Die Dogmen des wissenschaftlichen Naturmanagements

Aus DER RABE RALF März 1998

Das wissenschaftliche Naturmanagement, von dem unser Heil kommen soll, ist ein Gebäude von Dogmen, die sehr hartnäckig sind. Es sind wirkmächtige Bilder, die ungeachtet ihrer Widerlegungen ständig wiederholt und über Politik und Medien verbreitet werden, um die Fortsetzung des modernen Naturmanagements zu rechtfertigen und von anderen Fragen abzulenken.

1.Dogma:
„Wir müssen die Natur schützen.“

Dies ist das altväterliche, anmaßende Bild von „der Natur“, die durch menschliche Verantwortung erhalten werden müsse, da sie sonst zugrunde gehe. Nichts ist falscher.

Der amerikanische Evolutionsbiologe Stephan J. Gould hat es auf den Punkt gebracht: „Aus der Perspektive der Bakterien gibt es kein ökologisches Problem.“ Die Evolution und Entfaltung der Mikroorganismen erfolgt seit gut drei Milliarden Jahren überaus kontinuierlich; sie ist für die Aufrechterhaltung des Lebens erheblich wichtiger als irgendwelche Wirbeltiere. Diese Natur ist von den menschlichen Aktivitäten praktisch nicht zu erschüttern. Die sogenannten Bärtierchen, winzige Lebewesen, können unter extremer Hitze oder Kälte existieren. Sie zeigen sich von schwerer radioaktiver Strahlung nahezu unbeeindruckt und können bis zu einem halben Jahr ohne jede Feuchtigkeit überleben, eingerollt und eingetrocknet in einem scheintoten Zustand, aus dem sie nach Wasserzufuhr wieder aufleben. Auch die Bärtierchen werden wir vermutlich nicht umbringen können.

„Die Natur“ als solche wird nicht zerstört, darum brauchen wir uns keinerlei Sorgen zu machen. Wir sitzen auf einem relativ schmalen Seitenzweig von Natur und berühren mit all unseren Aktivitäten und Eingriffen nur eine sehr schmale Oberfläche ihrer Komplexität. Das Leben können wir nicht kaputtmachen.

Uns selbst allerdings schon. Um das Überleben von Menschen müssen wir uns sehr wohl Sorgen machen; nicht so sehr um „die Gattung“, sondern um konkrete Menschen und Gruppen von Menschen. Wenn die Küstengebiete der Kontinente durch einen raschen Anstieg des Meeresspiegels, etwa durch menschlich verursachten weiteren Temperaturanstieg, überflutet werden und die entsprechenden Ökosysteme sich nicht schnell genug zurückziehen können, dann stirbt nicht „die Natur“. Aber ein Fünftel der heutigen Menschheit lebt mehr oder minder direkt von der Bewirtschaftung dieser Küsten und Flußmündungsgebiete. Menschliche Veränderung von Natur bevorteilt die einen auf Kosten der anderen: die Reichen auf Kosten der Armen, die im Norden auf Kosten derer im Süden, die heute lebenden auf Kosten künftiger Generationen.

Statt dieser Erkenntnis werden unsere Medien von Bildern einer Natur im Notstand dominiert. Diese Bilder sind wie die Fernsehbilder hungerleidender Menschen. Sie lenken ab von den Fragen, wie denn dieser Zustand zustandekommt, und schreien danach, einzugreifen, etwas zu tun. Die Hungerbilder lenken davon ab, daß Menschen z.B. durch staatlichen Zwang und durch internationale Flüchtlingspolitik an ihrer traditionellen Wanderung aus wiederkehrenden Dürregebieten gehindert und dadurch erst zu Opfern werden; sie lassen nur noch die Frage zu: wer schickt etwas, wer spendet? Die Bilder der notleidenden Natur lenken von den Menschen und ihren Interessen ab und rechtfertigen das erweiterte Eingreifen, das Naturmanagement, die Entsendung von Wissenschaftlern und Technikern, die Finanzierung von wissenschaftlicher Manipulation; sie stützen die Vorstellung von nördlichen Rettern in einem desolaten Süden. Wie so oft dient uns der Golfkrieg als Paradebeispiel, in diesem Fall mit den Bildern von ölverschmierten Kormoranen – alles übrigens Archivmaterial aus ganz anderen Gebieten, um den sauberen Krieg der Amerikaner zu loben gegen den schmutzigen Krieg der Irakis.

2.Dogma:
„Nur unberührte Natur ist intakte Natur.“

Das zweite Dogma ist ebenso stereotyp und ebenso falsch. Es ist das Bild von der Wildnis als Hort ökologischer Artenvielfalt. Auch dieses Bild hat wenig Bestand. Ludwig Trepl hat einmal darauf hingewiesen, wie langweilig die mitteleuropäische Natur gewesen sein muß, als sie noch weitgehend frei von menschlichen Eingriffen war. Sie war im menschlichen Sinne langweiliger – Wald und nichts als Wald -, aber sie war auch im ökologischen Sinne langweiliger. Ihre höchste Vielfalt hatte sie vermutlich zu den Zeiten, als sie zwar noch über unerschlossene Rückzugsgebiete verfügte, gleichzeitig aber einer vielfältigen naturnahen Nutzung unterworfen war, die unterschiedlichsten kulturellen Praktiken und Vorlieben folgte.

An den Übergängen zwischen Äckern und Weiden einerseits und Brache und Wald andererseits wechselt die ökologische Situation praktisch von Meter zu Meter, teilweise innerhalb von Zentimetern. Entsprechend vielfältig sind Lebensräume, Arten und Populationen. Nutzung ist nicht verboten. Übergänge und Barrieren, Nutzung und Renaturierung sind wichtige Impulse in vielen Landschaften. Monokulturen, massiver Gift- und Kunstdüngereinsatz sowie starke Schadstoffeinträge sind natürlich Artenvielfalts-Killer. Aber nicht die Nutzung als solche.

Das Bild von der heilen Wildnis entspricht dem Seufzer, nur eine Natur ohne Menschen sei eine gute Natur. Es ist aber ein zynischer Seufzer: hier bei uns ist ja alles schon gelaufen, aber auf den brasilianischen Regenwald können wir uns schützend draufstürzen. Die Verteufelung der Nutzung begleitet nicht nur die beliebte Praxis, auf die Unterschutzstellung von Naturparks erst einmal die Vertreibung der dort ansässigen Menschen folgen zu lassen. Sie verwischt auch den Unterschied zwischen den Formen der Nutzung, der der entscheidende Unterschied ist: zwischen einer hochindustriell-monokulturellen Nutzung, der Schaffung einer künstlichen Natur sozusagen, und einer vielfältigen Nutzung durch traditionelle Praktiken der dort lebenden Menschen. So rechtfertigt das Bild von der „heiligen Wildnis“ die Kanone des Rangers gegen die Hacke des Bauern.

3.Dogma:
„Natur besteht aus harmonischen Gleichgewichten und Kreisläufen.“

Dieses Dogma ist schon so ausführlich widerlegt worden, daß die Kritik daran offene Türen einrennt, sollte man meinen. Dennoch scheinen auch diese Bilder nicht auszurottbar zu sein.

Seit sich die Biologie dem Studium nichtlinearer, „chaotischer“ Prozesse geöffnet und ihre Allgegenwart in der belebten und unbelebten Natur entdeckt hat, sind die Vorstellungen einer „Natur im Gleichgewicht“ verworfen worden. Um es so simpel wie möglich zu machen: Wenn man mit Pfeil und Bogen über 200 Meter Entfernung auf eine Zielscheibe schießt und dabei zentimeterweise zur Seite rückt, ohne sonst etwas zu verändern, folgen die Einschüsse der Positionsveränderung in einer linearen Gleichung. Je größer die Positionsveränderung, um so weiter weg sind auch die Einschüsse vom Mittelpunkt der Scheibe. Das ändert sich, wenn zwischen Schütze und Scheibe ein paar Bäume stehen. Dann haben minimale Positionsveränderungen unter Umständen völlig abweichende Ergebnisse zur Folge, bis hin zu dem Fall daß der Schütze sich selbst in den Hut schießt, wenn wir statt Bäumen Metallpfosten gewählt haben. Die Beziehung zwischen Positionsveränderung und Einschußloch folgt dann einer nichtlinearen Gleichung. Und daß es Bäume gibt, ist in der Natur der Normalfall.

Chaotisch nennt man ein System, wenn es sich bei einer bestimmten Ausgangslage ständig verändert, ohne daß äußere Einflußfaktoren sich verändern, allein durch seine eigene Rückkopplung – und zwar so, daß es weder zum Erliegen kommt noch zyklisch verläuft. Ein berühmtes Beispiel ist das „Chaos im Wasserhahn“. Dreht man den Wasserhahn auf, läuft das Wasser in einem glatten, gleichmäßigen Strahl heraus. Dreht man den Hahn jedoch sehr weit auf, dann fängt das Wasser an, sich zu stauen, der Wasserstrahl bildet Höcker und Muster, die sich beständig verändern – ohne daß man an der Eintellung des Hahns noch einmal etwas verändert, allein dadurch, daß jeder Zustand den auf ihn folgenden beeinflußt. Das System ist aber nicht rein zufällig: eine bestimmte Anfangseinstellung würde dieselbe Abfolge von Mustern hervorrufen, auch wenn diese sich nie wiederholen. Eine solche endlose Veränderungsreihe, die dennoch durch den Ausgangspunkt festgelegt ist, nennt man Attraktor. Bis zu einem gewissen Grad kann man nämlich sogar in den Wasserstrahl hineingreifen, ihn beeinflussen, und er wird dennoch in die festgelegte Veränderungsreihe wieder zurückschnellen; der Attraktor „zieht“ den Prozeß an.

Und auch das ist in der Natur der Normalfall. 30.000 Besucher in einem Naturpark sind vielleicht kein Problem, aber 31.000 schon; und vielleicht 32.000 keins, weil die Leute dann plötzlich ein verändertes Massenverhalten annehmen, sich ans Gedränge anpassen und plötzlich auf den Wegen bleiben. Zwischen der Erhöhung der Zahl und dem Verhalten besteht eine Rückkopplung. Und wenn es gut läuft, läßt sich maximal der Zahlenbereich bestimmen, von dem an das Ergebnis völlig unvorhersehbar wird. In der Nähe des chaotischen Bereichs wechseln, bei minimaler Veränderung der Zahlengröße, Zonen völliger Stabilität mit Zonen totalen Durcheinanders. Flugzeugingenieure kennen das Phänomen, daß die Belastbarkeit von Material nicht beliebig optimiert werden kann, weil es an einem bestimmten Punkt zu sprunghaftem Verhalten neigt.

Die Natur lebt ganz gut mit dem Chaos. Eigentlich lebt sie vom Chaos. Ein ökologisches System, das sich in einem perfekten Gleichgewicht befindet, ist tot. Natürliche Prozesse sind wesentlich davon bestimmt, sich ständig im Ungleichgewicht zu befinden und davon ihre Dynamik, ihre Entwicklung zu beziehen: sie ziehen sich sozusagen an den eigenen Unregelmäßigkeiten entlang vorwärts.

Man kann sich das an der Funktionsweise des menschlichen Herzens klarmachen. Der Rhythmus der Herzklappen und damit der Pumpbewegung wird von einer Vielzahl elektromagnetischer Impulse bestimmt, die gleichzeitig auf die Herzmuskulatur wirken und durch Überlagerung immer neue Muster schaffen, die wiederum den Anstoß zu neuen Impulsen bilden. Es gibt keine Muster, die sich wiederholen. Wie Simulationen zeigen, gibt es nur eine ganz bestimmte Konstellation, die stabil ist und sich reproduziert, wenn sie einmal erreicht worden ist. Die Wirkung der verschiedenen Impulsquellen befindet sich dann tatsächlich im Gleichgewicht. Wird dieser Zustand zufällig erreicht oder das Herz durch eine gezielte Störung von außen (mittels eines elektrischen Impulses z.B.) in diesen Zustand gebracht, hört es auf zu schlagen. Der Gleichgewichtszustand ist hier ganz buchstäblich identisch mit dem Tod des Systems.

Deshalb gibt es in der Natur nur sehr wenige wirkliche Kreisläufe und Gleichgewichte. Und deshalb können wir ihr Funktionieren im Ganzen nicht beliebig optimieren, Teile austauschen, Grenzwerte anstreben. Mit viel Glück können wir abschätzen, bis zu welchem Punkt der Einflußnahme wahrscheinlich nichts passiert – und das beruht mehr auf Erfahrung als auf wissenschaftlicher Vorhersagbarkeit.

4.Dogma:
„In der Natur ist alles an seinem Platz, weil alles optimal aneinander angepaßt ist.“

Dieses Dogma, auf das sich das wissenschaftliche Naturmanagement beruft und das uns in den Medien und Schulen beharrlich weiter gelehrt wird, behauptet, Natur sei eine hochkomplexe, durch die Evolution ausgetüftelte Organisationseinheit, in der alles wunderbar aufeinander abgestimmt sei und jedes Element seine funktionale Rechtfertigung besitze. Ein Wunder von Ordnung, durch strenge Gesetze hervorgebracht, die die jeweils bestmögliche Lösung erzwingen.

Das wissenschaftliche Naturmanagement liebt diese Vorstellung, weil sie die Effizienz in den Rang eines Naturgesetzes erhebt und den wissenschaftlichen Experten in die Rolle des Schiedsrichters zwischen Mensch und Natur setzt. Wenn die Natur ein fein säuberlich ausbalanciertes Ordnungssystem ist, dann hat auch das wissenschaftliche Herumtüfteln daran seine Berechtigung, wenn es nur komplex genug ist; ja es ist schier unverzichtbar. Wir müssen, wenn wir diesem Dogma glauben, die Komplexität der Natur maximal verstehen können, damit wir nichts kaputtmachen. Eigentlich gleicht es – wenn man diesem Dogma glaubt – einem Wunder, wie die Leute ohne wissenschaftliches Management Natur benutzen konnten, ohne sie komplett zu ruinieren.

Die Vorstellung von der Evolution ist lange Zeit einer solchen Auffassung gefolgt. Heute gilt sie als unhaltbar. Die Evolution produziert nämlich durchaus nicht ständige Wunder der Anpassung. Ganz im Gegenteil, sie produziert eine Menge offensichtlichen Quatsch. Sie bringt viele Arten hervor, die überhaupt nicht optimal angepaßt sind. Sie läßt „ökologische Nischen“ einfach leer. Sie folgt Entwicklungsprozessen, die ganz und gar nicht dem Prinzip der fortschreitenden Verbesserung und Anpassung folgen.

Das Problem beginnt schon bei den fehlenden Zwischengliedern. Auf dem Weg zu den Walen und den Fledermäusen beispielsweise gibt es keine belegbaren Arten – seien sie auch ausgestorben -, die eine schrittweise Anpassung markieren könnten. Diese Prozesse können nicht durch allmähliche Anpassung erfolgt sein, sondern müssen sehr schnell gegangen sein, innerhalb weniger 10 Millionen Jahre höchstens, was für schrittweise Anpassungsvorgänge durch Mutation und Selektion, durch Versuch und Irrtum, viel zu kurz ist. Und diese Veränderungsprozesse haben keine vernünftigen Zwischenglieder, die unterwegs einen Sinn machen würden. Längere Zehen und größere Hautlappen bringen einem Vieh überhaupt nichts, solange es nicht wirklich damit fliegen kann. Eine Halb-Fledermaus muß in ihrer Umwelt schlechter angepaßt gewesen sein als das Nagetier, aus dem sie sich entwickelt hat. Eine Fledermaus mag ein Beispiel gelungener Anpassung sein, gewiß. Aber ihre Vorstufen waren es nicht – und demzufolge dürfte es sie ebensowenig gegeben haben, wie es ohne diese Vorstufen Fledermäuse geben dürfte.

Umgekehrt entwickelt sich oft dort nichts, wo etwas Platz hätte. Die pazifischen Inseln und Australien mit ihrer relativ abgetrennten evolutionären Entwicklung bieten ökologisch Platz für größere Raubtiere. Aber es gibt keine. Ein findiger Unternehmer würde die Lücke nutzen, die sich bietet. Die Natur tut das nicht. Es kann sein. Aber es muß nicht.

Richtig schwierig wird es für das Dogma der optimalen Anpassung und perfekten Organisation in der Natur, wenn die Eigenschaften betrachtet werden, die völlig unbegründet oder sogar schädlich sind. Hörner zum Beispiel. Wieso Huftiere immer Hornpaare entwickeln, Nashörner zum Beispiel aber einzelne Hörner, folgt keiner Vernunft. Die Hornpaare neigen im Verlauf der Evolution dazu, größer zu werden, so lange, bis eine ganze Reihe von Tieren echte Probleme damit bekommt. Daß Elche mit ihren Schaufeln im Dickicht steckenbleiben oder sich bei den Brunftkämpfen damit verhaken und jämmerlich zugrundegehen – da würde einem Ingenieur doch Besseres einfallen. Die Mähne der männlichen Löwen macht sie zum Jagen untauglich; in der Tat jagen bei den Löwen fast ausschließlich die Weibchen. Einen erkennbaren Sinn hat die männliche Mähne aber nicht.

Ebenso zeigt sich, daß einige besonders komplizierte Methoden, Ziele zu erreichen, sinnlos kompliziert sind. Magenbremsen, die ihre Eier auf die Haut von Affen oder Menschen legen, warten dafür auf den Moment, wo das anvisierte Wirtstier zufällig von einer Stechmücke gestochen wird. Erst dann werfen sie das Ei auf die Stechmücke, aus diesem schlüpft sofort die Larve und läßt sich auf den Affen bzw. Menschen fallen. Genausogut könnte das Ei völlig ohne Stechmücke abgeworfen werden – und Magenbremsen, die ihre Eier statt auf Affen auf Rindern ablegen, tun genau das. Es gibt sehr viele solcher hochkomplizierter Arrangements, die keine Beispiele für ausgefeilte Anpassung, sondern für haarsträubend ineffiziente Technik sind.

Die Natur ist keine perfekt funktionierende Maschine. Bei Lichte betrachtet, ist sie ein großer Sauhaufen. Sie läßt Platz für viele Lebewesen, die ziemlich schlecht angepaßt sind. Sie bringt Formen hervor, deren Frühstadien und Zwischenglieder ausgeprochen nachteilig gewesen sein müssen, und die dennoch durchgekommen sind. Und was die Anpassung selbst anbelangt, so genügt es der Evolution meistens, daß Ziele irgendwie erreicht werden, sei es auch umständlich. Sie funktioniert nicht wie ein Schulmeister, der darauf beharrt, daß richtige Ergebnisse auf die richtige Art und Weise erzielt werden müssen. Sie arbeitet nicht wie ein CAD-Techniker, der nach der besten Bauweise, der optimalen Energieverwertung sucht. Sie duldet phantastische und bizarre Wege und mäßig effiziente Ergebnisse. Es reicht ihr, wenn etwas überhaupt funktioniert.

Die Natur läßt viel Platz für andere Ziele (siehe Teil 4, Juli/Aug. 97)*. Sie ist keine optimal arbeitende Firma, wo alles ständig nach Verbesserung strebt und keine Minute ungenutzt sein darf. Viele Tiere sind nach menschlichem Ermessen schockierend faul. Das Baumkänguruh verpennt 60% seiner Zeit, 30% sitzt es faul herum, und in den restlichen 10% erledigt es all das, was auch für ein Baumkänguruh unvermeidlich ist: Ernährung, Fortpflanzung, Sozialleben. Die Löwinnen haben sich ihre faulen, langmähnigen Männchen vermutlich durch ihre eigenen sexuellen Vorlieben selbst eingebrockt und mußten ein komplexes Jagdverhalten entwickeln, um die Nachteile ihrer persönlichen Obsession zu kompensieren.

Viel anders dürfte es bei der menschlichen Entwicklung auch nicht gewesen sein. Die Abweichungen der Vormenschen von den Eigenschaften anderer Primaten sind keine gerissene Anpassung, sondern folgen einem typischen Programm, das in der Evolution häufig auftritt und weitgehend eigengesetzlich ist. So wie Arten sehr schnell ihre Größe verändern können oder sich die Proportionen einzelner Körperteile zueinander verschieben, so können sie sich sehr schnell nach dem Programm der „Juvenilisierung“ (Neotonie) verändern: die Gestalt auch der erwachsenen Tiere ähnelt immer mehr dem Bauplan junger Tiere. Die Köpfe werden größer, die Gestalt schwächer, das Verhalten weniger aggressiv, die Körperform weicher und abgerundeter. Solche Veränderungen brauchen keinen stetigen neuen Impuls durch Mutation und Selektion, für sie genügen offenbar relativ geringfügige einmalige Veränderungen, aus denen dann ein verändertes genetisches Programm entsteht. Wenn ein solcher evolutionärer Entwicklungsweg einmal beschritten ist, verstärkt er sich eigendynamisch nach dem Muster der Selbstorganisation, ohne weitere Mutation oder Auslese durch äußere Faktoren.

Daß ein Affe mit großem Kopf, schwachen Gliedmaßen, weniger Haaren und einem komischen Becken sich durch äußere Anpassung entwickelt hat, ist äußerst unwahrscheinlich; ebenso unwahrscheinlich ist, daß solche Veränderungen durch die zunehmende Intelligenz und komplexere Sozialstruktur notwendig geworden wären. Man braucht zum Denken keinen großen Kopf, und dünne Arme fördern nicht das Sozialverhalten. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es umgekehrt: unsere Abkehr vom typischen Primaten vollzog sich, weil unsere Vorfahren mehr auf weichere Rundungen und gemäßigte Umgangsformen standen als auf Ganzkörperbehaarung. Der Rest war ein Versuch, mit den nachteiligen Folgen dieser sexuellen Obsession fertig zu werden: durch differenzierteres Sozialverhalten und der Not gehorchende geistige Anstrengungen.

Die Evolution verwirklicht keineswegs das Notwendige. Sie verwirklicht das Mögliche. Sie duldet andere Ziele – kulturelle und sexuelle Selektion – und irrationale Vorlieben. Die Natur ist nicht perfekt; sie ähnelt, wenn überhaupt, einer uralten Maschine, die immer wieder neu geflickt wurde, mit immer aberwitzigeren Ergänzungen, und die schließlich eine überraschende neue Funktion erfüllt – manchmal. Eine Art muß keineswegs großartig angepaßt sein, um sich zu entwickeln – es reicht, wenn sie durchkommt. Ohne diese Gelassenheit der Evolution, ohne diese Schlampigkeit der Natur, ohne den Eigensinn ihrer Arten, würde sich überhaupt nichts entwickeln. Ein Optimierungsprogramm für einen Affen würde niemals auf einen Menschen kommen. Wenn alle Individuen und alle Arten zu jedem Zeitpunkt einem Kampf ums Dasein unterworfen wären, der nur die „fittesten“ durchläßt, käme überhaupt nichts neues durch. Jede Veränderung neigt dazu, erst einmal weniger fit zu sein.

Weil die Natur keine perfekte Maschine ist, läßt sie sich auch nicht wie eine perfekte Maschine behandeln. Je genauer die Kontrolle über die Natur wird, je raffinierter wir ihre Arten erhalten, ihre ökologischen Lücken füllen, sie mit einer komplizierten Naturschutzstruktur trotz äußerer Einengung am Leben erhalten – desto mehr hört sie auf, Natur zu sein. Die perfekt gemanagte Natur, die zu höchster Effektivität von Nutzung und Naturschutz optimiert ist, durchläuft keine Evolution mehr. Sie hat keinen Platz mehr für das Überflüssige und Unnütze, und deshalb entwickelt sie sich nicht mehr. Deshalb wird sie auch, wenn wirklich äußerer Streß auftritt, nicht mehr in der Lage sein sich anzupassen: sie hat kein Reservoir schräger Vögel mehr, die dann plötzlich ungeahnte Vorteile erhalten. Je besser ein Natursystem gemanagt wird, desto leichter stürzt es ab, wenn es äußeren Veränderungen unterworfen ist. Das ist der Grund, warum unsere mitteleuropäischen Kunstwälder Schadstoffeintrag, Klimaveränderung und Eutrophierung weit schlechter vertragen als der angeblich so empfindliche Regenwald.

Die perfekt nachgeahmte und nachgebaute Natur bleibt tot, weil sie keine Geschichte hat. Der Nachbau von Ökosystemen ist daher praktisch unmöglich, das Aussetzen von in Gefangenheit oder im Genlabor gezüchteten Populationen äußerst problematisch. Der Anspruch des wissenschaftlichen Naturmanagements, der Natur aufgrund tiefgehender Einsicht künstliche Prothesen verpassen zu können, kann nicht eingelöst werden. Hocheffizientes Naturmanagement führt zu einer Pseudo-Natur, deren Evolution, Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit blockiert ist, die auf beständige Pflege angewiesen und immer dicht an der Katastrophe gebaut ist.

Christoph Spehr

Literatur:

James Gleick: Chaos – die Ordnung des Universums, München 1990.

Clive Ponting: A Green History of the World, New York 1992.

Christoph Spehr: Die Jagd nach Natur, Frankfurt/Main 1994.

Robert Wesson: Chaos, Zufall und Auslese in der Natur, Frankfurt/Main 1995.

Gekürzt und bearbeitet aus:

Christoph Spehr, ”Die Ökofalle –

Nachhaltigkeit und Krise”, Promedia

Verlag, Wien 1996, 240 S., 34,- DM.


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