Wichtige Aspekte für das Leben in Lebensgemeinschaften

Aus DER RABE RALF Dezember 1998/Januar 1999

Was passiert wirklich, wenn eine Gruppe nicht verwandter Menschen zusammen kommt, um miteinander zu leben, zu arbeiten und zu lernen? Dazu Hans Luger vom Verein „Land in Sicht“:

”Es geht nicht nur darum, daß wir nett zusammenleben, sondern das Projekt hat auch einen sozialen Auftrag“.1

Durch meine Besuche und in vielen Gesprächen in einigen Lebensgemeinschaften im Norden Brandenburgs sind mir wichtige Aspekte für das Leben in Lebensgemeinschaften deutlich geworden. Diese möchte ich in 10 Punkten kurz erklären:

  1. Werte

Welche Werte sind für das Leben in Lebensgemeinschaften wichtig?

Viele Gruppen haben ihre Wertvorstellungen schriftlich, in Form von Selbstdarstellungen oder Thesen festgehalten. Dieses Informationsmaterial der einzelnen Projekte kann zum Teil angefordert werden.2

Die Spannweite der Werte geht dabei deutlich auseinander. Auch innerhalb einer Lebensgemeinschaft kann es deutliche Differenzen geben. Während ein Teil der Gemeinschaft spirituell- religiös orientiert sein kann, sehen andere ihre Aufgabe in politischen Aktionen gegen Mißstände der Gesellschaft. Während für die einen Emanzipation und Therapie ganz oben stehen, ist für die anderen eine ökologische Lebensweise die wichtigste Antriebskraft. Keine dieser Wertvorstellungen schließt die andere aus. Die meisten Gemeinschaften sind Mischformen der einen oder anderen Art, die sich in ihren Schwerpunkten unterscheiden.

Trotz einer übergeordneten Gemeinsamkeit sorgen die Unterschiede der Wertvorstellungen oft für scharfe Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Menschen in einem Projekt, wie auch zwischen den einzelnen Gemeinschaftsprojekten.

Auseinandersetzungen wird es immer geben. Dabei ist es hilfreich, wenn bei der Gründung eines Projektes die wichtigsten Werte vorher schriftlich festgelegt werden und die Zusammenarbeit als Netzwerk angestrebt wird.

  1. Geld

Geld, Finanzen, Finanzierung – diese Worte spielen in Lebensgemeinschaften und Projekten immer wieder eine große Rolle.

Eine geldfreie Gesellschaft ist bis heute in den meisten Gemeinschaften eine Utopie geblieben. Bei einer Entscheidung für das Leben in einem Projekt oder einer Lebensgemeinschaft stellt sich die Frage, wem gehört das gesamte Projekt?

Die häufigsten Formen sind ein gleichberechtigter Gemeinbesitz in Form von Verein oder Genossenschaft mit oder ohne Zweckbetrieb.

Bei manchen Gemeinschaften ist es Voraussetzung, Geld mit einzubringen, bei anderen nicht. In einigen Gemeinschaften gibt es eine gemeinsame Haushaltskasse, in anderen sorgt jeder für sich selbst.

Die Grundfrage bleibt aber bestehen: die Frage nach der Finanzierung des Projektes. Am Geld scheitern viele Projekte schon im Planungsstadium. Im Vergleich der einzelnen Projekte wurde deutlich:

  1. Je mehr verschiedene Einkommensquellen eine Gemeinschaft hat, desto krisenfester ist sie.
  2. Eine funktionierende, intelligente und alltagstaugliche Ökonomie unter demokratischer Kontrolle ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine funktionierende Gemeinschaft.

  1. Arbeit

In einer Gemeinschaft können die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit fließend sein. Wo fängt Arbeit an und wann kann man die Tür einfach zumachen und entspannen?

Arbeit in einer Gemeinschaft ist nicht abzutrennen von den anderen Lebensbereichen. Und entfremdete Arbeit abzuschaffen, ist hier ja ein angestrebtes Ziel. Trotzdem ist Erwerbsarbeit oft eine ganz wesentliche Quelle zur Finanzierung des Lebensunterhaltes und des Wohnraumes. Oft gibt es zusätzliche finanzielle Belastungen durch Verwaltungs-, Aus-, Um- und Neubaukosten.

Die Art der Erwerbsarbeit reicht von Landwirtschaft, Gartenbau und Handwerk mit eigener Vermarktung oder Direktverkauf über Dienstleistungen im sozialen Bereich, Anwalts- und Arztpraxen, Werbeagenturen bis hin zu ökotechnologischen Consulting- Firmen.

Dazu kommt der gesamte reproduktive Bereich, Küche, Kinder, Garten. Reproduktive Arbeit ist keine Erwerbsarbeit, jedoch zur Aufrechterhaltung des Gemeinschaftsbetriebes von großer Bedeutung.

  1. Ökologie und Selbstversorgung

Insgesamt möchte ich davon ausgehen, daß Gemeinschaften in Form von Projekten und Organisationsformen eine umweltfreundlichere Lebensweise als der Rest der Gesellschaft bereits realisiert haben. Ressourcen werden gemeinsam genutzt. Dadurch werden weniger Energie, Wasser und Material verbraucht oder verschmutzt. Transporte sind in einem viel geringeren Umfang nötig.

Viele Projekte haben darüber hinaus verschiedene Grade der Selbstversorgung erreicht, (Nahrungsmittel werden selbst produziert, Gemüse aus dem Garten, landwirtschaftliche Produkte und hier und da auch weiterverarbeitete Lebensmittel). Energie wird zum Teil dezentral mit Wind- und Solaranlagen erzeugt, Abwasser mit Pflanzenkläranlagen gereinigt, Regenwasser aufgefangen, Müll recycelt.

Auch kulturelle Selbstversorgung ist in Ansätzen verwirklicht, in Form von eigener Musik, eigenen Theaterstücken usw.

In puncto Konsum gibt es wie bei allem ebenfalls ein breites Spektrum: vom bewußten einfachen Leben bis hin zu asketischen Lebensweisen.

Die Arbeitsbereiche der Gemeinschaften sind meistens umweltfreundlich orientiert (artgerechte Tierhaltung, biologisch-organische Gärten usw.).

Zusätzlich sind viele Gemeinschaften Orte ökologischer Innovationen. Hier werden Neuerungen erprobt, erforscht oder auch hergestellt. Interessierte Nachbarn aus der Umgebung können sich hier erstmals eine funktionierende Solaranlage, eine Pflanzenkläranlage oder Komposttoiletten anschauen.

  1. Kind

In den meisten Gemeinschaften, die ich besuchte, spielen Kinder eine ganz wichtige Rolle. Die Fragen der Erziehung, Betreuung und Bildung von Kindern werden häufig diskutiert. Fast alle Gemeinschaften organisieren Kinder- und Krabbelgruppen, manche auch ganze Kinder- und Jugendhäuser, in denen der Nachwuchs zusammenlebt.

Ein solches Gemeinschaftskind wird dann auch nicht zum Einzelkind, wenn seine Eltern nur ein Kind wollen. Es findet meistens in der Gruppe Kinder im gleichen Alter; Ältere, von denen es sich etwas abschauen und lernen kann, und Jüngere, die es schon betreuen und lehren darf.

Die Kinder dieser Gemeinschaften auf dem Lande wachsen mit der Natur und oft auch mit vielen Tieren auf.

Für Eltern ist die Gemeinschaft im allgemeinen eine Entlastung, weil die Kinder nicht dauernd alleinverantwortlich beaufsichtigt werden müssen.

Ein Kind kann sich mit anderen Erwachsenen anfreunden, sich mehrere Bezugspersonen aussuchen und so mehr Anregungen als in der Elterngemeinschaft erhalten. Die soziale Kontrolle wird so zum Schutz für die Kinder.

Gleichzeitig habe ich festgestellt, daß Kinder aus Gemeinschaften ein auffallend hohes soziales und ökologisches Engagement und Wissen haben.

Der Generationskonflikt ist auch in modernen Lebensgemeinschaften auf dem Lande nicht aufzuhalten. Viele heranwachsende Kinder wollen für die Zeit der Ausbildung erst einmal aus der Gemeinschaft heraus, sich ausprobieren, ehe sie eventuell als junge Erwachsene gerne wiederkommen.

  1. Gleichberechtigung

Die Gleichberechtigung der Geschlechter wird in allen modernen Gemeinschaften angestrebt. Die Herangehensweise ist jedoch sehr unterschiedlich.

Ich erlebte in fast allen Gemeinschaften nach kurzer Zeit eines Besuches oft eine weiblich dominierte oder männlich dominierte Atmosphäre. Das mag vielleicht an der zahlenmäßigen Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts liegen.

Wahrscheinlich werden sich einige Gemeinschaften jetzt falsch betrachtet sehen: aber es scheint immer noch so zu sein, daß Gemeinschaften mit handwerklichen Schwerpunkten eher männlich und Gemeinschaften mit mehr Selbsterfahrungscharakter eher weiblich dominiert sind. Insgesamt erscheint mir das Verhältnis in den von mir besuchten Projekten um Prenzlau ausgewogen.

  1. Liebesbeziehungen

Die Vielfalt von Beziehungsformen ist in diesen Gemeinschaften genauso groß wie außerhalb. Es gibt feste und wechselnde Zweierbeziehungen und Ehen auf Zeit, Mehrfachbeziehungen, freie Liebe und Askese. Es gibt homosexuelle und heterosexuelle Beziehungen.

Anders als je zuvor suchen Frau und Mann ihre Zuneigung in neuen Idealen zu verwirklichen: Ideale der Gleichberechtigung, gemeinsame Sinnfindung, sexuelle Lusterfüllung, ohne Zwang und Rollenfixierung. Die intime Beziehung findet zusehens ihre Freiheit, fordert aber persönliche Verantwortung für dieses Glück.

Große Unterschiede herrschen darüber, wie sehr Liebe als etwas Privates empfunden wird, um das sich jeder Einzelne selbst kümmern soll, oder ein gemeinsames Thema ist, das alle etwas angeht.

Liebesbeziehungen in Gemeinschaften haben den Vorteil, daß sie bei Konflikten Rückmeldung und Unterstützung bekommen können.

Zu Spannungen in einer Gemeinschaft kann jedoch die Frage führen, wieviel Zeit zu zweit und wieviel Zeit gemeinsam verbracht werden soll.

  1. Konfliktbearbeitung

Wo mehrere Menschen zusammenleben, sind Konflikte normal. Die Frage ist nur, wie damit umgegangen wird.

Ein Prinzip in den meisten Gruppen ist es, bei einem Konflikt andere hinzuzuziehen, damit die Situation objektiviert und entzerrt wird und überhaupt erst wieder die eigene und die andere Situation in Ruhe gesehen werden kann. Wichtig ist, daß neben dem Streitpunkt auch die Gemeinsamkeiten wieder sichtbar werden. Die Ursachen des Streits werden gesucht und möglichst transparent gemacht.

Nicht immer geht es um Lösungen, sondern darum, auch bei nahem Zusammenleben Unterschiedlichkeiten auszuhalten und Toleranz zu entwickeln.

Viele Gruppen der neuen sozialen Bewegungen scheitern immer wieder an den gruppen-dynamischen Konflikten. Dies hat seine Ursache nicht zuletzt auch darin, daß das Verhalten der Identität in der Gruppe auf den frühen Sozialisationserfahrungen mit den Elternbildern basiert, welche nun in der Gruppe ausgelebt werden. Die Gründungsphase einer Gemeinschaft ist vergleichbar mit den gruppendynamischen Anfangssituationen einer unstrukturierten Gruppe und erzeugt Angst.3

  1. Entscheidungsfindung

Basisdemokratie ist in allen Gemeinschaften ein angestrebtes Ideal. Das bedeutet „Vollversammlungen“ und Konsensprinzip bei Entscheidungen, die alle angehen. Abstimmungen sind oft nicht beliebt, weil aus einer überstimmten Minderheit unzufriedenen MitbewohnerInnen werden.

Konsensprinzip bedeutet, daß eine Entscheidung von allen mitgetragen wird. Voraussetzung dafür sind eine Basis des Vertrauens, Interessengleichheit, Verantwortungsgleichheit und Zeit für den Gruppenprozeß.

Bei Uneinigkeit wird in manchen Gruppen dann doch durch Abstimmung entschieden.

Durch die Verlagerung der Entscheidungen in Arbeitsgruppen können Entscheidungen dezentralisiert werden.

Von großer Wichtigkeit ist es, daß es keine ”Mächtigen” in der Gemeinschaft gibt, damit sich fatale Abhängigkeiten nicht erst entwickeln können.

Es gibt in jeder Gruppe zu jeder Zeit immer verschiedene soziale Positionen: Führer, Geführte, Experten, Außenseiter. Das gilt es auch für die eigene Gruppe zu erkennen, aber nicht dabei stehenzubleiben.

Hier ist wieder das Gemeinschaftsnetzwerk gefragt, das untereinander Rückmeldungen geben und Korrekturen vorschlagen kann.

  1. Einsteigen/Aussteigen

Manche Gemeinschaften besitzen für den Ein- und Ausstieg klare, schriftlich festgehaltene Regeln, ebenso wie Regeln über eine mögliche Probezeit, Rechte und Pflichten, über zu belegende Kurse, über das eventuelle Einbringen des Vermögens und das eventuelle Wiedererhalten desselben nach dem Auszug. Die meisten Gemeinschaften haben eine Probezeit von einigen Monaten, während derer die Einstiegskandidaten das Gemeinschaftsleben im Alltag erfahren können.

Einige Gemeinschaften haben eine offizielle Mitgliedschaft, die vertraglich geregelt ist und in der finanzielle Beteiligung, Rechte, Pflichten und Ausstiegsbedingungen festgelegt sind.

So sind die Bedingungen ganz unterschiedlich und für das einzelne Mitglied ein entscheidendes Kriterium für das Leben in einer modernen Lebensgemeinschaft.

Inger Elsner

Literatur:

1 Der Tagesspiegel, 17. August 1997

2 Eurotopia, das europäische Projekte-Verzeichnis 1997/98, eurotopia-Verlag, Niedertaufkirchen, 1997 (Bezug: Ökodorf-Buchversand, Dorfstr. 4, 29416 Chüden; 25 DM Vorkasse/28 DM gg. Rechnung, incl. Porto)

3 Ursula Bosse, Gruppenprozesse und Organisationsentwicklung in selbstorganisierten Einrichtungen, Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 1993

Aus ”Grenzen und Möglichkeiten von modernen Lebensgemeinschaften als zeitgemäßer Ansatz im sozialen Bereich, dargestellt am Beispiel einer konkreten Utopie: Leben, Wohnen und Arbeiten in einer dörflichen Gemeinschaft im Land Brandenburg”, Diplomarbeit, FHSS Berlin, 1997.


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