Aus DER RABE RALF März 1999
Ich versuche hier einmal – für manche wird es wiederholend sein, für andere neu -, das zusammenzufassen, woran wir seit ungefähr 20 Jahren arbeiten, Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und ich. Ich hoffe, daß ich das meiste oder vieles von dem treffe, was auch Ihnen am Herzen liegt.
Zunächst einmal ist es bemerkenswert, daß das Konzept der Subsistenz in der letzten Zeit so viel Aufmerksamkeit gefunden hat. Das sind wir nicht gewöhnt. Wir sind eigentlich immer Ruferinnen in der Wüste gewesen und haben es eher erlebt, daß alles, was damit zusammenhängt, aus den Debatten gerade ausgeschlossen wurde.
Unterentwicklung und Knappheit als Ergebnis der Zerstörung von Subsistenz
Viele suchen heute nach einer neuen Politik im Sinne von etwas, das von oben und von außen kommt, während das, was hier vorstgestellt werden soll, im Gegenteil dazu steht. Also keine neue Politik. Der Begriff ist längst besetzt. Gerade die griechische Polis ist sehr unrühmlich mit Sklavenhaltergesellschaft und Frauenunterdrückung im Hintergrund entstanden. Und so etwas sollte man vielleicht nicht noch einmal wiederholen, möglichst noch als angebliche „Alternative“ in der Geschichte. Also gerade nicht Politik – der Begriff kommt ja von Polis – ist gemeint, sondern etwas, das von innen und von unten kommt. Es kommt eben da her – das haben wir nicht erfunden – und drängt sich nicht von außen und oben auf.
Alle reden inzwischen von Subsistenz. Man kann ja sehen, daß z.B. in Kuba nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der entsprechenden ökonomischen Beziehungen ausgerechnet Fidel Castro zur Subsistenz aufrief. Er hat natürlich einen sehr eingeschränkten Begriff von Subsistenz. Aber daß am Ende die Subsistenz vor dem Proletariat kommt, verweist immerhin auf das, was Subsistenz eigentlich sein soll – im Grunde etwas ganz Einfaches: daß die Leute das tun, was sie tatsächlich im Alltag zum Leben brauchen.
Wir sind das ja vom Kapitalismus auch nicht gewöhnt. Im Grunde kommt der Kapitalismus aus einer ”Luxusecke”, war zunächst Luxusproduktion. Zu diesem Thema gibt es ein Buch von Werner Sombart: „Liebe, Luxus und Kapitalismus“. Er beschreibt, wie der Kapitalismus sich an den Luxusbedürfnissen des Adels entlang entwickelt und eigentlich auch, wenn man das einmal weiterverfolgt, in seiner ganzen Geschichte niemals das getan hat, was er immer vorgegeben hat zu tun, nämlich per Industrialisierung die billige Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen überall zu ermöglichen. Denn: wann war es billig, wo ging es um Grundbedürfnisse, und für wen hat das überhaupt gegolten? Es war so eine Art echte Ökonomie versprochen, wo es darum geht, daß die Menschen über die Arbeit sich am Leben halten können und zwar zunächst einmal bezogen auf ihre Grundbelange. Wie wir aber ja alle sehen, ist plötzlich mitten in dieser doch so hoch zivilisierten Gesellschaft der Hunger ausgebrochen, und die Leute fürchten um ihr Überleben, vom Krieg einmal ganz zu schweigen.
Das ist doch merkwürdig. Das dürfte eigentlich in einer zivilisierten Gesellschaft, die die sogenannte primitive Gesellschaft ja immer verteufelt und lächerlich gemacht hat, gar nicht passieren. Das verweist darauf, daß diese Ökonomie und Gesellschaft, die ja inzwischen eine Weltgesellschaft geworden ist (oder von Anfang an war, wie Imanuel Wallerstein meint), sich eben gar nicht kümmert um das, was wir alltäglich brauchen. Oder sie tut es nur zufällig oder zugunsten derer, die im Zentrum dieses Systems leben: Sie haben das Geld, und die Produkte sind auch da, wenn auch in Warenform. Was das heißt, dazu kommen wir noch.
Das heißt, an diesem ganzen System stimmt doch etwas nicht. Ausgangspunkt unserer Analyse war: Wir waren alle in der Dritten Welt, in der sogenannten, also in den (Neo-) Kolonien. Und die Kolonien galten ja – zumal aus sozialistischer Sicht – immer als eine Art feudales Überbleibsel der Weltentwicklung, so wie eben der Sozialismus selber als eigene „Produktionsweise“ galt, im Gegensatz zum Kapitalismus. Diese Dreiteilung der Welt ist der ideologische Ausgangspunkt, eine Dreiteilung, die quasi in Etappen verläuft und von der es die Fiktion gab – am brutalsten vielleicht bei Stalin ausgedrückt – wir kommen vom Feudalismus zum Kapitalismus und dann zum Sozialismus. Das ist allen bekannt.
Was wir festgestellt haben, war im Gegensatz dazu aber etwas ganz anderes, nämlich, daß es nicht eine Ungleichzeitigkeit, sondern nur eine Gleichzeitigkeit von Entwicklung und Unterentwicklung gibt, daß Unterentwicklung immer das Ergebnis von Entwicklung ist und nicht sein Vorläufer. Unterentwicklung ist also überhaupt nichts „Altes“, sondern etwas Neues, genauso neu wie der Kapitalismus selber, der sich nicht erst seit der Industrialisierung, sondern seit dem Kolonialismus, also mit Beginn des „langen“ 16. Jahrhunderts, wie man das nennt, in der Welt ausgebreitet hat. Seitdem wird Unterentwicklung produziert, nämlich in Form der Zerstörung von Subsistenz in aller Welt. Denn das, was die nichtkapitalistische Gesellschaft in der Tat trägt, ist das, was wir Subsistenz nennen.
Subsistenz ist ebenso der Fall in der sogenannten primitiven Gesellschaft – die sich im Vergleich zu uns als gar nicht primitiv erweist – wie auch in den alten Hochkulturen, vor allem bevor sie patriarchal wurden. Sie alle sind Subsistenzgesellschaften. Manche nennen sie z.B. auch „Naturalwirtschaften“ (vgl. Barbara Bradby). Ich finde das eigentlich irreführend, denn Naturalwirtschaft suggeriert – zumal wir einen merkwürdigen Naturbegriff haben – daß die Leute gewissermaßen wie Tiere leben oder nicht genau über das nachgedacht haben, was sie tun. Die „primitiven“ Gesellschaften und die alten Hochkulturen, die vorzivilisierten und vorpatriarchalen, haben Subsistenz als etwas ganz anderes gesehen, nämlich als das Leben in Fülle. Was wir heute erleben, nämlich die Knappheit von allem, auch mitten im größten Überfluß und nicht nur daneben an irgendeiner Peripherie, ist eine ganz und gar neuzeitliche Erfindung.
Es gab eigentlich in der ganzen Weltgeschichte nie Gesellschaften, deren Ökonomie, wenn man das überhaupt so nennen kann, zu einer solchen Knappheit geführt hätte. Das ist der Widerspruch. Man wirtschaftet ja, um eben nicht in Knappheit zu leben, z.B. hat man im Winter nichts mehr, wenn man nichts von der Ernte aufhebt. Das haben ja nun alle Gesellschaften fertiggebracht, daß sie sich über die Winterzeit oder in Wüstengegenden oder im Eis versorgt haben. Überall hat es Menschen gegeben. Wie haben die denn das gemacht? Und sie sind nicht gestorben an Hunger und Kälte oder eben Hitze. Aber heute befürchten wir die Knappheit, die Produktion von Knappheit. Wer sich damit besonders befaßt hat, ist Ivan Illich und speziell Marianne Gronemeyer. Wir müssen uns also einmal fragen, wieso die früheren Gesellschaften nicht in Knappheit gelebt haben. Marshall Sahlins ist einer der Autoren, der die Steinzeit rehabilitiert, indem er feststellt, zur Zeit der Steinzeit hätten die Leute vielleicht vier Stunden am Tag gearbeitet, und das in Gemeinschaft und plaudernd und lachend, und den Rest der Zeit haben sie getan, wonach ihnen war oder was ihrem Kult, ihrer Kultur entsprach: sich versammelt, gegessen, gefeiert, sich geliebt, ihre Kinder hin und her getragen und spirituellen Tätigkeiten ausgeübt. Das kann sich ja heute überhaupt niemand mehr vorstellen, bloß vier Stunden am Tag zu arbeiten. Also nichts von Knappheit oder von Hetze oder von ständigem Bedrohtsein. Das Gefühl ”wir sind dauernd bedroht” hat nicht existiert. Es gibt einen Film, der ist von Gordian Troeller und heißt „Das Ende des Lachens“. Den sollte man sich vielleicht einmal anschauen, um zu Sehen, wie eine solche Gesellschaft (ge)lebt (hat).
Der Osten als Kolonie des Westens und die neue Sklaverei
In der Tat leben wir jetzt in einer Situation, in der immer klarer wird, daß dieses kapitalistische Weltsystem ganz anders aussieht, als wir gemeint haben. Die, die im Osten leben, haben erfahren, daß eine Integration in dem Sinne, wie sich das viele vorgestellt haben, nämlich im positiven Sinn, in dieses System nicht möglich ist. Also nicht nur die Zentralverwaltungswirtschaft, also die sozialistische Planwirtschaft, sondern auch die Marktwirtschaft sind ungeeignet, um die Probleme, die jetzt anstehen, zu bewältigen.
Warum sind sie dazu ungeeignet? Weil sie sie selbst hervorgerufen haben. Dieses System ist eben anders, als wir immer glauben, daß es sei. Die Kapitalakkumulation ist nicht etwas, was sich überall auf der Welt positiv niederschlägt, sondern nur in ganz bestimmten Teilen derselben und auch dort nur scheinbar. Der Rest der Welt ist dagegen das, was dieses vampiristische System zur Grundlage hat und aussaugt. Sie können also davon ausgehen, daß die Dritte Welt nicht eine eigene Produktionsweise hatte und nie gehabt hat, seit es dieses System gibt, sondern immer nur die Grundlage, die Ressource war, die dem Vampir Kapital zugeführt wurde. Auf Grund der Ausplünderung dieser Gegenden hat es die Kapitalakkumulation in den Zentren überhaupt erst gegeben. Das hat schon Rosa Luxemburg ganz genau analysiert. Deswegen gebt es auch keine „nachholende“ Entwicklung, wie das immer genannt wird. Niemand kann diese Entwicklung als „positive“ anderswo nachholen, weil sie ja durch dieses „Anderswo“ als Unterentwicklung erst existiert. Man kann sie nicht ausdehnen, kann die positiv scheinenden Seiten dieses Systems nicht auf der ganzen Welt verbreiten, weil die ganze Welt ja schon „negativ“ in das System einbezogen ist.
Inzwischen haben auch die Leute im Osten gemerkt, in welcher Weise das der Fall ist, nämlich daß sie hier zur Kolonie wurden, zur ”inneren” Kolonie. Das ist der alte Kampf, den ja schon die Sowjetunion bei ihrer Gründung führte, nämlich nicht zur Peripherie und zu den Kolonien gehören zu wollen, sondern zum Zentrum. Diese Lösung des Problems hat ja nicht stattgefunden, und man sieht, daß es jetzt tatsächlich seine Nichterfüllung oder eben Erfüllung im umgekehrten Sinne erfährt. Es gibt eine furchtbare Spaltung innerhalb der neuen Kolonien – wie auch sonst in Kolonien – in Reichere und Ärmere oder in Reiche und Arme. Und es kann einfach nicht gehen, daß alle Menschen im Osten, so nah sie auch sind – das ist kein Problem der geographischen Entfernung -, in die Warenparadiese einbezogen werden. Denn diese allein gelten als Entwicklung in „positivem“ Sinne.
Man könnte sogar sagen, daß auch die Proletarisierung der Arbeit, die ja erst mit der Industrie stattfindet, also die Verwandlung von Arbeit in Lohnarbeit, eigentlich nie die erste Form der Verwandlung der Arbeitskraft in Ware überwunden hat, nämlich die Sklaverei. Die Sklaverei der Afrikaner in Amerika ist das Grundmodell für die Ausbeutung von Arbeit auch im proletarischen Sektor. Man könnte sagen, was der Osten seit zehn Jahren erlebt, ist eine Art Neosklaverei auf Zeit, und sogar ohne die Versorgung, die die Sklaven immerhin erfahren haben, weil man sie ja weiter als Arbeitskräfte ausbeuten wollte. Es bleibt so eine Art Wander- oder Wegwerf-Sklaverei, in der sich niemand darum schert, wer und wie viele dabei am Schluß wirklich auf der Strecke bleiben. Die Gleichgültigkeit des Systems den Menschen gegenüber wird da perfekt erkennbar (was wunder, denn ein „System“ kann ja nichts empfinden, es ist eine Maschine). Das heißt, zur Industrialisierung gehört auch die Deindustrialisierung – das war immer schon so -, zur Entwicklung die Unterentwicklung, zur Lohnarbeit die nicht entlohnte (insbesondere die Haus-)Arbeit und zur Hightech die Lowtech.
Wir sind also immer wieder darauf verwiesen, daß wir selber verantwortlich gemacht sind für das, was mit uns geschieht, weil der Staat und das Kapital sich sicherlich nicht darum kümmern werden. Sie können das auch gar nicht. Das haben wir nach dem GAU in Tschernobyl deutlich erfahren (vgl. Marina Gambaroff u.a.). Das kann jeden treffen, die Leute im Westen natürlich genauso.
Von der Tatsache her die Welt zu betrachten, heißt, nicht immer von unten nach oben zu schielen und zu meinen, es ginge darum, so zu werden „wie sie“ und „dazuzugehören“.
Claudia von Werlhof
Literatur:
Veronika Bennholdt-Thomsen: Juchitán, Stadt der Frauen. Reinbek 1994
Bennholdt-Thomsen/Mies/Werlhof: Frauen, die letzte Kolonie – Zur Hausfrauisierung der Arbeit. Zürich 1992
Bennholdt-Thomsen/Mies: Eine Kuh für Hillary – Die Subsistenzperspektive. München 1997
Barbara Bradby: The Destruction of Natural Economy. In: Economy and Society, Nr. 2/1975
Marina Gambaroff u.a.: Tschernobyl hat unser Leben verändert – Vom Ausstieg der Frauen. Reinbek 1986
Marianne Gronemeyer: Die Macht der Bedürfnisse. Reinbek 1988
Ivan Illich: Fortschrittsmythen – Schöpferische Arbeitslosigkeit, Energie und Gerechtigkeit, wider die Verschulung. Reinbek 1978
Maria Mies: Patriarchat und Kapital – Frauen in der internationalen Arbeitsteilung. Zürich 1988
Mies/Shiva: Ökofeminismus. Zürich 1995
Claudia v. Werlhof: Was haben die Hühner mit dem Dollar zu tun? – Frauen und Ökonomie. München 1991
Claudia v. Werlhof: Mutter-Los – Frauen im Patriarchat zwischen Angleichung und Dissidenz. München 1996
Werlhof/Schweighöfer/Ernst (Hrsg.): Herren-Los – Herrschaft, Erkenntnis, Lebensform. Frankfurt/M. 1996
Marshal Sahlins: Stone Age Economics. New York 1989
Werner Sombart: Liebe, Luxus und Kapitalismus – Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung. Berlin 1992
Gordian Troeller: Das Ende des Lachens (Dokumentarfilm). CON Filmverleih, Bremen
Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem – Kapitalistische Landwirtschaft und die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1986
Die Autorin ist Mitbegründerin der Frauenforschung in der Bundesrepublik. Seit 1989 ist sie Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck (Innrain 36, A-6020 Innsbruck).
Der Text folgt ihrem Vortrag „Subsistenz: Abschied vom ökonomischen Kalkül?“ beim Kolloquium ”Subsistenzperspektive” an der Humboldt-Universität Berlin am 25.1.93. Eine bearbeitete Fassung ist in “Mutter-Los” und “Herren-Los” (s.o.) veröffentlicht.