Kurze Anleitung zur Abwicklung des Nordens

Aus DER RABE RALF Februar 1999

Kein Blut für Öl
1. Unterbinden von Interventionen

Der zentrale Punkt ist die Fähigkeit des Nordens zur militärischen Intervention: zur ultima ratio, seinen Zugriff durchzusetzen. Indem sie geschwächt und blockiert wird, wird der Weg eröffnet, daß der Süden sich seine Natur und Arbeit selbst aneignet, anstatt sie bis zur völligen Verwüstung auszuliefern.

Bei den Demos zur Zeit des Golfkriegs fand die Parole „Kein Blut für Öl“ den größten Zuspruch. Heute wäre die Erweiterung „Kein Blut für Öko“ angebracht. Die militärtechnologischen Möglichkeiten des Nordens sind eindrucksvoll, die politische Durchhaltbarkeit von Einsätzen ist jedoch begrenzt. Die „chirurgische“ Kriegsführung gegen Angriffsziele im Süden, auf die hin aufgerüstet wird, darf kaum eigene Tote fordern, und sie darf auch nicht länger als ein paar Tage dauern – bevor Unruhe und Widerstand im eigenen Land sich formieren. Weder konnten die USA die Besetzung Somalias durchhalten, noch wagt die mexikanische Regierung eine Bombardierung von Chiapas, da der politische Rückschlag unkalkulierbar wäre. So hoffnungslos überlegen die Aufrüstung militärisch erscheinen mag, so sehr ist sie Ausdruck einer Schwäche. Der Widerstand gegen den Vietnamkrieg hat hier eine historische Grenze gezogen, welcher Grad von offener Eskalation den Staaten des Nordens möglich ist und welcher nicht.

Unfähigkeit zur Intervention ist nicht nur eine Frage militärischer, sondern auch ökonomischer und finanzpolitischer Abrüstung. In den letzten Jahren hat es keinerlei Reformen in diese Richtung gegeben. Es ist aber auch keineswegs gesagt, daß eine Begrenzung der Instrumente (Verschuldung, Strukturanpassung, Freihandelszwang über WTO und GATT) auf formal-offiziellem Wege erfolgen muß. Viel wahrscheinlicher ist, daß es bei steigendem innenpolitischem Druck in Ländern des Südens zu einseitigen Aufkündigungen kommen wird. Auch die ökonomische und die finanzpolitische Abrüstung wird sich daher in letzter Instanz daran entscheiden, ob dem Norden eine militärische Option zur Verfügung steht oder nicht.

Die Möglichkeiten der indirekten Kontrolle lösen sich unter dem Druck der sozial-ökologischen Krise zusehends auf. Die direkte militärische Kontrolle wird wichtiger. Daher wird in Zukunft eine stärkere Propaganda dafür betrieben werden, zu intervenieren und die Verhältnisse mit Gewalt zu ordnen. In jedem Einzelfall wird es Dutzende vermeintlich gute Gründe geben. Aber in Wahrheit gibt es keinen guten Grund. Der Wegfall der militärischen Drohung und der militärischen Unterstützung für Regierungen ist der einzige Weg, einer Neuordnung „von unten“ Raum zu geben. Kein „fairer“ Preis fürs Öl und kein umweltpolitisches Engagement von Shell werden das ökologische Desaster im nigerianischen Ogoni-Delta beenden, sondern die Aufkündigung der militärischen, politischen und finanziellen Unterstützung für das nigerianische Regime wird den Weg für eine Umgestaltung freimachen.

Es besteht kein Zweifel, daß eine Politik der Nicht-Intervention über kurz oder lang zu einer Verteuerung von importierten Rohstoffen und Waren führt. Dies ist ökologisch und binnenwirtschaftlich durchaus zu begrüßen. Vor allem aber entspricht es einer sehr direkten Interessenlage. Natürlich will niemand sterben für Öl, Uran oder Tropenholz. Natürlich will niemand seine Angehörigen dafür sterben sehen. Eigentlich möchte sich auch niemand durch Anschläge militanter Gruppen hochjagen lassen (ob im Urlaub oder zu Hause), wie sie durch die Politik der Intervention und die Unterstützung unterdrückerischer Regime unweigerlich provoziert werden, ob man das nun gutheißt oder nicht. Schließlich werden auch die Kosten für immer neue Spiralen der High-Tech-Aufrüstung immer schmerzlicher zu Buche schlagen.

Die Gründe, die einen aktiven Widerstand gegen die Politik der Intervention hervorrufen, gehen aber darüber noch hinaus. Wir erkennen instinktiv, daß der militärisch-logistische Apparat, mit dem gegen andere Gesellschaften Krieg geführt wird, genauso gegen uns selbst gerichtet ist. Jede Festung gleicht mit der Zeit einem Gefängnis, und im Haus des Henkers darf vom Strick nicht geredet werden. Es ist unser wohlverstandenes Interesse, nicht in einem Staat leben zu wollen, der nach außen Krieg führt und im Inneren einen permanenten Belagerungszustand aufbaut.

Kein Standort. Nirgends
2. Zurückdrängung des Weltmarktsektors

Das zweite Prinzip der Abwicklung ist die Zurückdrängung des „globalen Sektors“ im eigenen Land. Dieser Sektor, der weiterhin für die Weltmarktkonkurrenz auf globalen Märkten arbeitet, nebst all den Instanzen und Institutionen, die an ihm hängen, muß begrenzt und zurückgedrängt werden. Der „Standort“-Druck, der die Gesellschaft durchzieht, ist allein diesem Sektor geschuldet. Der Poker mit Weltmarktanteilen wird letztendlich immer von der Bevölkerung bezahlt.

Aber auch da, wo augenscheinlich profitabel global gewirtschaftet wird, geht die Rechnung nicht auf. James O’Connor hat darauf hingewiesen, daß städtischer und regionaler Raum, Flächen und Infrastrukturen, Gegenstand immer härterer Auseinandersetzungen zwischen sozialen Bewegungen und multinationalen Konzernen geworden sind. Zurückdrängung oder Ausbreitung des globalen Sektors bekommt hier eine sehr anschauliche Bedeutung. Wo früher in den Städten die Landesfürsten und Patrizier residierten, sitzen heute die Verwaltungs- und Leitungszentralen international operierender Konzerne, Banken und Versicherungen. Es ist ihr gutbezahltes Personal, das sich die attraktiven Wohnlagen in den Großstädten und deren Umgebung unter den Nagel reißen kann. Weiter draußen verläuft die Auseinandersetzung um Riesen-Flughäfen, Schnellbahnstrecken und Autobahnen – die ja nicht wegen der Urlaubs-Staus ausgebaut werden, sondern damit das mobile Geschäftspersonal just in time seine Einsatzorte erreichen kann. Gleichzeitig werden die Innenstädte von sichtbar Unangepaßtem gesäubert.

Vielleicht eine der übelsten, weil subtilsten Folgen des globalen Sektors ist, daß er jede andere Form des Wirtschaftens zerstört. Da er jeden Preis bezahlen kann, richten sich alle Preise nach ihm. Da er mit höchster internationaler Ausbeutung operiert, können seine Waren jedes regionale Produkt unterbieten. In der Praxis ist es längst so, daß nur noch die Bereiche existieren können, die ihm direkt oder indirekt zuliefern und darüber ein Scheibchen vom Monopolprofit abbekommen, oder die mehr oder weniger von Staatszuschüssen leben. Nichts rechnet sich mehr. Ob es sich um ein alternatives Zeitungsprojekt handelt oder um ein gestandenes mittelständisches Speditionsunternehmen: man wird (materieller oder ideologischer) Zulieferer oder macht dicht. Deshalb können Gegenden, aus denen der globale Sektor abgezogen ist, plötzlich eine erstaunlich regsame Wirtschaftsaktivität entfalten. Deshalb ist eine der zerstörerischsten Formen, in denen sich die Herrschaft des globalen Sektors ausdrückt, die Herrschaft der Frustration. Wer Glück hat, kann trotz Krise bis jetzt noch einigermaßen leben. Aber man kann nichts machen, nichts auf die Beine stellen, was über eine Schreibmaschine im Keller oder eine fliegende Würstchenbude hinausgeht.

Den globalen Sektor zurückzudrängen, wäre für eine entschlossene regionale und nationale Politik kein Problem. Es würde keine neuartigen Instrumente benötigen. Die Zurückdrängung würde sich vollziehen können über De-Investition, De-Subventionierung, Flächenverweigerung, Besteuerung etc. Es wäre nur logisch, Gewinne aus dem Preisgefälle zwischen Inland und ausländischer Billigarbeit höher zu besteuern als im Inland erwirtschaftete Umsätze. Mit dem Geld wäre eine regionale Produktion (mit regionalem Absatz) zu subventionieren – so lange, bis die zerstörerische Preiskonkurrenz des globalen Sektors sich durch seine Schrumpfung erledigt hat.

Eine solche Politik als staatliche Politik ist derzeit noch nicht in Sicht. Vorläufig ist es Sache der sozialen Bewegungen, die sozialen und ökologischen Kosten des globalen Sektors inakzeptabel zu machen. Die Auseinandersetzung um die Castor-Transporte hat gezeigt, wie sozialer Protest und regionale staatliche Unterstützung zusammenwirken können und welches Potential dann allein in der schlichten Verweigerung von staatlichen Sonderleistungen (z.B. Polizeischutz) liegen kann. Menschen haben gute Gründe, ihre Region oder Stadt als „globalen Wirtschaftsstandort“ zu schädigen, zu blockieren und in Verruf zu bringen. Sie tun es auch bereits – meistens da, wo es um internationale Großprojekte geht, von der Olympiade in Berlin bis zur Expo in Hannover.

Ein noch härteres, weil zentraleres Feld der Auseinandersetzung um die Zukunft des globalen Sektors ist die Kontrolle und Begrenzung der High-Tech-Entwicklung. Gegenwärtig und noch auf lange Zeit wird es sich dabei hauptsächlich um die Gen- und Biotechnologie drehen. Wie die Geschichte der Atomwirtschaft gezeigt hat, sterben die technologischen Offensiven des globalen Sektors nicht dadurch, daß irgendein Parlament darüber entscheidet. Sie ersticken irgendwann an den Kosten, die ihnen rechtliche Auflagen, soziale Auseinandersetzungen und politische Behinderungen auferlegen. Dies wäre im Fall der Atomwirtschaft bereits einige Jahre früher der Fall gewesen, wenn es nicht die Markterweiterung in den Osten gegeben hätte.

Leistung darf sich nicht mehr lohnen
3.Privilegien der formalen Erwerbsarbeit abschaffen

Das dritte zentrale Instrument, das den Zugriff des nördlichen Herrschafts- und Gesellschaftssystems auf Natur und Arbeit ermöglicht, ist die Bevorrechtigung der formalen Arbeit. Dies geht weit über die massive Unterstützung für den Exportsektor hinaus.

Die klassische Erwerbsbiographie – lebenslange Tätigkeit auf Arbeitsstellen in Industrie, Dienstleistung oder Verwaltung, mit formalem Arbeitsvertrag, geregelter Arbeitszeit und Urlaubstagen, gewissen Arbeitsschutzrechten und „Vollzeit“ – ist längst einer Minderheit vorbehalten. Trotzdem orientiert sich das gesamte Sozialsystem an der Fiktion, diese Erwerbsbiographie sei der Regelfall. Wer Zugang zu dieser „formalen Erwerbsarbeit“ hat, verfügt über Möglichkeiten, die andere nicht haben – Rentenansprüche, Ruhe vor Arbeits- und Sozialämtern, Kredit- und Mietwürdigkeit, soziales Ansehen und eine relativ freie Verfügung über Einkommen und Besitz, einschließlich der Möglichkeit von Nebenjobs.

Für alle anderen gilt das nicht. Wer arbeitslos, in der Reproduktionsarbeit (Haus, Kinder) tätig, zu alt, zu jung, Bezieher von staatlichen Zusatzleistungen oder ohne Arbeitsvertrag beschäftigt ist, gehört nicht zu den derart freien „Bürgern“.

Dies ist gleichermaßen ein soziales und ein ökologisches Problem: Menschen werden desto mehr Rechte und Freiheiten zugemessen, je mehr Materialumsatz und Stoffdurchlauf sie produzieren. Auch hier ist der Schlüssel das Herrschaftsverhältnis, das durch die Bevorrechtigung der formalen Arbeit errichtet wird – und dessen Zugriff auf Leben und Zeit der anderen zurückgedrängt (statt besser verwaltet) werden muß. In diesem Fall wäre das Mittel, das von staatlicher Seite eingesetzt werden könnte, eine allgemeine Grundsicherung. Und zwar für alle, ohne Bedingung, außer der, keinen Vollzeitjob im formalen Sektor zu haben. Was sich in den sozialen Beziehungen zwischen den Menschen abspielt, wie dort Herrschaftsstrukturen abgebaut werden, kann von staatlicher Politik nicht geplant werden. Der springende Punkt ist jedoch die Unabhängigkeit: die Möglichkeit, aus eigenen Bezügen angemessen überleben zu können. Allein diese Möglichkeit setzt eine Dynamik frei, Ansprüche stellen und Konsequenzen ziehen zu können.

Auch diese Maßnahme trifft der Staat bisher nicht. Aber die Menschen arbeiten daran, auf sehr verschiedene Weise, im Rahmen verschiedener sozialer Bewegungen. Die Arbeitsplatzschaffung durch alternative städtische Projekte gehört dazu, mit ihrer Beschaffung von staatlichen Zuschüssen, Förderungen, Spenden, begrenzten kommerziellen Einnahmen usw. Die subsistenzorientierten Lebens- und Arbeitsprojekte auf dem Land gehören dazu. Die konkrete Unterstützung von „offiziellen“ und „illegalen“ Flüchtlingen, wie sie die Anti-Rassismus-Bewegung praktiziert, gehört dazu. Es gibt eine Menge solcher Beispiele. Sie alle schaffen unabhängige Existenzmöglichkeiten jenseits der Zumutungen des formalen Arbeitssektors, gerade für Menschengruppen, die dort keine Chance haben.

Es geht auch nicht nur um „Arbeitsplätze“. Es geht um den gesamten Bereich des Verteilungskampfes, mit all seinen Instrumenten: politischen Protesten, finanzpolitischen Anträgen, Formularen, Eingaben, Beratungen – wo auch immer der staatliche Sparkurs gegen die „Informellen“ unterlaufen, konterkariert, ausgehöhlt und zurückgewiesen werden kann. Es geht auch um den Aufbau von sozialen Beziehungen und Organisationsformen, die mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung brechen und die Arbeitsteilung zwischen „Leistungsträgern“ und „Zulieferpersonal“ nach und nach aufheben.

Das wesentliche dabei ist nicht, daß diese Einrichtungen, Beziehungen und Netze „ökologischer“ sind als die Fabriken des formalen Sektors (obwohl sie das auch sind), sondern daß Menschen ihre Erpreßbarkeit abbauen und die Privilegien der formalen Arbeit systematisch unterlaufen. Sie arbeiten daran, ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis zu begrenzen und zurückzudrängen, das für die soziale und ökologische Krise verantwortlich ist. Sie sorgen dafür, daß sich „Leistung nicht mehr lohnt“, nämlich die „Leistung“ im formellen Sektor sich nicht mehr lohnt als jede andere. Das ist auch das Kriterium für die Bewertung dieser Versuche: ob sie mehr Unabhängigkeit schaffen und den Verteilungskampf mit dem formellen Sektor nicht scheuen. Das Im-Stich-Lassen der „Leistungsträger“ durch die Aufkündigung autoritärer Beziehungen (privat und beruflich) gehört genauso dazu wie der lokale Kleinkrieg für die soziokulturellen Etats und gegen die „wirtschaftspolitischen“ Etats. Denn auf Dauer kann die Selbstorganisation allein nicht ausreichen, wenn sie nicht eine hinreichende Unterstützung auch von staatlicher Seite (z.B. im lokalen und regionalen Rahmen) durchsetzt.

Land und Freiheit
4. Direkte Aneignung von Räumen und Organisationsformen

Die mexikanische Revolution von 1911 hat den vielzitierten Ruf nach „Land und Freiheit“ geprägt. In den Ländern der „Dritten Welt“, vor allem den schwach industrialisierten und von bäuerlicher Ökonomie bestimmten Regionen, ist der Zusammenhang offenkundig: es gibt keine Freiheit ohne die Verfügung über Land, und es gibt kein Land ohne von unten durchgesetzte Freiheit. Beides ist Bedingung für eine unabhängige Entwicklung, für die Verfügung über die eigene Natur und Arbeit.

Die Formel “Land und Freiheit” gilt auch für die hochindustrialisierten Länder, aber sie ist übersetzungsbedürftig. Land ist auch hier nicht unwichtig, aber man muß der Tatsache Rechnung tragen, daß die Industrieländer in hohem Maße verstädtert, industrialisiert, arbeitsteilig organisiert und – auch in ihrer sozialen Kommunikation – technisiert sind. „Land und Freiheit“ bedeutet hier die Wiederaneignung von Räumen und Organisationsformen, die Selbstbestimmung und Selbstversorgung auf allen Ebenen.

Es geht darum, unabhängige Strukturen für die Versorgung wichtiger Bedürfnisse aufzubauen und dafür die nötigen Erfahrungen, materiellen und organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen. Das ist das Gegenmodell zum obrigkeitlichen Fürsorge- und Allmachts-Staat, der mit „seinen“ nationalen Ressourcen Geschäfte auf dem Weltmarkt macht und davon die Versorgung „seiner“ Bevölkerung bestreitet.

Es gibt eine Menge Versuche, wo sich Leute städtische und ländliche Räume aneignen und eigene Netze aufbauen: Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften und lokale Tauschringe, unabhängige Landkommunen und städtische Hausbesetzungen, autonome Medien und Bildungseinrichtungen, regionale Märkte und selbstorganisierte Kinderbetreuungen usw. Sie alle stoßen beständig an rechtliche, politische oder eigentumsmäßige Grenzen, die zu überwinden sind.

Eine staatliche Politik der Abwicklung müßte diese Grenzen beiseiteschaffen: durch eine grundlegende Liberalisierung der staatlichen Aufsichtsinstanzen und Normierungsvorschriften und durch eine Bereitstellung von Räumen und Unterstützung. Bisher ist ja fast alles verboten, was in diesen Bereich selbstorganisierter Gestaltungsmacht fällt, weil es irgendwelche DIN-Normen und Gewerbeaufsichtsvorschriften nicht erfüllt, wettbewerbsverletzend ist oder sich mit privaten Eigentumsrechten beißt. Solange es keine derartige staatliche Politik gibt, ist es Sache der sozialen Bewegungen und ihrer Organisationen, den Bereich unabhängig angeeigneter Räume und Strukturen zu verteidigen und auszudehnen.

Global denken, lokal essen
5. Maßnahmen zur direkten Überlebenssicherung

Die bisherigen Prinzipien der Abwicklung sind eher Maßnahmen einer indirekten Steuerung – sie verschieben Kräfteverhältnisse zwischen Nord und Süd, globalem und regionalem Sektor, “Leistungsträgern” und Bevölkerungsmehrheit, Vormundschaftsstaat und Selbstorganisation. Sie geben keine stofflichen Gestaltungsinhalte vor und machen keine ökologische „Verbesserungspolitik“. Darüber hinaus gibt es jedoch einen Bereich von Maßnahmen, die einen konkreten Gegenstand haben und darauf abzielen, ökologische Überlebenssicherung zu betreiben. Sie betreffen alle die Nahrungsmittelversorgung. Es sind dies eine Verringerung des globalen Flächenzugriffs des Nordens, die Herausnahme der Grundnahrungsmittel aus dem Weltmarkt und die sogenannte „Entkolonisierung des Nordens“.

Eine unabhängige Überlebenssicherung in anderen Teilen der Welt ist nur möglich, wenn der exzessive Flächenzugriff des Nordens in Ländern des Südens zurückgedrängt wird. Eine Benutzung dieser Flächen als Exportplantagen für Früchte, Schnittblumen oder demnächst vielleicht für eine exportorientierte Energieproduktion ist aus ökologischen und sozialen Gründen nicht hinnehmbar. Der Import solcher Plantagenerzeugnisse ist daher schlicht zu beenden beziehungsweise auf ein Minimum einzuschränken.

Das gleiche gilt für den Handel mit Grundnahrungsmitteln auf dem Weltmarkt. Die Folgen für die einheimischen Nahrungsmittelmärkte und damit für die Ernährungssicherheit der Bevölkerung sind so verheerend, die Verschleuderung von Ressourcen durch Transport und Lagerhaltung so offenkundig, daß es auch hier keine Alternative dazu gibt, Grundnahrungsmittel nicht mehr global handelbar zu machen. Die Gesundheitsgefährdung, wenn Grundnahrungsmittel nach den Maßstäben weltweiter Preis- und Angebotskonkurrenz produziert und vertrieben werden, ist mittlerweile auch in den Industrieländern spürbar geworden – am BSE-verseuchten Rindfleisch ganz augenfällig, an den unkalkulierbaren Folgen gentechnisch erzeugter Nahrungsmittel und hochdosierter Konservierungsmittel bislang noch weniger spektakulär. In diesen Bereichen bedeutet Abwicklung daher tatsächlich Gestaltung durch direkte Verbote – wenn nicht durch staatliche Politik, dann durch einen konsequenten Boykott von Seiten sozialer Bewegungen und Organisationen.

Die Konsequenz ist, daß der Bereich der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln in den Industrieländern selbst gezielt wiederaufgebaut werden muß. Das meint der von Vandana Shiva geprägte Begriff der „Entkolonisierung des Nordens“. Die Folgen des neokolonialen Systems sind auch im Norden spürbar: ohne Nahrungsmittelimporte aus den Ländern der „Dritten Welt“ und ohne die Möglichkeiten einer extrem chemisierten und technisierten Landwirtschaft wäre die Überlebenssicherheit der Bevölkerung sofort gefährdet. Wenn der Welthandel mit Grundnahrungsmitteln eingestellt werden soll, dann reicht es nicht aus, darauf zu warten, daß sich die Nahrungsmittelversorgung auch im Norden irgendwann von allein wieder einpendelt. Dieser Prozeß der Umstellung muß abgesichert und der Aufbau eigener Versorgungsstrukturen gezielt beschleunigt werden.

Dies alles ist ein weitgespanntes Programm, aber es ist weder unrealistisch noch beliebig. Es sind die Punkte, auf die es ankommt, wenn für Auswege aus der sozial-ökologischen Krise bei den Herrschaftsverhältnissen angesetzt wird und nicht bei autoritärer Modernisierung und Verschlankung.

Im Unterschied zu klassischen Formulierungen einer subsistenzorientierten Entwicklung spielen Konsumverzicht und persönliche Öko-Moral bei der Abwicklung keine große Rolle. Es wird auch keine Enttechnisierung und private Selbstversorgung als Wert an sich angestrebt. Der landwirtschaftliche Sektor würde sich mit Sicherheit personell und flächenmäßig erheblich ausdehnen, und Strukturen partieller oder ergänzender Selbstversorgung würden sich verbreiten. Aber die ausschließliche Selbstversorgung in Form kleiner Lebens- und Arbeitsgemeinschaften wäre keineswegs zwingend. Wie eine Gesellschaft ihre Produktion regelt, welche Produktionsgüter ihr wichtiger sind, welchen Grad von Urbanisierung sie sinnvoll findet, ob sie lieber mehr Marmelade oder lieber mehr E-Gitarren herstellt – dies bliebe ihr selbst überlassen, solange sie dies nicht auf Kosten anderer Gesellschaften tut.

Als individuelle Orientierung heißt Abwicklung, unabhängiger zu werden. Sich im Zweifelsfall für Strategien zu entscheiden, die auf das setzen, was aus eigener Kraft oder direkter gemeinsamer Organisation mit anderen erreicht werden kann, anstatt auf die vagen Zukunftsversprechungen, die von der herrschenden Ordnung noch angeboten werden. Es ist nicht die Suche nach dem umfassend korrekten, ökologisch einwandfreien Leben. Es ist die Suche nach mehr Unabhängigkeit, aber auch nach persönlicher „Abrüstung“, nach weniger Zwang zur Selbstzurichtung.

Christoph Spehr

Literatur:

Christa Müller: Ökokapitalismus. Die blinden Flecken der Nachhaltigkeits-Debatte, in: FORUM entwicklungspolitischer Aktionsgruppen 201, Bremen 1996.

James O’Connor: Kein Ausweg? Die Ökonomie der 90er Jahre, in: Prokla 88, Berlin 1992

Aus: Christoph Spehr, ”Die Ökofalle –

Nachhaltigkeit und Krise”, Promedia

Verlag, Wien 1996, 240 S., 34,- DM.


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