Aus DER RABE RALF Dezember 2018/Januar 2019, Seite 18
Meine persönliche „Autofrei-Geschichte“ (2)
Das wären sie jetzt mal gewesen, die ersten 25 Jahre als sechsköpfige Familie ohne Auto aufm Dorfe. Fünf Busse am Tag zur Stadt und zurück. Die Wochenendbusse wurden irgendwann eingestellt, als sich rausstellte, dass nur noch Huhns mitfahren. Kann man aber auch verstehen, dass keiner einen fast leeren 30-Liter-auf-hundert-Kilometer-Bus durch die Kante fahren lässt, bloß damit die Ökos vom Fleck kommen.
Als mildernde Umstände kommen in Betracht: Kindergarten und Grundschule am Ort, weiterführende Schulen mit ein bisschen Gezirkel per ÖPNV zu erreichen. Sport, Musikschule und andere pädagogisch ambitionierte Zusatzmaßnahmen gehen nur sehr eingeschränkt. Biokiste und Getreide wird geliefert, wenn auch nicht mit dem Pferdefuhrwerk, und der nächste Laden ist nur fünf Kilometer entfernt. Und uns Sportphobikern geschehen die drei- bis viertausend Fahrradkilometer im Jahr nur recht. Bewegung soll ja angeblich gesund sein.
Nur nicht missionieren!
Mildernder Umstand Nummer zwei ist der Lieferwagen, den der Papa acht- bis zwölfmal im Jahr mietet, um seine Dämmmaschine auf die Baustelle zu fahren. Mildernde andere Umstände auch hier: Als die Wehen unser viertes Kind einläuten, fährt gerade einer der wenigen Busse am Tag. Die Mama steht, halb schmerzlindernd, halb entbindend auf eine Art mit durchgebogenem Kreuz und vorgestrecktem Gesäß an einer der Haltestangen, wie man sie eigentlich nur aus fortgeschrittenen Nachtclubs kennt. Der Fahrer, in panischer Angst, unserem kommenden Sohn eine lebenslange Freifahrt auf dieser Buslinie zu schulden, erreicht die Endhaltestelle deutlich früher als sonst. Mama kommt noch rechtzeitig in den Kreißsaal und der Sohn gesund zur Welt. Keine Angst vor Fanatismus: Wir wissen auch, wie Taxi funktioniert. Hier regelt der Preis die Häufigkeit.
Was von uns als Gegenmodell, als Herausforderung des gesellschaftlichen Mainstreams gedacht ist, wird gern belächelt oder wohlwollend ignoriert. Wehe aber uns, wenn wir über die gelebte Praxis hinaus irgendwie ökomissionarisch werden oder das Autofahren über Gebühr in Frage stellen: Die soziale Kaltstellung winkt den Nestbeschützern. Auf die Nutzung des Automobils können sich die meisten Weltanschauungen der angeschauten Welt einigen. Die Vorteile muss man niemandem erläutern. Das scheint der ganz große Konsens zu sein.
Mutterliebe sticht Ideologie
Die Jahre vergehen, bis uns langsam der erste Gong scheppert: Wider Erwarten breitet sich in unserem Umfeld die Autofreiheit nicht epidemisch aus.
Gong Nummer zwei: Drei unserer vier Kinder haben, obwohl autolos, von uns offenbar nicht das Gefühl geerbt, dass man Flugreisen unterlassen oder auf ein sehr notwendiges Minimum beschränken sollte. Sollten wir etwa nie erwähnt haben, dass Autofahren und Fliegen zusammen rund die Hälfte der Kohlendioxid-Emissionen des deutschen Durchschnittshaushaltes ausmachen? Die Küken sind flügge(!) geworden und wir konstatieren das mit leichtem Schlucken und in stiller Dankbarkeit für die pädagogische Schützenhilfe des großen Khalil Gibran: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder …“ Mutterliebe sticht Ideologie.
Der dritte Gong: Unser 16-jähriger Nesthaken, der beinahe im Bus Geborene, fängt sich eine Leukämie ein. Absehbar ein Jahr Klinik mit Unterbrechungen. Da steht einiges Kopf. Für Automeider schon eine logistische Herausforderung. Als uns Freunde ihren Zweitwagen für die busfreien Weihnachtsferien anbieten, nehmen wir dankend an. Später basteln wir einen Online-Kalender, in den Unterstützer ihre Mitnahmeangebote eintragen, wenn sie ohnehin die Strecke von der Klinik in unser Dorf fahren. Das hat sich sehr bewährt. Vielleicht wird daraus ein allgemeiner Nachbarschafts-Mitfahrclub, der das karge Mobilitätsangebot für Fahrunmündige und Senioren etwas aufpeppt und die Fahrtkosten der Pendler dämpft.
Praktisch, aber unpassend
Jetzt sind wir im Kurzurlaub unseres Sohnes hundert Kilometer in den Wald gefahren, mit dem Auto der Freunde. Den ÖPNV soll unser abwehrgeschwächter Sohn meiden. An der Tanke überschlage ich kurz: Mit dem Kauf von 20 Litern Super erwerbe ich eine Energiemenge, für die ein körperlich Arbeitender ein ganzes Jahr schuften müsste. Wenn wir hier mit dem Wagen fünf Kilometer zum Einkaufen und zurück fahren, küsst mich meine Auto-entwöhnte Frau, als hätten wir gerade die Rallye Paris–Dakar überlebt und den dritten Platz gemacht. Bei den Fahrstunden im Wald, die ich Sohn und Tochter bei dieser Gelegenheit gebe, fühle ich mich für einen Moment wie ein gereifter Mönch, der mit seinen Novizen mal einen Betriebsausflug in ein Bordell macht, um ihnen plastisch zu vermitteln, worauf sie da so verzichten wollen.
Hat das Automobil nach der Krankheit unseres Sohnes nun doch eine Chance bei uns Altersmilden? Ich denke nein. Es ist zwar extrem praktisch, macht sogar Spaß, fühlt sich aber einfach nicht passend an in der Welt, wie sie ist. Und wenn wir mal alt und klapprig werden? Dann sollten wir die Welt erst recht mit unseren Fahrkünsten verschonen, oder?
Nikolaus Huhn
Lesen Sie hier Teil 1 und Teil 3.
Besser leben ohne Auto
Ratgeber für ein autofreies Leben
Eine autofreie Familie löst selbst in Berlin immer noch Kopfschütteln und ungläubiges Staunen aus. Zu groß scheinen die Hürden, die man ohne eigenes Auto überwinden muss: Einkäufe, Möbeltransport, Regenwetter oder Schienenersatzverkehr. Dennoch sind autofreie Menschen keine Exoten. Denn ein Viertel aller bundesdeutschen Haushalte, in den Großstädten wie Berlin sogar mehr als 40 Prozent, besitzt kein Auto.
Der Ratgeber „Besser leben ohne Auto“ geht auf die häufigsten Fragen zum Leben ohne Auto ein, verrät einige Geheimtipps und macht Mut, sich vom eigenen Auto zu trennen. Die Autorinnen und Autoren vertreten deutlich die Auffassung, dass ein Leben ohne Auto nicht nur befreiend wirkt, sondern auch glücklich macht.
In dem Buch stellen sich auch einige autofreie Menschen vor und berichten von Widrigkeiten und Freuden, Tricks und Strategien ihres autofreien Alltags. Hier wird mit dem weit verbreiteten Vorurteil aufgeräumt, Autofreiheit sei bestenfalls etwas für leicht verschrobene Junggesellen mit Neigung zu exzessivem Radsport.
Für den Raben Ralf haben wir drei Erfahrungsberichte aus Berlin, dem Ruhrgebiet und einem thüringischen Dorf ausgewählt, die nicht oder nur in Auszügen im Buch Platz fanden, aber dennoch wert sind, hier als kleine Serie veröffentlicht zu werden. Den Herausgebern danken wir für die freundliche Genehmigung.
Erfahren Sie etwas über Menschen, die dem scheinbaren gesellschaftlichen Zwang zur Auto-Mobilität ganz entspannt entgegentreten – zu Fuß oder per Pedal – und ein Leben jenseits des Autos entdecken. Vielleicht gehören sie ja zur Avantgarde unserer Zivilisation. Aber eigentlich sind es ganz normale Leute.
Mit den Tipps aus „Besser leben ohne Auto“ könnten auch Sie bald zu den Autofreien gehören.
Die Redaktion
Autofrei leben! e.V. (Hrsg.):
Besser leben ohne Auto
Oekom Verlag, München 2018
128 Seiten, 14 Euro
ISBN 978-3-96238-017-5
www.autofrei.de