Alternative Lebensversuche nach 1968

Aus DER RABE RALF September 1998

Einige Prinzipien des Gemeinschaftslebens gelten für fast alle alternativen Projekte: die Ablehnung des Privateigentums, die Anerkennung der Selbstbestimmung sowie der Versuch, die Spezialisierung, die Arbeitsteilung, die Rolleneinteilung nach Geschlechtern und das gestörte Verhältnis zur Natur und oft auch die Hierarchien aufzuheben. Gemeinsam ist die Bereitschaft, die gesamte Existenz unter das Risiko gleichberechtigten Handelns zu stellen, die Utopie zu organisieren.

Die Alternativbewegung richtet sich im Kern gegen alle Erscheinungen des Kapitalismus. Sie läßt sich als eine Autonomie- und Autarkiebewegung mit dem Extrem der völlig abgeschlossenen, selbstversorgenden Einheit (Landkommune) begreifen, die zwei Funktionen hat: Erstens soll das Entstehen neuer menschlicher Beziehungen ermöglicht werden und zweitens soll die Überflüssigkeit von Staat, Autorität, Herrschaft, Macht, Ausbeutung und Entfremdung gezeigt werden. [1]

Antiautoritär, spontan, außerparlamentarisch

1968 – diese Jahreszahl ist Statussymbol und Maßstab, steht für radikal, antiautoritär, außer- und antiparlamentarisch, spontan und teilweise individualistisch. Aus dieser Zeit geht die Neue Linke und die Hippiekultur hervor. Politische Bewegungen rücken international zusammen.

Historisch betrachtet verstärken sich Gegenentwürfe zu den bestehenden Gesellschaftssystemen immer in Krisenzeiten. So flechten schon Jugendliche nach dem Ersten Weltkrieg Blumenkränze ums Haar, organisieren sich in der Wandervogelbewegung und bilden Siedlungsgemeinschaften, wie der Kreis um Alfred Kurella in der Blankenburger Kommune. 1965 beginnen die Diggers in den USA Jugendzentren aufzubauen und zu versorgen, brechen aber unter dem Ansturm der meist weißen Mittelstandsjugendlichen zusammen. Die Jugendlichen entwickeln Gegenwerte zum American Way of Life und zur herrschenden Kultur: Natur statt Zivilisation, Sinnlichkeit statt Berechnung, Sexualität statt Arbeit, Liebe statt Angst und Aggressivität, Vertrauen statt Konkurrenz, Pazifismus statt Krieg und Brutalität – und stecken nun selbst in der Krise.
Den ”Revolutionären” stehen drei Wege offen:

1. ökonomische und politische Wiedereingliederung in das Establishment, was auch über Reformversprechungen erreicht wird

2. bloße ökonomische Integration in das System und weitere Mitarbeit in Parteien, Organisationen oder Gruppen (”Langer Marsch durch die Institutionen”)

3. Aufrechterhaltung der relativen Abgrenzung von der Gesellschaft und Hinwendung zu alternativen Projekten. Letzterer Bereich teilt sich in:

a. Projekte in der Stadt, z.B. Wohngemeinschaften, selbstverwaltete Häuser, Handwerks- und Nahrungsmittelkooperativen, Kulturzentren, … bis zu ganzen Stadtteilen wie dem ”Freistaat Christiania” in Kopenhagen

b. Projekte auf dem Land, z.B. Landkommunen wie ”Longo mai” in Europa, sowie Ökologie- und Schulprojekte

c. Vernetzungen von ökonomischen Projekten in der Stadt und auf dem Land, die einen großen Teil der Lebensbereiche abdecken und so eine größere Autonomie gegenüber der Gesellschaft erreichen, z.B. die anthroposophische Bewegung.

Die Kommune-Bewegung

Das Streben “heraus aus der Gesellschaft” in der Rock-´n-Roll-Ära wird durch die einsetzende Kommune-Bewegung überwunden. Und wie bei den klösterlichen Gemeinschaften entfalten sich fortschrittliche Kräfte in einem ansonsten sich selbst genügenden System.

Kleine Landkommunen entstehen an vielen Orten der westlichen Welt. In den USA leben 1973 in 25.000-30.000 Landkommunen 250.000 bis 300.000 Menschen und weitere 500.000 Menschen in städtischen Wohngemeinschaften und Kollektiven. In Vermont sind 60% der Bevölkerung mit der Kommunebewegung direkt oder indirekt durch Verbrauchergemeinschaften, kommuneeigene Schulen etc. verbunden. Ihr Selbstverständnis reicht von der Schaffung eines ”anwendbaren Modells alternativer Gesellschaftlichkeit” ähnlich den sozialistischen Gemeinschaftsutopien (Teil 2) bis zu kleinen, relativ zurückgezogenen Gruppen, ähnlich eher einer alternativen Familie als einer alternativen Gesellschaft. Die Kommunen entziehen sich einer Kategorisierung, jede ist auf ihre Art individuell, und dennoch gibt es besonders stark verbundene Gruppen, die aufgrund des gleichen Lebensstils sich weniger als andere voneinander unterscheiden. Chaotische Plätze, an denen jeder willkommen ist und keiner weggeschickt wird, ”sichern” ein ständiges Kommen und Gehen. Besucher ohne längerfristige Interessen und Arbeitsabsichten lassen selten ein kollektives Selbstverständnis aufkommen. Die Abkehr von den Übeln der Gesellschaft und die Suche nach Liebe, Geborgenheit und Frieden verbindet zwar, ermöglicht aber erst mit dem Ausprobieren von schwachen formalen Strukturen und stabileren Beziehungen den Bestand der Gruppen. Die Kommunen, die aus der Hippiebewegung erwachsen, umfassen mittlerweile ein breites Generationsspektrum. Spirituelle, z.B. den Zen-Buddhisten oder den Indianern nahestehende Gruppen sind eine wichtige Erscheinung in der Szene – insgesamt eine bunte Bewegung. Als Blumenkinder setzen sie Zeichen, stellen das Staatsmonopol in Bereichen wie Armee (Kriegsdienstverweigerer zu Zeiten des Vietnamkrieges) und Bildung (Gründung freier Schulen, Durchsetzung von Veränderungen im staatlichen Bildungswesen) in Frage und schaffen tragfähige ökonomische Strukturen mit Elementen einer nichtkapitalistischen, “anarchistischen” Produktionsweise.[1]

Versuchen gemeinschaftlichen Wirtschaftens auf gesamtstaatlicher Ebene scheinen gegenwärtig Grenzen gesetzt zu sein. So wurde 1973 in Chile, 1979 in Nicaragua das kapitalistische System mit Gewalt an der Macht gehalten.

Longo mai

Die Siedlungen von ”Longo mai” werden vorwiegend in Eigeninitiative in ländlichen Gegenden der Schweiz, Österreichs, Frankreichs und Deutschlands auf vorhandenen Ruinen errichtet. Der Kontakt zu den Menschen in der Umgebung wird gesucht, und alle Siedlungen sind mindestens durch den Warenaustausch der Produkte aus eigener Herstellung miteinander verbunden. Ihre Wurzeln in der 68er Bewegung schaffen die Basis für politisches Handeln, z.B. die Einrichtung des “Jugoslawischen Forums” beim Europäischen Bürgerforum und die Gründung des Senders ”Radio Zinzine” in der Provence.

AAO und ZEGG

Die ”Aktionsanalytische Organisation” (AAO) ist 1972 angetreten mit dem Anspruch, “auf Grundlage der Erkenntnisse von Wilhelm Reich die bürgerliche Kleinfamilie aufzuheben und stattdessen die freie Liebe zu leben”. Hierarchien sollen abgeschafft werden, indem sie transparent gemacht werden. Tatsächlich geschieht jedoch das Gegenteil, AAO-Gründer Otto Mühl errichtet ein geschlossenes System aus ökonomischer Abhängigkeit und psychischem Druck mit sich selbst als unumstrittenem Führer. Der ”Friedrichshof” bei Wien – Zentrale und Ausgangspunkt der AAO – löst sich Anfang der 90er Jahre auf. Innerhalb der AAO entwickelt Dieter Duhm das Konzept eines ”Zentrums für experimentelle Gesellschaftsgestaltung” (ZEGG), das seit 1991 als ”Forschungs- und Bildungszentrum” in Belzig bei Berlin besteht. Das Projekt (von AAO bis ZEGG) war und ist in seiner einseitigen Ausrichtung auf die “freie Liebe” sehr umstritten. [2, 3]

Kommune Niederkaufungen

In der 1986 gegründeten Kommune Niederkaufungen wird der Grundsatz ”Gemeinschaftlich wirtschaften – weltweit” praktiziert: Gemeinsame Ökonomie als Grundlage für alle Bereiche der menschlichen Existenz, sowohl für die Produktion als auch den Konsum. Das Privateigentum wird gänzlich abgeschafft – was nicht die Umsetzung realsozialistischer Gleichmacherei bedeutet – und an dessen Stelle das Bedürfnisprinzip gesetzt. Jeder bringt die Bereitschaft mit, sein Handeln in Frage stellen zu lassen und zu ändern. Beides bewirkt, daß auch ”Laien” Verantwortung übernehmen (können), wobei ihnen die fachliche Kompetenz der anderen uneingeschränkt zur Verfügung steht. Eine hohe Informationskultur und klare Absprachen werden als Voraussetzung angesehen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und bei Entscheidungsfindungen nach dem Konsensprinzip zu verfahren. Diskussionskultur wird der “demokratischen Abstimmung” vorgezogen. Die Arbeit wird als ”Mittel zur Aneignung der eigenen Lebensumstände” und die Selbstversorgung in allen Arbeitsbereichen in Zusammenhang mit dem Tausch von Arbeitsprodukten als wichtiger Bestandteil der regionalen Integration angesehen. Weiter gefaßt, schließt ”solidarisches Wirtschaften” auch die Kooperation mit Gemeinschaften der ”Dritten Welt” ein und überhaupt politische Einflußnahme nach außen (Grundsatzpapier von 1983), die von der Kommune unterstützt wird. [3]

Permakultur – Crystal Waters

Die Verwirklichung eines ganzheitlich-ökologischen Anspruchs mit der Methode der Permakultur strebt seit 1985 das Ökodorf ”Crystal Waters” bei Maleny in Queensland/Australien an. Mit Permakultur verbindet sich dort die Verpflichtung, das vorgefundene intakte Ökosystem zu erhalten, wobei nicht der Mensch Mittelpunkt aller Überlegungen ist. Permakultur wird als Lebensphilosophie verstanden, die versucht, die vielen schon vorhandenen ökologischen Gedanken “zu einem optimalen Nutzen zu kombinieren”. Im Sinne der Permakultur bedeutet das: Man kann sein Ziel nur erreichen, wenn man sich genügend Zeit für das Erfühlen und Erkennen der Fakten und ihres Zusammenspiels genommen hat. Kontakt aufzunehmen mit der Natur, mit dem großen Bild das kleine nicht zu vergessen, das ”Unkraut” wirklich wahrzunehmen, das steckt dahinter. 200 Menschen leben in Crystal Waters auf 259 ha Land, von denen sich nur 13% in Privatbesitz für 83 Haus- und Gartengrundstücke befinden. Der Gemeinbesitz wird von einer Siedlungsgenossenschaft verwaltet. Kommerzielle Gemeinschaftseinrichtungen, wie Bioladen, Café oder Investmentfonds, werden von einer Unternehmenskooperative betrieben, außerdem entstanden viele selbständige Gewerbe, z.B. Beratungsfirmen, Computersatzstudio, Baufirmen. Große Teile der Ökonomie der gesamten Region basieren auf einem geldlosen Tauschsystem (Local Exchange and Trading System – LETS). Inzwischen wurden in Australien vier weitere Projekte realisiert. Ansätze in dieser Richtung in Deutschland gibt es z.B. beim Ökodorf-Projektzentrum Groß Chüden (Altmark), beim Verein Ökostadt (Berlin/Brandenburg) und beim Lebensgut Pommritz (Sachsen). [4]

Subsistenztheorie

Die Subsistenztheorie ist neben der Permakultur eine wichtige Basis für die Entstehung von Gemeinschaften. Das Wort kommt von lateinisch ”subsistere”, wo es soviel wie “standhalten” bedeutet. Subsistenz meint heute ”mit dem Lebensnotwendigen auskommen” oder ”durch sich und aus sich selbst heraus bestehen”. Subsistenz ist nicht nur ”Selbstversorgung” und eine ökonomische Kategorie, sondern hat auch allgemein mit dem Umgang zu tun, den wir der Natur, uns selbst und uns untereinander angedeihen lassen: Subsistenz ist zugleich Geisteshaltung, Kultur, gesellschaftliche Organisation, Zugang zur Welt und Umgang mit ihr. [1, 5]

Hausbesetzungen

”Instandbesetzen” – als eine Form spekulativ leerstehenden Wohnraum in Städten wieder bewohnbar zu machen – kommt diesem Prinzip ebenfalls nahe. So werden um 1982 im Westteil, nach 1989 im Ostteil von Berlin entgegen den Abriß- und Modernisierungsplänen von städtischen Verwaltungen und Eigentümern durch Selbsthilfegruppen hauptsächlich ”Mietskasernen” besetzt und mit hohem Eigenanteil ausgebaut. Auch hieraus entstehen vielfach tragfähige Gemeinschaftsstrukturen. [6]

Jörg Wappler und Lutz Dimter

Literatur

[1] Pätzold, Jan (Hrsg.) : Die Geschichte alternativer Projekte von 1800 bis 1975, Verlag Klaus Guhl, Berlin 1980

[2] Die rosaroten PhanterInnen (Hrsg.): ZEGGsismus, Infobroschüre der AG Sekten des AStA-FU Berlin, 1995

[3] Bensmann, D. u.a. (Hrsg.): Das KommuneBuch, Verlag Die Werkstatt, Göttingen, 1996

[4] Halbach, Dieter: Permakultur als Methode ganzheitlich, in: Crystal Waters, Dokumenation einer Fachtagung im Ökodorf Groß Chüden, Oktober 1995

[5] Werlhof, Claudia v.: Was haben die Hühner mit dem Dollar zu tun – Frauen und Ökonomie, Verlag Frauenoffensive, München 1992

[6] Tietze, B./Blomeyer, G.R.: Die andere Bauarbeit, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1984

Aus: „Wohngemeinschaften. Gedanken – Geschichte – Thesen“ von Lutz Dimter und Jörg Wappler, Diplomarbeit an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, Studiengang Architektur; Berlin 1996.


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