt.

Fundiert und praxisnah

Umso wichtiger erscheint ein fachgerechter und zeitgemäßer Schnitt – gerade in Zeiten des Klimawandels und einer anderen Vorstellung von Städten, sei es nun beim Stadtgrün oder auch beim Regenwassermanagement, wenn man von sogenannten „Schwammstädten“ spricht. Bäume spenden Schatten, binden Staub und CO₂, senken die Umgebungstemperatur, befeuchten die Luft und produzieren am Ende auch noch Sauerstoff. Darüber hinaus bieten sie gerade in urbanisierten Räumen Lebensraum und Nahrung für zahlreiche Tiere.

Wer jetzt bei einem Buch mit dem Titel „Baumpflege“ an einen vorrangig praktischen Nutzen denkt, hat zunächst einmal recht. Man sollte bei aller Praxisnähe jedoch nicht das benötigte theoretische Fundament verachten. Sind nämlich erst einmal Fehler beim Schnitt der mitunter ältesten Begleiter an Berlins Straßen und Parkanlagen geschehen, lassen sich diese kaum wiedergutmachen und können im schlimmsten Fall das Absterben des Baumes bedeuten.

Nicht nur für Fachleute

In seinem Buch hat sich Herausgeber Andreas Roloff größte Mühe gegeben, diesen Anforderungen nicht nur in der Sache gerecht zu werden, sondern alles auch verständlich wiederzugeben. Das sollte jedoch nicht über den umfangreichen Inhalt des Buches hinwegtäuschen. Um die vorgeschlagenen praktischen Maßnahmen – oder auch das Unterlassen von solchen – besser verständlich zu machen, haben die Autoren denn auch einen ausführlichen, im Ansatz akademischen und doch nicht zu detailreichen Rundumschlag zur Baumbiologie vorangestellt. Außerdem machen sie die Bedeutung der Natur für die Menschen in der Stadt deutlich und beschreiben, wie der Klimawandel zukünftig die Biologie der Bäume und die Nutzung des Stadtgrüns beeinflussen wird.

Die zweite Hälfte des Buches beschäftigt sich eingehend mit der Praxis der Baumpflege, ihrem rechtlichen Rahmen, den Methoden und der zu nutzenden Technik und Gerätschaft – angefangen bei der rein optischen Baumkontrolle über Untersuchung und Diagnose bis zur abschließenden Sicherung. Als gelernter Landschaftsgärtner mit einem breiten Interesse am Gehölzschnitt wie auch an der entsprechenden Ökologie kann der Rezensent dieses Buch allen empfehlen, die in der Berufssparte tätig sind oder sich als Baumfreund*in auf anspruchsvollem Niveau weiterbilden möchten.

Johannes Jährling

Andreas Roloff (Hrsg.):
Baumpflege. Baumkontrolle, Baumbeurteilung, Baumschnitt, Verkehrssicherungspflicht, Vitalitätsbeurteilung, Baumbiologie
4., aktualisierte Auflage
Ulmer, Stuttgart 2023
280 Seiten, 46 Euro
ISBN 978-3-8186-2041-7


Ein Weg aus der Erstarrung

Umweltphilosophie als engagierte Wissenschaft und Grundlage für notwendiges Handeln

„Am Anfang steht das Erschrecken. Es lässt sich nicht abmildern, minimieren – im Gegenteil. Es wächst an. Auch wenn es mir nicht möglich ist, den Schrecken zu bannen, so ist es mir noch möglich, nicht vor ihm zu erstarren.“ Das ist die Ausgangsbasis der Umweltphilosophie.

Diese wichtige Strömung der modernen Philosophie fristet im universitären deutschsprachigen Raum ein Schattendasein. Der Theologe und Philosoph Jürgen Manemann vom Forschungsinstitut für Philosophie Hannover ist einer der wenigen universitären Forscher, die sich mit Umweltphilosophie intensiv beschäftigen. Umso wichtiger und interessanter ist diese Publikation.

„Gelebte Moral“

In seinem Plädoyer für eine Umweltphilosophie – als Sammelbegriff für Umweltethik, Umweltästhetik, naturphilosophische Reflexionen und Klimaethik – stellt Manemann in sieben Kapiteln unterschiedliche Facetten des Themas kompetent dar. Das beginnt bei der Einordnung: „Rettende Umweltphilosophie knüpft an die Debatte über engagierte Wissenschaften an“ und sei damit letztlich „eine transformative Wissenschaft“. „Sie übernimmt eine aktive Rolle in den Transformationsprozessen, auf welche sie aber gleichzeitig permanent wissenschaftlich und machtpolitisch reflektiert.“

Umweltphilosophie ist für Manemann aber noch mehr, nämlich „gelebte Moral“ – und somit auch mehr als „nur“ eine Fachdisziplin. In seiner Grundlegung greift er unter anderem auf den Arzt und Ethiker Albert Schweitzer zurück, der auch in der Tierethik viel Beachtung findet. Hier wie auch in anderen Beispielen scheint ein Stück weit die theologische Prägung des Autors durch.

Manemann stellt allerdings ausdrücklich fest: „Auch wenn rettende Umweltphilosophie den distanzierten Blick der Wissenschaft kritisiert, oft auch scharf kritisiert, so bedeutet das mitnichten, dass sie die Objektivität naturwissenschaftlicher Erkenntnisse anzweifelt.“ Daraus ergibt sich im vierten Kapitel die Erkenntnis: „Im Zentrum rettender Umweltphilosophie steht die Anerkennung des Eigenwertes der belebten und der unbelebten Natur. Rettende Umweltphilosophie ist holistisch“ – also ganzheitlich im wissenschaftlichen Sinne.

Gegen Umweltrassismus

Die Vielschichtigkeit der Überlegungen zeigt sich auch in einem Unterkapitel zu Ökofaschismus und Umweltrassismus, von dem sich die Umweltphilosophie durch ihre ethischen Grundlagen fundamental unterscheidet – nämlich durch „eine anti-totalitäre holistische Ethik“, die der Autor im Kapitel über „Seinsethik“ näher klassifiziert. Aber auch die Praxis jener „Fachdisziplin“ wird in einem eigenen Kapitel dargestellt – etwa in Bezug auf zivilen Ungehorsam.

Das letzte inhaltliche Kapitel wagt einen Blick auf das utopische Element der Umweltphilosophie, wobei Manemann auf Philosophinnen wie Bini Adamczak zurückgreift. Das utopische Element ist ein weiteres, das die Umweltphilosophie von benachbarten Disziplinen unterscheidet – auch hier kann letztlich das Rettende dieser Philosophieströmung liegen.

Alles in allem liegt hier eine intelligente und wichtige Schrift vor, die in der aktuellen Zeit zum Nach- und Weiterdenken anregt und gleichzeitig als Einstieg in die Umweltphilosophie sehr gut geeignet ist.

Maurice Schuhmann

Jürgen Manemann:
Rettende Umweltphilosophie
Von der Notwendigkeit einer aktivistischen Philosophie
Transcript Verlag, Bielefeld 2023
168 Seiten, 19,50 Euro
ISBN 978-3-8376-6930-5


Der Dichter als Maulwurf

Michael Löwy beschreibt, wie Franz Kafka gegen die irdische und himmlische Obrigkeit rebellierte

Böse Zungen behaupten, Franz Kafka habe vor allem deshalb geschrieben, um Generationen von Literaturwissenschaftlern zu beschäftigen. Der Autor von „Die Verwandlung“, „Der Prozess“ und „Das Schloss“ hat ein dermaßen rätselhaftes Werk hinterlassen, dass allein die Interpretationsversuche ganze Bibliotheken füllen. Einige meinen nun, dass das Rätselhafte selbst Kafkas Thema ist und jede Interpretation daher scheitern muss. Anders Michael Löwy, dessen Buch „Franz Kafka. Träumer und Rebell“ endlich in deutscher Sprache vorliegt. Für Löwy ist Kafkas labyrinthisches Werk von einem roten Faden durchzogen: dem Antiautoritarismus.

Heterodoxes Judentum

Warum, fragt Löwy in der Einleitung, sollte der überbordenden Flut an Sekundärliteratur zu Kafka noch eine weitere Abhandlung hinzugefügt werden? Er gibt selbst die Antwort: weil es bisher keine Untersuchung gibt, die sich speziell mit Kafkas Herrschaftskritik beschäftigt.

Schon in seinem 1997 übersetzten Buch „Erlösung und Utopie“ hat Löwy Kafka dem „heterodoxen Judentum“ zugerechnet, einer Geisteshaltung, die, vom religiösen Messianismus geprägt, gegen die irdische und himmlische Macht rebelliert und zum Sprung in die Utopie ansetzt. Hier setzt auch dieses Buch an.

Mit großer Spannung folgt man Löwys detektivischer Arbeit, wenn er im ersten Kapitel seines Buches den Spuren nachgeht, die von Kafka zum libertären Untergrund Prags führen. Diese Spuren versucht Löwy anschließend auch in Kafkas Texten nachzuweisen. An keiner Stelle begeht er dabei den Fehler, das literarische Werk in ein politisches Programm zu übersetzen. „Kafkas Universum“, so der Autor, „ist viel zu reichhaltig, komplex und vielfältig, als dass man es auf eine einfache Formel bringen könnte.“ Kafka hat keine politischen Manifeste geschrieben, seine Geschichten gleichen bei vollem Bewusstsein erlebten Träumen. Er hätte gewiss nichts dagegen gehabt, mit jenem Geist-Maulwurf verglichen zu werden, über den Hegel schreibt: „Bisweilen erscheint der Geist nicht offenbar, sondern treibt sich, wie der Franzose sagt, ‚sous terre‘ herum.“

Gegen freiwillige Knechtschaft

Der visionäre Dichter William Blake fand die geniale Wortschöpfung „Nobodaddy“, um dem gestrengen Übervater im Wolkenreich zu spotten, dem sich so viele Menschen freiwillig unterwerfen. Der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt prägte wiederum den Ausdruck „Nobodaddy’s Kinder“, um seine Gott verlassende Generation zu bezeichnen. Auch Kafka gehört zu diesen Kindern, denn schon sein berühmter „Brief an den Vater“, ist, wie Löwy nachweist, sowohl an den irdischen als auch an den himmlischen Despoten gerichtet. Auch gegen den zum Staat gewordenen „sterblichen Gott“ (Hobbes) hat Kafka in seiner Kritik am Bürokratismus und an der freiwilligen Knechtschaft opponiert. „Der Einzelne gegen die Macht“, das ist für Löwy der Grundkonflikt in Kafkas Werk.

Der Gang unter dem Labyrinth

Löwy, übrigens selbst ein radikaler Vertreter eines freiheitlichen Ökosozialismus, schreibt hier wie gewohnt in einem klaren und äußerst lesbaren Stil, den der Mainzer Ökosozialist Bruno Kern meisterhaft ins Deutsche übertragen hat. Gelegentlich merkt man dem Buch zwar an, dass es nicht aus einem Guss entstanden ist, sondern aus einzelnen Aufsätzen zusammengefügt wurde, aber das tut dem Lesevergnügen keinerlei Abbruch. Wurde an anderer Stelle schon Löwys Auslegung von Walter Benjamins Geschichtsphilosophie (Rabe Ralf Oktober 2022, S. 21) den Leserinnen und Lesern wärmstens empfohlen, gilt dies ebenso für das Kafka-Buch des Franko-Brasilianers. Kafkas Werk wird auch nach dieser Lektüre ein Labyrinth bleiben, aber zumindest eines, das man untergraben kann.

Johann Thun

Michael Löwy:
Franz Kafka. Träumer und Rebell. Eine Annäherung an sein Werk
Aus dem Französischen von Bruno Kern
Matrix Verlag, Wiesbaden 2023
188 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-7374-1222-3


Aus der Versenkung geholt

Christian Simons Handbuch der vergessenen Begräbnisstätten und Kirchenbauten Berlins hat es in sich

Im Laufe der Geschichte ändert sich das Antlitz einer Stadt gewaltig. Gebäude verfallen, werden abgerissen und durch Neubauten ersetzt, geraten in Vergessenheit. Ähnlich ergeht es aber auch Begräbnisstätten. Auf einstigen Gottesäckern stehen heute Wohnhäuser oder Kitas oder es verlaufen dort sogar Straßen. Der promovierte Geograf Christian Simon holt in seinem umfangreichen, zahlreich bebilderten und ungemein informativen Handbuch etwa 160 weitgehend vergessene Berliner Friedhöfe sowie 110 Kirchen und Kapellen aus der Versenkung. Die Bedeutung dieser Arbeit kann man halbwegs ermessen, wenn man bedenkt, dass es heute rund 225 Begräbnisstätten in Berlin gibt.

Verschwundene jüdische und türkische Friedhöfe

Der in Steglitz ansässige Autor arbeitet seit einem Vierteljahrhundert als Stadtführer. Fast genauso lange betreibt er einen auf Berlin-Themen spezialisierten Verlag, in dem auch das vorliegende Handbuch erschienen ist.

Auf eine knappe Einleitung folgt ein nach Bezirken geordneter Überblick. Der Autor hat sich die Mühe gemacht, Groß-Berlin, wie die 1920 um zahlreiche Umlandkommunen erweiterte Stadt genannt wurde, in seiner Gesamtheit abzubilden. Die Bezirkskapitel sind weiter untergliedert in Ortsteile. Die Beiträge zu den einzelnen Kirchen und Kapellen enthalten Informationen über den Zeitraum des Bestehens, die entsprechende Konfession und Interessantes rund um den jeweiligen Ort. Dabei variiert die Länge der Beiträge. Auf drei Seiten geht es um die Franziskanerkirche des Grauen Klosters nahe dem Alexanderplatz, deren Ruinen heute noch stehen, während ein halb so langer Beitrag einem „vermuteten jüdischen Friedhof vor dem Georgentor“ gewidmet ist und ein noch kürzerer Text über einen von 1763 bis 1863 bestehenden türkisch-moslemischen Begräbnisplatz in Kreuzberg informiert, von dem ebenfalls die Spuren verschwunden sind. Die konfessionsübergreifende Darstellung macht das Buch besonders wertvoll und zeigt auch die Situation von religiösen Minderheiten auf.

Geschärftes Auge

Bei der Lektüre stolpert man immer wieder über Adressen, die man kennt. Mir selbst wurde bewusst, dass der Blick aus meinem Wohnzimmerfenster auf einen ehemaligen Friedhof gerichtet ist. Heute steht auf dem Grundstück eine Kita und statt Totenstille ist lebendiges Kindergeschrei zu vernehmen. Alles in allem eine angenehmere Gesellschaft.

Aber auch für andere Orte in der Stadt und für vereinzelte Überbleibsel von Bestattungsorten und Kirchen in Form von Gedenktafeln, Ruinen oder Architekturelementen wurde mein Auge durch die Lektüre geschärft.

Es ist ein gutes und ambitioniertes Nachschlagewerk zu einem wichtigen Teilaspekt der Berliner Geschichte, die sich über einen Zeitraum vom Mittelalter bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zieht. Für alle an der Stadthistorie Interessierten ein sehr lesenswertes Buch.

Maurice Schuhmann

Christian Simon:
Vergessene Friedhöfe und Kirchen in Berlin
Christian Simon Verlag, Berlin 2023
288 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-936242-17-1


Auch für junge Wilde

Ein kompakter Überblick über den Stand der Dinge

Der Berg an Problemen ist riesig und wächst, wenn wir so weitermachen. Aber die Lösungen liegen bereit und entwickeln sich in die Tiefe. Die Probleme sind menschengemacht, sie sind durch entschlossenes gesellschaftliches Handeln zu lösen. Viele sogar in relativ kurzer Zeit – im nächsten Jahrzehnt. So ließe sich die Essenz von Reinhard Loskes neuestem Buch „Ökonomie(n) der Zukunft“ auf den Punkt bringen. „All das ist kein Zauberwerk“, schreibt Loske. „Es erfordert aber Handlungswillen, Wandlungsbereitschaft, Konfliktfähigkeit gegenüber Beharrungskräften und auch ein hohes Maß an Zuversicht, Experimentierfreude und Unternehmungsgeist.“

Der Autor weiß, wovon er spricht. Seine Glaubwürdigkeit beruht auf einem immensen Schatz an Erfahrung. Er war schon an führender Stelle dabei, als nach dem Erdgipfel von Rio 1992 am Wuppertal-Institut bahnbrechende Leitlinien und Konzepte für eine Wende zur „Erdpolitik“ (Ernst Ulrich von Weizsäcker) entworfen wurden.

Ein schmaler Band, und doch ein gewichtiges Werk. Ein kleines Handbuch der großen Transformation an dem jetzigen äußerst kritischen Punkt der Geschichte der menschlichen Zivilisation. Wertvoll für die Nachhaltigkeits-Community, die einen kompakten Überblick über den Stand der Dinge braucht. Zugänglich aber auch für junge Wilde, die einen mutmachenden Einstieg auf hohem Niveau suchen.

Ulrich Grober

Reinhard Loske:
Ökonomie(n) mit Zukunft
Natur + Text, Rangsdorf 2023
80 Seiten, 19 Euro
ISBN 978-3-942062-58-9

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