Aus DER RABE RALF Februar 1999
Die vage Idee, von der Stadt aufs Land zu ziehen, ein wenig Landwirtschaft zu betreiben und ein paar Tiere zu halten, gerade so viel, wie zum Leben gebraucht wird, reicht nicht aus. Menschen, die in einer Lebensgemeinschaft auf dem Land leben wollen, müssen wissen, wie und mit wem sie zusammen leben möchten und wie ihr Umfeld aussehen soll. Sie sollten über die im letzten Teil beschriebenen Aspekte für das Leben in Lebensgemeinschaften nachdenken. Vielfältig sind die Möglichkeiten der Gestaltung und Organisation des Lebens.
Man sagt nicht umsonst: „Auf dem Land laufen die Uhren langsamer“. Es ist ein anderer Lebensrhythmus, der sich durch die Nähe der Natur stärker als in der Stadt auf den Alltag auswirkt. In der Uckermark zum Beispiel haben Lebensgemeinschaften etwas gefunden, was andere immer noch in anderen Orten und Gegenden weltweit suchen: Ländlichkeit, Natürlichkeit, wald- und seenreiche, noch nicht zersiedelte Landschaften mit einer einmaligen Artenvielfalt der Pflanzen- und Tierwelt.
An die Arbeit! – Welche Arbeit?
Eine besondere Bedeutung kommt der Arbeit zu. Im Gegensatz zur Stadt hat Arbeit auf dem Land eine stärker selbstversorgerische Komponente. Das trifft besonders für Gemeinschaften zu, deren Ziel es ist, sich selbst mit Nahrungsmitteln und mit den lebensnotwendigen Dingen des Alltags zu versorgen. Arbeit kann in Form von Erwerbsarbeit wie auch auf freiwilliger Basis geregelt sein. Die Erzeugung ernährungsphysiologisch vollwertiger Lebensmittel als Grundlage für eine zeitgemäße, langfristige Gesundheitsfürsorge nimmt einen wichtigen Teil der Arbeit in Anspruch.
Die Arbeitsproduktivität wird nicht in erster Linie nach möglichst hoher Leistung und Ausbeute bemessen, sondern richtet sich auch nach dem Bedarf der zu erarbeitenden Produkte für die Gemeinschaft. Es ist offensichtlich, daß selbstbestimmte Arbeitsorganisation mehr Zeit benötigt und nicht als Zeitverlust zu betrachten ist. Im letzten Teil ist die Spezifik von Arbeit, Ökologie und Selbstversorgung genauer ausgeführt (siehe Rabe Ralf Dez. 98).
Natürlich ist diese Art von Arbeit nicht auf alle Gemeinschaften übertragbar. Es ist eher die Regel, daß Menschen auf dem Land für den Verdienst ihres Lebensunterhaltes weite Wege und fremdbestimmte Arbeit in Kauf nehmen müssen, wenn sie nicht von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe abhängig sein wollen.
Die Arbeitslosenstatistik für das Land Brandenburg zeigt folgendes Bild:
Arbeitslose | Land Brandenburg | Uckermark | ||
Insgesamt
Männer Frauen Ausländer |
208 503
89 691 118 812 k.A. |
18,0 %
14,9 % 21,3 % k.A. |
17 124
6 968 10 156 83 |
23,7 %
k.A. k.A. k.A. |
(Landesarbeitsamt Brandenburg, Mai 1997)
Es ist deutlich zu erkennen, daß besonders für Frauen die Chancen viel schlechter stehen. Durch ihre Verantwortung für Familie und Kinder sind sie nicht so flexibel einsetzbar wie Männer.
In den Jahren nach 1989 haben sich die sozialen Bedingungen für die Menschen in den neuen Bundesländern auf dem Land ebenso wie in der Stadt drastisch geändert. Wohn- und Nachbarschaftsgemeinschaften bildeten einen wichtigen sozialen Raum, in dem sich in der DDR bürgerschaftliches Engagement entfalten konnte. Dieses Engagement war zum Teil eingebunden in Organisationen, die selbständig arbeiten konnten, aber dennoch einer gesellschaftlichen Kontrolle unterlagen.
In einer Dokumentation des Brandenburger Kinder- und Jugendhilfetages 1996 wurde festgestellt, daß Menschen in den östlichen Bundesländern seit der deutschen Vereinigung am meisten den Verlust der Solidarität und der sozialen Infrastruktur beklagen, in die jeder einzelne eingebunden war:
„Für viele waren darüber hinaus die Partei oder andere gesellschaftliche Organisationen ein Ort sozialer Einbindung. Nach der deutschen Vereinigung erlebten die Menschen im Osten der Republik mit einem Schlage, was sich im Westen über Jahre hinweg, von vielen gar nicht richtig wahrgenommen, entwickelte: die Individualisierung der Lebensverläufe und die Pluralisierung der Lebenswelten. Abstrakter gesagt, hier vollzieht sich in atemberaubender Geschwindigkeit, was in allen hochentwickelten offenen Gesellschaften geschieht: die Auflösung der Gesellschaft, genauer gesagt, das Verschwinden einer Gesellschaft begrenzter Komplexität, die als gemeinsame Gesellschaft von der großen Mehrheit erfahren und verstanden werden konnte, und in der der einzelne durch eigene Anstrengung auf der Grundlage seiner Begabungen und unter prinzipieller Anerkennung allgemein akzeptierter Wertorientierungen seinen Platz in dieser Gesellschaft ansteuern und finden konnte.“1
Lernen für das Leben! – Welches Leben?
Ein weiterer wichtiger sozialer Faktor für das Leben auf dem Land ist die Lebens- und Lernperspektive für Kinder und Jugendliche.
Eltern mit kleinen Kindern bis zum Grundschulalter wagen eher einen Umzug auf das Land als Eltern mit Jugendlichen. Der Schulwechsel im Grundschulalter und der Wechsel von Freunden vollzieht sich leichter als bei größeren Kindern, da die Anforderungen in der Schule noch nicht so hoch sind und die freundschaftlichen Bindungen in diesem Alter noch häufig wechseln und keinen jahrelangen Bestand haben.
Im Landkreis Uckermark haben einzelne Familien, u.a. aus Projekten und Gemeinschaften, 1992 eine Freie Schule gegründet. Die Schule in Taschenberg können Kinder von der ersten bis zur sechsten Klasse besuchen. Obwohl die Kinder mitunter lange Fahrwege bis zu einer Stunde in Kauf nehmen müssen und der Transport durch Fahrgemeinschaften für jede Woche neu organisiert werden muß, sind die Kinder ausgeglichen und zufrieden, wie mir Eltern und Lehrerinnen bestätigten.
Auf die Frage „Was wird nach der sechsten Klasse?“ wurde mir berichtet, daß die Kinder gern in das Gymnasium und die Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe aufgenommen werden und den Anschluß an die veränderten Leistungsbedingungen gut schaffen. „Die Klassenlehrer sind froh, wenn sie Kinder mit einer hohen Leistungsbereitschaft und einem solidarischen Auftreten in ihre Klassen bekommen“, sagte eine Lehrerin.
Diese Erfahrung bestätigt, wie wichtig die Gründung moderner Lebensgemeinschaften ist, weil damit Schritte zur positiven Beeinflussung, zur Veränderung unserer Gesellschaft verbunden sind.
Für eine gute Schulausbildung wie Realschule oder Gymnasium müssen im allgemeinen lange Wege in Kauf genommen werden und es bestehen wenig Auswahlmöglichkeiten. Die Chancen und Angebote für eine berufliche Ausbildung sind im Gegensatz zur Stadt deutlich geringer. Ich kann mich hier nur auf persönliche Erfahrungen stützen. Die Statistik weist nur die jährlichen Schulabgänger aus. Es fehlen offizielle Zahlen darüber, wieviele Jugendliche davon eine Lehrstelle und danach auch eine Arbeit finden konnten. Aktuelle statistische Erhebungen gibt es nur im Bereich der Arbeitslosigkeit:
Arbeitslose unter 25 Jahre | Land Brandenburg | Uckermark |
Männer
Frauen |
10 843
8 027 |
782
671 |
(Landesarbeitsamt Brandenburg, Mai 1997)
Aus der Tabelle wird deutlich, daß mehr Männer unter 25 Jahre arbeitslos sind als Frauen. Lassen sich alle arbeitslosen Mädchen und Frauen nach dem Schulabschluß registrieren, überbrücken sie die Zeit bis zur Berufstätigkeit irgendwie oder liegt es an ihren besseren Abschlüssen?
Jugendliche, die in Gemeinschaften aufwachsen, bevorzugen es, für die Zeit der Ausbildung in der Stadt zu leben. Ein Grund dafür ist das Fehlen geeigneter Kommunikationspartner. Ein anderer wesentlicher Grund ist das Bedürfnis, sich der sozialen Kontrolle durch die Gemeinschaft zu entziehen. Erst sehr viel später entscheiden sie, ob sie wieder in einer dörflichen Gemeinschaft leben wollen. Das sind die Erfahrungen, die ich aus den Gesprächen mit verschiedenen Gemeinschaften in der Uckermark gesammelt habe.
Ein wichtiger Faktor für das Leben auf dem Land ist das Fehlen von vielfältigen kulturellen Abwechslungen. Hier bedeutet Kulturgenuß wie Musik, Theater oder Kino längere Wege als in der Stadt. Viele Lebensgemeinschaften schaffen sich aber ihre kulturellen Höhepunkte selbst und bringen damit Abwechslung in den Lebensalltag.
Lebensgemeinschaften in der nördlichen Uckermark
Zu einem richtigen Zentrum für solche Projekte und Lebensgemeinschaften ist der Raum um Prenzlau geworden. Hier haben sich in und um ein einziges Dorf, Wallmow, gleich vier Vereine und ein Ökobauer (1200 ha) angesiedelt:
– Land in Sicht e.V. (auf dem vom Verfall bedrohten Gutshof „Wendtshof“); 1990 in Berlin gegründet, um eine ökologisch orientierte Lebensgemeinschaft aufzubauen, in der auch Menschen aus der Psychiatrie eine neue Perspektive finden können; heute ca. 20 Angestellte im Verein, davon sieben in der Öko-Gärtnerei mit weiteren sieben psychisch kranken Menschen
– Ökolandgenossenschaft Wallmow e.G.; Hans- Peter Wendt und Genossenschaftsbauern,
– Karibu e.V.; moderne Lebensgemeinschaft von eheähnlichen Gemeinschaften und Einzelnpersonen; eigene Rechtsanwaltspraxis
– Brennessel e.V.; moderne Lebensgemeinschaft von mehreren Familien mit Kindern, eigene Tischlerei
– Vogelsang; moderne Lebensgemeinschaft von eheähnlichen Gemeinschaften mit Kindern, biologische Landwirtschaft,
– Klaustal; moderne Lebensgemeinschaft von mehreren Familien mit Kindern
Nordöstlich von Prenzlau sind zu finden:
– Feuerland e.V. (bei Brüssow); moderne Lebensgemeinschaften (eheähnlich und Einzelpersonen), Um- und Ausbaufirma, eigene Mosterei
– „Das Paradies“; moderne Lebensgemeinschaften (eheähnlich), Selbstversorger mit Gemüse, Erprobung neuer dezentraler Wohnformen
– Grimme; Familienbetrieb Christiane Binsfeld und Frank Richter, Ökohof
– Sonnenwindfrauen; Lebensgemeinschaft von Frauen
Westlich von Prenzlau sind zu finden:
– Regenbogenhof Augustfelde (20 km westlich von Prenzlau); Sieglinde und Matthias Hermsdorf, Ökohof
– Rittgarten (nordwestlich von Prenzlau); Uwe und Andreas Wesche, Ökohof,
Alle diese Vereine und Lebensgemeinschaften haben das Ziel: gemeinsam zu wohnen, zu arbeiten und zu leben. Sie finanzieren sich durch kleine Zweckbetriebe wie z.B. eine Tischlerei, ein Architekturbüro, ein Kleinstheim zur Wiedereingliederung psychisch Kranker, eine Gärtnerei und über ABM-Stellen, durch die zum Teil die arbeitslose Dorfbevölkerung einbezogen ist. In einigen Lebensgemeinschaften wird gemeinsam gekocht, und jede Person zahlt einen Wirtschaftsbetrag.2
Im nur 30 km von Prenzlau entfernten Schloß Bröllin wird der kulturellen Verödung der Region mit Theaterauffürungen und Theateraktionen etwas entgegengesetzt. Finanzieren kann sich der Kulturverein durch private Sponsoren und öffentliche Mittel, z.B. Unterstützung durch den Landkreis. Inzwischen ist Schloß Bröllin zu einem interessanten Anziehungspunkt für die Region und für Besucher aus Berlin geworden.
Inger Elsner
Literatur:
1 Brandenburger Kinder und Jugendhilfetag 1996, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Land Brandenburg, 1996, S. 32
2 Eurotopia, das europäische Projekte-Verzeichnis 1997/98, eurotopia-Verlag, Niedertaufkirchen, 1997 (Bezug: Ökodorf-Buchversand, Dorfstr. 4, 29416 Chüden; 25 DM Vorkasse/28 DM gg. Rechnung, incl. Porto)
3 Regionale Verantwortung stärken – kompetente Selbsthilfe fördern, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Land Brandenburg, 1997
Aus ”Grenzen und Möglichkeiten von modernen Lebensgemeinschaften als zeitgemäßer Ansatz im sozialen Bereich, dargestellt am Beispiel einer konkreten Utopie: Leben, Wohnen und Arbeiten in einer dörflichen Gemeinschaft im Land Brandenburg”, Diplomarbeit, FHSS Berlin, 1997.