Greifswalder Erklärung gegen die Tendenz zur kollektiven Selbstzerstörung – Kein Atommüll nach Lubmin, keine Atomindustrie nach Vorpommern!
Aus DER RABE RALF Februar 1995
Mit der Stillegung des alten Atomkraftwerkes Greifswald-Lubmin 1990 ist das Problem nicht gelöst. Die Brennstäbe sind noch drin. Die Anlage entläßt radioaktive Strahlung nach außen. Die Gebäude sind unsicher, zunehmend marode und auch gegen Schäden von außen kaum geschützt.
So kann es nicht bleiben.
Die Atomindustrie versucht jetzt aber, noch eins oben drauf zu setzen. Klammheimlich und weitgehend unbemerkt (beziehungsweise verdrängt) von der Öffentlichkeit versucht sie, in Lubmin den ”Atomstandort Nr. 1 in Deutschland” einzurichten.
Ein erster Schritt ist der Bau des riesigen Lagers für 200.000 m3 sogenannter ”schwach- bis mittelradioaktiver Abfälle”. Diese Halle soll schon 1995 fertig werden. Gedacht ist sie angeblich für die verstrahlten Teile, die beim Abriß des alten AKW anfallen sollen. Allerdings fällt 1995 aus dem Lubmin-Abriß noch gar kein Müll an. Es gibt auch kein Gesetz, das die Betreiber darauf festlegen könnte, nur hier (und noch allenfalls in Rheinsberg) produzierten Atommüll zu lagern.* Es ist vollkommen klar, daß es um den Atommüll geht, den die deutsche Atomindustrie ab 1995 aus den sogenannten Wiederaufbereitungsanlagen in England und Frankreich zurücknehmen muß. Dieses radioaktive Material soll, zumindest teilweise, nach Lubmin. Es soll durch ganz Deutschland transportiert und hier, in der Halle an der Ostsee, aufbewahrt werden.
Ein zweiter Schritt ist die Ansiedlung eines Ablegers des Max-Planck-Instituts München. Es soll eine atomare Versuchsanlage (”Wendelstein-Experiment”) aufgebaut werden, die in München nicht durchsetzbar war. Was die Münchener erfolgreich verhindert haben, soll nun in Greifswald, direkt am Wohngebiet Schönwalde in Betrieb gehen. Solche Experimente sind immer auch Menschenexperimente.
Der dritte Schritt ist ein weiteres Experiment, der Abriß des alten AKW. So etwas wurde bisher (abgesehen von dem kleinen Reaktor in Niederaichbach) weltweit noch nie gemacht. Der Abriß ist äußerst riskant. Während der Bauzeit des AKW Lubmin wurden über 50.000 Planänderungen vorgenommen, die nur teilweise dokumentiert und nicht mehr nachzuvollziehen sind. Ein AKW ist kein Komposthaufen, den man einfach umsetzen kann. Die Atomindustrie will es aber versuchen. Die Gefahr eines Zwischenfalls, in dem Strahlung freigesetzt wird, ist untragbar hoch. Der Abriß wäre ein Spiel mit dem Feuer und außerdem eine Augenwischerei, denn er suggeriert, der Atommüll sei in einer Lagerhalle weniger gefährlich.
Der vierte Schritt schließlich soll, wie die Bundesregierung gerade offiziell beschlossen hat, die Ansiedlung des ”weltweit größten Kernfusions-Forschungsreaktors” ITER (Internationaler Thermonuklearer Experimental-Reaktor) sein. Wieder ein Experiment, zu dessen Betrieb 100 Megawatt notwendig wären. Ein Grund für ein neues AKW in Lubmin?
Es ist kaum zu glauben, aber diese ungeheuren und sehr konkreten Planungen gehen vor sich ohne nennenswerten Einwand, ohne das Wissen (oder besser: ohne das Bewußtsein) der Bevölkerung darüber, was da mit ihr gemacht wird, mit den nächsten Generationen, mit der gesamten Natur. Die Katastrophe von Tschernobyl ist gerade 8 Jahre vorbei. Die Atomindustrie versucht nicht, den Schaden wiedergutzumachen, den ihre AKWs schon angerichtet haben. Es ist kein Versuch des Ausstiegs aus dem tödlichen Kreislauf, sondern eine unverfrorene und kaltblütige Strategie, aus dem grundsätzlichen verfehlten Atomstrom-Konzept neuen Profit zu schlagen. Die Atomtechnik kalkuliert die Gefährdung von Menschen durch radioaktive Verseuchung grundsätzlich mit ein. Die ”zivile Schwester der Atombombe” ist um keinen Deut besser. Es bleiben Grundwerte auf der Strecke, die das Menschsein, die Menschenwürde und das Glück zu leben betreffen. Wer Atomkraftwerke baut oder mit ihrem Abriß ein neues Geschäft machen will, weiß das. Wir sind nicht bereit, Opfer dafür zu sein. Wir haben eine andere Vorstellung von einem menschenwerten Leben, und wir werden unsere Auffassung verteidigen.
Welche Auffassung haben wir vom Leben?
Ein Grundproblem dürfte darin liegen, daß die Atomindustrie und mit ihr die Atommafia genauso ein Produkt und Ausdruck unserer Zeit, unseres Jahrhunderts ist wie der Raubbau an Bodenschätzen, die Zerstörung der letzten großen Waldgebiete, die Klimakatastrophe, wie andere ”menschenfressende” Industrien, die sogenannte ”harte Chemie”, die industrialisierte Landwirtschaft oder auch die totalitären Staaten, die Weltkriege mit ihren Millionen Opfern oder die Gaskammern von Auschwitz. Es ist in der menschlichen Psychologie dieses Jahrhunderts etwas geschehen, für das es in der Geschichte kein Beispiel gibt: eine Tendenz zur kollektiven Selbstzerstörung.
Es ist bekannt, wie schwer es fällt, individuell auch nur um einen Schritt aus den zerstörerischen Kreisläufen auszusteigen, z.B. aufs Auto zu verzichten oder bewußt Strom zu sparen. Wir alle sind nicht nur ein Teil der Lösung, sondern auch ein Teil des Problems. Möglicherweise gehört das zum Menschsein ja dazu?
In unserer Zeit – was den atomaren Wahnsinn angeht, nach dem 2. Weltkrieg – ist eine Art qualitativer Sprung eingetreten: die Skrupellosigkeit, mit der die Gesundheit und das Recht auf Glück der eigenen Bevölkerung aufs Spiel gesetzt wird. Es ist wohl schon während des Faschismus den meisten gelungen, die Existenz der Konzentrationslager zu verdrängen (aber alle haben davon gewußt!). Wieviel schwerer ist es heute, sich einmal aus den ganzen vernetzten ”Sachzwängen” herauszunehmen, wenigstens in Gedanken und Träumen, und einen ersten Schritt in eine andere Richtung zu gehen. Die Frage zu stellen, welches Leben es sein soll für uns, und wie wir unseren Kindern die Freiheit ihrer Entscheidung offen halten können.
Wir haben einige Dinge schon diskutiert:
Tabu: Krebs
Es gibt keine unschädliche radioaktive Strahlung. Auch die kleinste Dosis kann eine Leukämie auslösen. Auch eine minimale Langzeitbelastung, wie sie in der Umgebung jedes AKW vorliegt, ist schädlich. Im Einzelfall entscheidet es sich daran, in welchem gesundheitlichen Zustand der Mensch ist, auf den die Strahlung trifft. Die seelische Befindlichkeit ist dabei für die Immunabwehr genauso wichtig wie die physischen Voraussetzungen.
Es geht also hier auch um das Glück, um das Gefühl, ein sinnvolles Leben zu leben. Deshalb aber – und nicht nur wegen der Strahlung, die alle trifft – ist Krebs kein individuelles Schicksal. Der Zusammenhang ist wichtig, weil Krebs ein Tabu ist, individuell (er verursacht großes Leid, niemand spricht darüber, jeder hat Angst davor) und kollektiv (die Gesellschaft läßt es zu, daß das Krebsregister der DDR gewissermaßen einfach verschwindet; niemand soll wissen, wieviele Menschenleben, Kinder wie Erwachsene, das AKW in Lubmin schon gekostet hat).
Umsonst gelebt?
Ein anderes Tabu ist es (vielleicht), daß die Menschen, die in früheren Jahren in Lubmin gearbeitet haben, eine durchaus positive Erinnerung an diese Zeit, den Schwung, das Arbeitsklima, die Vorteile, die internationalen Begegnungen etc. haben. Lubmin war ein Projekt der DDR, d.h. auch, daß viele Hoffnungen und ein besonderes Engagement der Menschen hier eingeflossen sind.
Von Leukämie wurde damals natürlich wenig oder gar nicht gesprochen. Wir müssen verstehen, daß es sehr viel Trauerarbeit bedeuten wird, für die ehemaligen und jetzigen Mitarbeiter dort, zu lernen, daß sie ihre Kraft in ein ”schlechtes” Projekt gesteckt haben. Die Atomindustrie spricht schon, wie damals die DDR, von der ”Atomstadt Greifswald”. Der besondere Zynismus liegt darin, daß so die Veränderung der Leute, die nach dem Zusammenbruch der DDR und der Vereinnahmung durch den Westen einen ganz besonderen Akzent bekommen hat, gezielt gefördert und ausgenutzt wird.
Was für Arbeitsplätze?
Zum Thema Zynismus gehört auch das Arbeitsplatzargument. Es wird unterschlagen, daß die meisten Fachkräfte aus dem Westen kommen werden. Vor allem aber wird unterschlagen, daß durch die Ansiedlung neuer atomarer Projekte in Greifswald gerade die Sektoren geschädigt werden, die überhaupt längerfristig Arbeitsplätze bieten: die Landwirtschaft, der Fischfang, die Sanatorien und der Tourismus an der Ostsee. Die Menschen auf Rügen und Usedom, in Greifswald, Stralsund und Wolgast hätten ein vitales Interesse daran, die Atomprojekte zu verhindern. Denken wir nur an die vielen mittelständischen Unternehmen oder die Region ”Pomerania”.
Es ist unmöglich, einen Tourismus aufzubauen, der sich um die Radioaktivität aus Lubmin herumlügen muß. Peenemünde ist schon schrecklich genug, doch Lubmin, gerade wenn es abgerissen wird, wäre eine ernsthafte Bedrohung. Eine radioaktive ”Badewanne” werden gerade die Berliner am wenigsten akzeptieren. Es ist Hohn, dann von Arbeitsplätzen zu sprechen, und wir werden dazu nicht schweigen.
Warum soll es Greifswald sein? Es liegt nahe der deutschen Grenze, in einer dünnbesiedelten Gegend, in der frühen DDR. Da, so glaubt die Atomindustrie, werde der Widerstand der Bevölkerung nicht groß werden. Und sie spekuliert darauf, daß es den Westdeutschen ganz recht sein könnte, wenn der Atommüll so weit weg nach Osten kommt. Sie versucht, zu spalten und den Ost-West-Gegensatz gezielt auszunutzen. Sie hat keine Skrupel in irgendeiner Hinsicht.
Trauer und Schuld
Uns geht es um ein Zurück aus verfehlten Entwicklungen, global und ganz konkret hier. Es nützt nichts, wenn man etwas besser weiß als andere. Der Atommüll ist da, der ganze Komplex in Lubmin ist ein Gebirge aus Atommüll. Die Fehler sind passiert, und jetzt geht es um Schuld und Trauer. Die einzige (und natürlich nicht ”End-”)Lösung ist es, das AKW sicher, d.h. weitestgehend strahlensicher zu ummanteln (”Sicherer Abschluß”) – und zu trauern und zu fragen, wie es dazu kommen konnte. Ohne ein grundsätzliches Umdenken ist wenig getan.
Wir denken, daß hier auch die Kirchen gefragt sind, die evangelische und auch die katholische (soweit ihre Mitglieder selber denken wollen – der Papst ist Atombefürworter). Dem Faschismus stellte sich ein Teil der evangelischen Kirche entgegen, als ”Bekennende Kirche”. Die Kirche des DDR-Widerstands, wo ist sie heute? Wir wünschen uns eine bekennende Kirche gegen die Verfälschungen und die Erpressung durch die Atomindustrie!
Erpressung
Es sind das alles ja leider keine Spielchen. Die Atomindustrie betreibt eine regelrechte Strategie der Erpressung. Der atomare Müll ist da, und er wird den kommenden Generationen erhalten bleiben, wobei die Halbwertszeiten in wesentlichen Fällen geologische Dimensionen erreichen. Die nächste Eiszeit kommt schneller. Wir sind grundsätzlich dagegen, daß mit diesem Zeug herumgespielt und experimentiert wird. Jedes weitere Quentchen Strahlung ist zuviel. Deshalb sollte Lubmin für 100 Jahre ”abgedichtet” werden, dann wird man vielleicht weiter sehen.
Der Begriff der Erpressung gehört zum Atomstrom vielleicht ebenso folgerichtig wie der der Verdrängung: es ist ein Teufelskreis, bei dem ein Industriezweig eine ganze Bevölkerung sozusagen als Geisel nimmt. Am sogenannten Plutonium-Skandal ist das deutlich geworden: die Atombetreiber haben Materialien (Plutonium) und Technologien in den Händen, mit denen sie jede Regierung und jede Bevölkerung unter Druck setzen können – und sie tun es bereits. Da ist grundsätzlich gar kein Unterschied zwischen handfesten Mafiosi in Rußland und den Spezialisten hier, die in Sachen Lubmin eine Desinformationspolitik und Verdunklung vetreiben, die beispiellos ist. Und irgendwann wird ihnen klar werden (oder wissen sie es längst?), daß sie selber mit drin stecken.
Unerträgliche Schatten
Die Atomtechnik hat grundsätzlich etwas mit dem Verlassen von Kreisläufen zu tun. Ihr Modell ist die Kettenreaktion, eine Art lineares perpetuum mobile, das problemlos und ohne ”Verschmutzung” Energie erzeugen soll, damit im übrigen alles so bleiben kann wie bisher. Es wäre schön, vielleicht – aber es geht nicht. Licht und Schatten gehören eben zusammen. Gerade deshalb aber ist es notwendig, um im Bilde zu bleiben, nur so viele und nur solche Lichter zu entzünden, deren unvermeidliche Schatten einigermaßen erträglich bleiben. Wenn die Produktion von Atommüll jetzt nicht aufhört, werden unsere Kinder uns wegen der Schatten, die wir ihnen hinterlassen, verfluchen. Sich aus dem Kreislauf der Natur und des Lebens mit Kernspaltungen oder Kernfusion herausnehmen, absondern zu wollen, das ist die Schuld im eigentlichen Sinn. Dieser Schatten ist nicht tragbar, und wir können nur versuchen, ihn auf das zu begrenzen, was nun einmal geschehen ist. Wir können Energie sparen, erneuerbare Energiequellen verwenden – und auch in uns selber wirklich erneuerbare Energiequellen suchen. Wir können den Kreislauf nicht verlassen, weil wir ein Teil der Natur sind. Wir werden immer wieder Schatten produzieren müssen, doch wir können darüber trauern, und diese Trauer gehört zum Leben. Sie wird uns helfen.
Leben!
Vielleicht könnte das ein Element unserer Auffassung vom Leben sein, die wir den innerlich abgestorbenen Atombefürwortern entgegenhalten können: daß wir ein ganzheitliches Leben einer ”strahlenden Zukunft” entschieden vorziehen. Ein buntes Leben, in einer Welt, die auch von Pflanzen und Tieren bewohnt wird, wo Vielfalt gilt und nicht Monokultur, wo möglichst viele Menschen Arbeitsplätze finden (und nicht nur die in Lubmin), und zwar eine befriedigende Arbeit, wo das Leben Spaß macht.
Wir wollen in einer Welt leben, in der Kinder und Jugendliche sich frei entfalten und ausprobieren können, in der die Bauern einer gesunden Erde gesunde Lebensmittel abgewinnen können, in der Kranke nicht angelogen oder alleingelassen werden, sondern die Möglichkeiten und Hilfe bekommen, ihre Krankheit zu verstehen und krankmachende Ursachen zu verändern.
Wir wollen leben ohne die Angst vor einem Atomunfall, ohne die ständige Gefahr einer atomaren Verseuchung der Bevölkerung, der Ostsee, des ganzen Landes. Wir wollen eine vernünftige, nicht-atomare Zukunft für die Greifswalder Universität, mit Forschung für erneuerbare Energiequellen und sinnvolle Energieverwendung. Wir wollen die Ostsee erhalten für die erholungssuchenden Menschen.
Wir wollen ein Leben ohne die Erpressung durch die Atommafia. Wir wollen, daß der atomare Irrweg endlich beendet wird.
Kein Atommüllager nach Greifswald.
Keine Atommülltransporte. Kein Wendelstein, kein ITER.
Sicherer Abschluß des AKW Lubmin für mindestens 100 Jahre.
Widerstand ist möglich! Widerstand lohnt sich!
Fangen wir an, bewußt zu leben!
Maikäfer flieg!
Die Bürgergruppe “Maikäfer flieg!” trifft sich jeden Montag um 20 Uhr in der Christuskirche in Greifswald-Schönwalde II.
Kontakt: Holm Collatz, Weidenweg 17, 14793 Greifswald, Tel. 03834/841689.
* Steinkemper, Atomrechtsexperte der Bundesregierung, DPA 3.7.92