Worum es bei der Sehnsucht nach „Natur“ eigentlich geht

Aus DER RABE RALF September 1996

An dieser Stelle wollen wir die inhaltlichen Gemeinsamkeiten der verschiedenen Sehnsüchte – nach der unberührten Natur, nach Exotik, der schönen Landschaft, der Wildnis, der Frau, dem eigenen Kind usw.1 zusammenfassen. Worum geht es bei diesen ständig zunehmenden Sehnsüchten? Was wird da eigentlich gesucht?

Wildheit

Offensichtlich zunächst einmal das genaue Gegenteil dessen, was der Mythos der Moderne als positiv, erstrebenswert, zivilisiert ansieht und was das Alltagsleben in den Industriegesellschaften bestimmt. Da ist zum Beispiel die Sehnsucht nach Wildheit, das heißt nach einer noch nicht vom Menschen manipulierten, gezähmten, seinen Nutzungszwecken unterworfenen Natur.

Mütterlichkeit

Trotz aller immer wieder beschworenen Ängste vor der Natur als Chaos, als Feind, als Zerstörerin bleibt genau diese Wildheit auch Ziel der Sehnsucht. Denn gleichzeitig wird die Natur auch als die gute Natur, die Freundin, die Mutter gesucht. Dies Wissen, daß wir trotz Wissenschaft, Technik und westlicher Rationalität und Zivilisation Teil dieser Natur sind und bleiben, daß wir wie andere Tiere geboren werden und sterben und daß dies kein Unglück, sondern ein Glück ist, ist unterschwellig eben immer noch da.

Kindheit

Daneben ist auch die Sehnsucht nach der Kindheit ein wesentlicher Inhalt der Suche. Kindheit steht hier für die unkomplizierte, spontane, nicht reglementierte Beziehung zur Umwelt wie zu den Menschen. Dazu gehört natürlich auch die Suche nach Liebe, Wärme , Zuneignung ohne vorherige Gegenleistung. In der zivilisierten Gesellschaft richten sich diese Bedürfnisse fast ausschließlich auf die Frau als Mutter. Neben der ”wilden“ Frau als Ort für die sexuelle Sehnsucht ist ”die Mutter” der Ort für alle sogenannten regressiven Sehnsüchte. Wobei der psychoanalytische Begriff ”Regression” diese Sehnsüchte ja schon als etwas „Rückwärtsgerichtetes“ abwertet. Erwachsene Menschen sollen solche Gefühle und Bedürfnisse nicht mehr haben. Aber sie haben sie dennoch, und sie suchen auch ihre Befriedigung, wie und wo auch immer.

Freiheit

Mit der Sehnsucht nach der Ursprünglichkeit der Kindheit verknüpft ist die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer. Wenn wir uns diese Freiheitswünsche genauer ansehen, ist allerdings etwas anderes damit gemeint als das, was in den westlichen Demokratien gemeinhin unter Freiheit verstanden wird, nämlich Wahlfreiheit im ökonomischen und politischen Supermarkt. Der Wunsch nach Freiheit, wie er sich zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters noch artikulierte, war hauptsächlich auf Freiheit von unnötiger gesellschaftlicher Unterdrückung und Herrschaft gerichtet, nicht so sehr auf Freiheit von der Natur.2 Vielmehr sollte die bürgerliche Revolution selbst die Natur von feudaler Zwangszurichtung befreien.3

Die heutige Sehnsucht nach Freiheit ist vor allem der Wunsch, aus der Zwangsreglementierung durch die technische Industriewelt hinauszukommen, nicht bei jedem Schritt auf ein bürokratisches Ge- oder Verbot zu stoßen, den Blick nicht durch Mauern eingeschränkt zu haben. Die Ketten sind heute weniger die feudalen Ketten als die einer technisierten und bürokratisierten Lebenswelt.

Abenteuer

Die Suche nach dem Abenteuer entspricht der tiefen Neugier des Menschen, der Sehnsucht nach Überraschungen, nach Vielfalt, nach Neuem. Sie erwächst vor allem aus der Langeweile, die sich in der Industriegesellschaft gerade wegen ihres Warenüberflusses wie ein schleichendes Gift verbreitet hat. Da die Industrie diese Sehnsucht nach Neuem sehr wohl erkannt hat, versucht sie sie durch immer neue Moden zu befriedigen. Doch die Befriedigung hält nur für immer kürzere Zeiträume an. Das liegt nicht nur daran, daß die Industrie immer schneller ihre eigenen Produkte durch den Ausstoß weiterer, neuerer Produkte zum ”alten Eisen” macht und wegwirft, sondern auch daran, daß der Reiz des Neuen oft schon mit dem Kaufakt selbst erschöpft ist und die Freude an den gekauften Dingen der Langeweile Platz macht. Sie liegt letzlich am Warencharakter der Dinge selbst, die wir konsumieren.

Die Suche nach Abenteuer ist aber auch eine Reaktion auf die total reglementierte Arbeitswelt, der die meisten Menschen in den Industrieländern unterworfen sind. Es passiert halt kaum ”was Neues”. Alles wird Routine. Und es wird nicht etwa versucht, die Arbeit interessanter zu machen, sondern die Routinearbeiten werden auch noch Maschinen übertragen. Auch an den Computern macht sich nach der Anfangseuphorie und Faszination inzwischen wieder tödliche Langeweile breit. Die Sehnsucht nach Abenteuer wird umso größer.

Heimat

Die Sehnsucht nach der Kindheit, nach Mütterlichkeit geht meist einher mit einer tiefen Sehnsucht nach Heimat. Paradoxerweise wird diese Heimat sehr häufig in der Fremde, auch in den ”unterentwickelten” Ländern, auf dem Lande, in den Dörfern gesucht. Zur Suche nach Heimat gehört auch immer die emotionale Beziehung zu einer bestimmten Gegend, zu einer Landschaft.

Als Folge der Globalisierung der Wirtschaft und damit der allgemeinen Abwertung der Landarbeit und der Arbeitslosigkeit auf dem Lande hält zwar der Zug in die Städte als Orte der Zukunft, der Erwerbsarbeit, des Konsums und des modernen Lebensstils vor allem unter der Landjugend an, dennoch werden die Städte nicht mit dem Begirff Heimat verbunden. Sie bleiben Orte der Anonymität, Einsamkeit, Gleichgültigkeit. Die Abkehr vom Land und von der Landarbeit und die Attraktion des Stadtlebens haben darum als notwendige Kehrseite das Heimweh, die Sehnsucht nach Heimat, nach einer vertrauten Landschaft, nach echten Beziehungen, nach Geborgenheit usw. – selbst bei eingefleischten Städtern, die selbst keine direkten Beziehungen mehr zum Land haben. Auch bei der Fluchtbewegung aus den Städten im Urlaub spielt die Suche nach Heimat eine Rolle.

Schönheit

Ein weiterer Inhalt der Sehnsucht nach der Natur ist die Suche nach Schönheit. Offensichtlich befriedigen die Industrieprodukte das Bedürfnis nach Schönheit nicht, obwohl sie immer perfekter und luxuriöser ausgestattet sind.

Wie erwähnt, hält die Warenästhetik nicht, was sie verspricht, sondern läßt in kurzer Zeit Langeweile, Ekel oder die Sucht nach stets Neuem zurück. Alle Bemühungen um Stadtentwicklung und -verschönerung können das Gefühl (denn hier handelt es sich um Gefühle) der prinzipiellen Häßlichkeit moderner Städte nicht vertreiben.

Gesucht wird eine andere Schönheit, die nicht Kunstwerk und Menschenwerk ist, sondern die unbegrenzte Vielfalt und Veränderlichkeit der Natur widerspiegelt: Himmel, Wasser, Landschaft, Pflanzen, Tiere, Wechsel der Jahreszeiten… Im Gegensatz zur Schönheit der Waren wird der Mensch der Naturschönheit nicht überdrüssig; sie langweilt nicht, sondern überrascht immer aufs Neue – wie ein Kind.

Leben

Das Gemeinsame dieser Sehnsüchte ist, daß sie sich alle auf etwas Lebendiges, ja eigentlich auf das Leben im emphatischen Sinne richten. Die Industriezivilisation, die ja mit dem Anspruch auftrat, über das bloße Überleben hinaus das eigentliche, das reiche Leben, den Überfluß zu schaffen, befriedigt diese Sehnsucht nach Leben offensichtlich nicht. Der Waren- und Geldreichtum hat zu einer zunehmenden Verarmung geführt – nicht nur psychisch, sondern auch materiell.

Die modernen Städte sind Orte des akuten Lebensmangels, des Mangels an der Erfahrung der lebendigen Zusammenhänge. „Wir wollen leben!“ steht als Slogan auf manchen besetzten Häusern. Dahinter steht etwas, was ich die Suche nach dem lebendigen Zusammenhang nennen möchte. Die Industriezivilisation will mehr Leben schaffen, indem sie die lebendigen Zusammenhänge, die Symbiosen, die Mensch und Natur umfassen, zerstört. Diese Zusammenhänge gibt es nicht nur in der Natur, sondern auch zwischen den Menschen – zwischen Müttern und Kindern, Männern und Frauen, zwischen den Generationen -, und auch zwischen Mensch und Tier, zwischen Leben und Tod.

Entsprechend einem beschränkten Wissenschaftsbegriff werden diese lebendigen Zusammenhänge in ihre Einzelbestandteile zerlegt und dann wieder neu zusammengesetzt. Das Leben hat sich bei diesen Prozessen und ihren künstlichen Produkten zunehmend verflüchtigt. Die Sehnsucht der Ökologiebewegung, der Alternativbewegung und auch der Frauenbewegung richtet sich letztlich auf die Wiederherstellung solcher lebendigen Zusammenhänge.

Es wird zunehmend deutlich, daß der Preis für die Emanzipation von diesen lebendigen Zusammenhängen, die ja nie ohne Gewalt vor sich ging, in Einsamkeit, Beziehungslosigkeit und Identitätsverlust besteht. Das Streben nach ”besserem Leben”, vermittelt über Geld und Warenbesitz, hat in Wahrheit das Leben zerstört. Ein – wenn auch verborgener – Inhalt der Sehnsüchte ist es, sich selbst wieder als in solche lebendigen Zusammenhänge einbezogen zu fühlen. Ganzheitlichkeit ist ein anderer Begriff dafür.

Verklärung

Die Befriedigung dieser Sehnsüchte, die Bedürfnisse nach Heimat, Geborgenheit, Mütterlichkeit, Freiheit und Abenteuer werden jedoch nicht durch eigenes Tätigsein in Kooperation mit der Natur befriedigt, sondern durch den Kauf von Waren. Die Sehnsucht nach der wilden Natur wird nicht durch Landarbeit befriedigt, sondern durch Erlebnistourismus und Verklärung der Landschaft, die Sehnsucht nach Sexualität und Erotik wird nicht in der Liebe zu wirklichen Frauen befriedigt, sondern durch Sextourismus und Pornographie.

Es geht also nicht, wie oft behauptet wird, um ein ”Zurück zur Natur”, um eine Rückkehr in den Garten Eden, in paradiesische, kindliche, vormoderne Zustände, sondern es geht – mit einem Begriff von Schiller – um eine „sentimentalische“ (im Gegensatz zur naiven) Beziehung zu den genannten Inhalten, eine Verklärung und Ideologisierung, die gerade davon lebt, daß diese Inhalte nur als Bilder, als Simulation des wirklichen Lebens konsumiert werden. Das setzt voraus, daß die Menschen erstens schon von den lebendigen Zusammenhängen zu sich selbst, zu anderen und zur Natur abgetrennt wurden und daß sie zweitens Geld haben, um diese Sehnsüchte durch Konsum – nicht durch Kreativität – befriedigen zu können. Die ”Sehnsucht nach dem, was sie zerstört haben”, bedeutet in der Regel nicht, daß die Menschen prinzipiell Schluß machen wollen mit der Ausbeutung und Beherrschung der Natur zum Zwecke ihrer Verwertung bei der Herstellung von Waren. Sie wollen ja keineswegs aus der Industrie- und Warengesellschaft aussteigen, sondern sie verlangen beides: Das Geld und den Warenreichtum der Industriegesellschaft und das Glück jenes ursprünglichen Naturverhältnisses, ein wachsendes Bruttosozialprodukt und eine gesunde Umwelt, mehr Autos und mehr Ruhe in den Städten, weitere technische Kontrolle von Schwangerschaft und Geburt und mehr Selbstbestimmung von Frauen, mehr Geld und mehr Waren und mehr Leben.

Da die Industriegesllschaft aber auf grundlegenden Spaltungen, auf unvereinbaren Gegensätzen zwischen Mensch und Natur, Mann und Frau, Stadt und Land, Metropolen und Kolonien, Arbeit und Leben, Natur und Kultur beruht – Ivan Illich nennt sie Apartheid, ich nenne sie Kolonisierungen -, kann das Abgespaltene, real Zerstörte, in den Untergrund Verdrängte und gleichzeitig Ersehnte immer nur in verklärter, romantischer, simulierter Form auf den nach wie vor bestehenden Boden der modernen Industriegesellschaft draufgesetzt werden – ”wie die Sahne auf den Kuchen”.4

Gewalt

Was bei der Diskussion über diese der modernen Industriegesellschaft innewohnende Zwiespältigkeit verschwiegen wird, ist die direkte und strukturelle Gewalt, die ihre Entwicklung von den Anfängen bis heute begleitet. Diese Gewalt ist der wesentliche Mechanismus, durch den die Natur, die Frauen, die Kolonien zu dem verwertbaren ”Anderen” gemacht wurden. Da diese Gewalt kein Thema der öffentlichen Diskussion ist, kann auch nicht erklärt werden, warum die Suche nach dem ”Anderen in der Vernunft”5, die romantische Sehnsucht nach der ursprünglichen Natur, nach Leben, mit den Mitteln der modernen Industriegesellschaft nur zu immer weiterer Zerstörung führen muß. Die Touristen, die an die Sonnenstrände des Südens fliehen, zerstören diese Strände durch ihren Tourismus, die AutofahrerInnen, die aus den Städten in die Natur fliehen, zerstören durch ihre Autoabgase die Wälder, in denen sie Erholung suchen, die Sextouristen, die nach Thailand fliegen, zerstören die Frauen, bei denen sie sich erholen wollen. Vor der Sehnsucht kommt die Zerstörung, vor der Verklärung kommt die Gewalt.

Maria Mies

1 Siehe Teil 1-3, DER RABE RALF Mai-Juli 96 (wird gegen Porto zugesandt)

2 Karl-Heinz Kohl: Entzauberter Blick – Das Bild vom guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Medusa Verlag, Berlin 1981

3 Ausstellungskatalog: 1789-1989 – Zweihundert Jahre Französische Revolution, Berlin 1989

4 Saral Sarkar: Die Bewegung und ihre Strategie, in: Kommune 5/87;
Klaus Eder: Die Vergesellschaftung der Natur – Studien zur sozialen Evolution der praktischen Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt 1989;
Carolyn Merchant: The Death of Nature – Women, Ecology and the Scientific Revolution, Harper & Row, San Francisco 1987

5 Hartmut u. Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft – Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Suhrkamp, Frankfurt 1985

Der Text ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung des Aufsatzes „Sie sehnen sich nach dem, was sie zerstört haben“, zuerst erschienen in „Ökofeminismus – Beiträge zur Praxis und Theorie“. Wir danken dem Rotpunktverlag Zürich für die freundliche Genehmigung.


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