Aus DER RABE RALF Mai 1996
In unseren Städten, den Zentren der modernen Industriekultur, gibt es einen merkwürdigen Widerspruch. Die Menschen, die diese Zivilisation als den Gipfel des Fortschritts ansehen, die die Städte als Orte des Lebens, der Kultur, der Freiheit ansehen, verdrücken sich im Urlaub so schnell wie möglich aus eben diesen Städten und fliehen in die „Natur“, bevorzugt in den „unterentwickelten Süden“, wo der „Weiße Mann“ noch nicht seine Fußstapfen hinterlassen hat. Waren das Ziel dieser Massenflucht zunächst die warmen Strände Spaniens, Italiens, Tunesiens, der Türkei oder auch – allerdings immer weniger – die „zurückgebliebenen“ Dörfer im eigenen Land, so lesen wir auf den Seiten „Reise und Urlaub“ in unseren tageszeitungen zunehmend von Abenteuer- und Expeditionstourismus zu „Höhlenmenschen“, „Kannibalen“, „wilden Kopfjägern und Steinzeitmenschen“ in Malaysia, auf den Philippinen, auf Papua-Neuguinea, am Amazonas und so weiter. Hier kann sich der verwöhnte Wohlstandsmensch dann fühlen wie Kolumbus, sozusagen Brust an Brust mit der Wildnis. Und wie die frühen Abenteurer und Piraten des 16. bis 18. Jahrhunderts „erschließen“ sie diese „jungfräulichen“ Gebiete für die Zivilisation, sprich Tourismusindustrie, und ruinieren sie dabei.
John Wayne auf Trekking-Tour
„Sie zerstören, was sie suchen, indem sie es finden.“1 Oder: Der frustrierte kleine Angestellte nimmt teil an einer Western-Abenteuer-Tour, organisiert vom Zigarettenkonzern Marlboro, und „plötzlich bist du wie John Wayne“.2
In die gleiche Sparte gehört auch der „ländlich integrierte Tourismus“ im Senegal, wo die europäischen Touristen hautnah mit den „Eingeborenen“ in den Dörfern zusammenwohnen – in Hütten nach afrikanischer Bauweise, mit einem Minimum des für Europäer gewohnten Komforts, mit afrikanischem Essen, Verzicht auf fließendes Wasser – und wo die europäischen „mit den afrikanischen Kindern zusammen spielen. Afrika zum Anfassen“ sozusagen.3
Oder warum organisiert der Deutsche Alpenverein Trekking-Touren in Ladakh, wobei die deutschen Touristen nicht nur Durchfall und Krankheiten in Kauf nehmen, sondern sich auch gebührend als Herren gegenüber den einheimischen Bergführern (Zitat: „Alles nur Drecksäcke“) aufführen können?4
Doch ähnlich werden auch die „Ferien auf dem Bauernhof“ angepriesen: Welches Programm darf es sein für die Zivilisationsflüchtigen, die zum Beispiel „Naturlaub“ auf einem Bauernhof in der Eifel verbringen wollen? Das Urlaubsmenü bietet an: „Auf Du und Du mit Pferd und Kuh“, „Mit dem Förster durch den Wald“, „Aufstehen mit dem Hahnenschrei“ – alles für fünfzehn Mark, Frühstück inklusive. Nicht nur die Landschaft dürfen die Touristen bewundern, sondern auch das echte Bauernleben, wo die Butter noch mit der Hand gedreht und die Wurst noch selbst gemacht wird. Und sie genießen die alten Geschichten, die ihnen die wenigen übriggebliebenen Bäuerinnen von den schlimmen Schmuggelzeiten erzählen. „Hier können Städter einen Traum vom Landleben träumen.“5
Nur die Realität dürfen sie nicht kennenlernen – nämlich, daß diese kleinen Bauernhöfe jetzt endgültig durch die Liberalisierung des Nahrungsmittel-Weltmarktes ruiniert werden und daß nur wenige von ihnen für einige Zeit durch solche „Museumsprogramme“ für verwöhnte Touristen überleben können. Kaum vorstellbar, daß solche Touristen auf die Idee kämen, aus ihrer nostalgischen Zuschauerrolle herauszukommen und den Bauern bei ihrer Arbeit zu helfen – gewissermaßen als Ersatz für die fehlenden Maschinen, die ja nicht in die Idylle passen.
Wilder Geruch fremder Menschen
Ein weiteres Beispiel: Bei einer Party in Köln drehte sich die Unterhaltung darum, in der Stadt möglichst auf das Auto zu verzichten und die Straßenbahn zu benutzen. Eine etwa vierzigjährige Frau wies dieses Ansinnen empört zurück: Es wäre doch nicht zumutbar, dem Geruch fremder Menschen, die neben einem säßen, so ausgesetzt zu sein. Da würde sie noch lieber zu Fuß gehen. Dieselbe Frau berichtete davon, daß sie jedes Jahr ihren Urlaub in Nepal auf Trekking-Touren verbringe.
Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Was geht hier eigentlich vor? Wieso bleiben die Menschen, die die Zähmung der Natur, die Errungenschaften der Zivilisation, der „Moderne“, für so segensreich und unverzichtbar halten, in ihrer Freizeit nicht in ihren Städten voller Kaufpaläste, Autos, Fernseher, Kinos, Theater, Büros, Hochhäuser und Banken? Warum sehnen sie sich immer noch – oder wieder – nach dieser „wilden“ und „unberührten“ Natur, die sie andererseits gerade durch diese Sehnsucht zerstören?
Folgen wir einmal den Spuren dieser Sehnsucht, dann stellen wir zunächst fest, daß die Utopie der Moderne, die westliche Zivilisation, die in unseren Städten realisiert worden ist, offenbar ein Betrug ist. Zumindest läßt sie ein Gefühl tiefen Unbehagens, tiefer Unzufriedenheit, ja gar der Verzweiflung zurück, das inmitten des Warenüberflusses nicht befriedigt weden kann, das im Gegenteil als Gefühl des ständigen Mangels, des Unglücklichseins, der Armut – und zwar zunehmend auch des materiellen Mangels – empfunden wird.
Nun wird aber nicht versucht, die Sehnsucht nach „wilder Natur“ dort zu befriedigen, wo wir uns befinden, nämlich in den städtischen Zentren der westlichen Zivilisation. Das würde nämlich bedeuten, daß wir auch hier das täten, was wir im Urlaub genießen, zum Beispiel zu Fuß gehen anstatt Auto zu fahren oder zumindest den „wilden“ Geruch fremder Menschen in der Straßenbahn der sterilen Einsamkeit des eigenen Wagens vorzuziehen, wodurch dann wieder die Stadtluft entgiftet würde. – Nein, die Sehnsucht richtet sich nicht auf die Natur, die wir selbst sind oder die – wenn auch in Resten – um uns herum ist, sondern ausdrücklich auf die Natur „dort draußen“, außerhalb der Zivilisation, „in den Kolonien“, in den gerade deshalb als „rückständig“ bezeichneten Ländern Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas.
Zur Ernte aufs Dorf?
Ähnliches können wir in bezug auf die Sehnsucht nach dem Land, nach der möglichst unberührten Landschaft sagen. Auch die Natur um unsere Städte herum wird seit dem 18. Jahrhundert zunehmend nur als Hinterland der Städte angesehen, das einerseits zwar die Nahrung für die Stadtbevölkerung liefern soll, aber – ähnlich wie die Kolonien – bedenkenlos ausgebeutet wurde und darum als rückständig gilt. Trotz dieser Abwertung der Natur und des Landes und der damit verbundenen Abwertung der Bauern und ihrer Arbeit, durch die die lebensnotwendige Erzeugung von Nahrung aufrechterhalten wird, richtet sich auf eben dieses Land die Sehnsucht der Städter und Städterinnen.
Hier ist aber wiederum festzustellen, daß die Menschen nicht versuchen, diese Sehnsucht dadurch zu befriedigen, daß sie tatsächlich wieder auf dem Lande arbeiten, wie es zum Beispiel noch vor ein paar Generationen üblich war. Damals fuhren die Arbeiter aus den Städten im Urlaub in „ihr Dorf“ und halfen dort den daheimgebliebenen Verwandten bei der Ernte. Ebenso die Kinder. Und als Erwachsene schwärmen sie heute noch von diesen Ferien in „ihrem Dorf“.
Die heutigen Land- und Dritte-Welt-Touristen wollen dagegen keineswegs an der zum Nahrungserwerb notwendigen Arbeit der Bauern teilnehmen. Sie wollen Natur und Landschaft nur als Zuschauer, als Konsumenten genießen. Und das können sie, solange sie Geld in der Tasche haben. Ihr Verhältnis zu fremden, exotischen Ländern wie auch dem eigenen Land ist kein produktives, sondern ein verbrauchendes. Dabei wird auch die „Wildnis“ als Ware, als Ressource betrachtet – und aufgezehrt, das heißt zerstört. Übrig bleibt der Müll.
Wenn wir uns die Befriedigung unserer Sehnsucht nach Natur auf dem Warenmarkt erkaufen wollen, können wir die Natur lediglich verkonsumieren, und die unausweichliche Folge ist: Wir zerstören, wonach wir uns sehnen.
Maria Mies
Maria Mies wuchs in einem Dorf in der Eifel auf. Sie ist Soziologin und seit mehr als 25 Jahren in der Dritte-Welt-, Frauen- und Umweltbewegung engagiert. Viele Jahre lebte und arbeitete sie in Indien. Von 1972 bis zur Emeritierung 1993 war sie Professorin an der Fachhochschule in Köln, wo sie bis heute wohnt. Der Text ist eine überarbeitete Fassung des Aufsatzes „Sie sehnen sich nach dem, was sie zerstört haben“, erschienen 1995 in „Ökofeminismus – Beiträge zur Praxis und Theorie“. Wir danken dem Rotpunktverlag Zürich für die freundliche Genehmigung.
1 Ludorf Klemens, „Sie zerstören, was sie suchen“, FR 14.1.89
2 Vera Gaserow, „Plötzlich fühlst du dich wie John Wayne“, taz 13.5.89
3 Wolfgang Meckel, „Afrika zum Anfassen“, taz 13.5.89
4 Ursula Hildebrand, „Alles nur Drecksäcke“, taz 17.9.88
5 Nicole Schmid, „Ein Ferienmenue à la carte“, FR 18.6.94